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23.

Selber ein Liebhaber von Wanderungen, machte Anton Körber den Knaben, solange die Jahreszeit noch günstig war, die nächste Zeit über auf ausgedehnteren Wanderungen in der Umgebung der Stadt mit der Entfaltung der organischen Wesensreihen vertraut.

Mit Freude und innerlicher Erleichterung gewahrte er dabei die Zuneigung, die Tom ihm entgegenbrachte, und die hingegebene Aufmerksamkeit, mit der er auf den Gegenstand einging.

In seinem marineblauen, von oben bis unten zugeknöpften Anzug, den niedrigen Strohhut mit der schmalen, steifen Krempe eher nach vorn als nach hinten auf den Wirbel gerückt, wanderte der Knabe, mit dem Ausdruck aufmerkender Versunkenheit vor sich hin blickend, die Hände in den Jackettaschen, neben Anton her.

»Dies bis zum Schicken Korrekte in seiner Kleidung und äußeren Haltung«, dachte Anton zuweilen. »Sollten seine angeborenen Anlagen wirklich je zu einer bedeutenderen Entfaltung gelangen, so wird er sie ja wohl sicherlich nicht versaloppen und verstrudeln. Ganz gewiß wird er aber niemals ein Poseur, ein Mätzchenmacher, ein in sich selbst verliebter Narziß sein. Gottlob, es steckt Körbersche Solidheit in ihm.«

An seinen gelegentlichen Zwischenäußerungen aber konnte Anton wieder einmal sein spielend leichtes, richtiger war wohl aber zu sagen: das mit erstaunlicher Unmittelbarkeit dem Wesentlichsten des Gegenstandes angepaßte Verständnis des Knaben feststellen.

Er selbst aber trug den Gegenstand nicht bloß so mit » in usum Delphini« zurechtgestutzt dozierender Weise vor, etwa auch mit jener Art von rationalistischem »Freisinn« des heutigen sogenannten »Monismus«, sondern belebte ihn mit einer eigensten Empfindung und Religiosität. Er durfte aber wahrnehmen, wie der Knabe gerade dieser Auffassung mit einer innig verwandten Anlage entgegenkam.

Anton Körber dachte an jene Äußerung, die Tom damals beim Wiesengraben getan, und es bedeutete ihm eine so schöne Freude, zu gewahren, wie jener dunkle Dämon, der die Seele des Knaben und seine fein bewegliche, zugleich mit so intensivem Erraffen allem Leben zugewandte Sensibilität mit seinen vom Ekel Dumpftrüben aufgepeitschten wilden, reißenden Lebensängsten verwirren wollte, sich aus der besten Rasse des Knaben heraus stillte und einfügte in die heilig sichere Gelassenheit der großen Zusammenhänge, die ihm hier erschlossen und in die Seele gesenkt wurden.

»Einfügte«, sagte sich Anton Körber nicht ohne eine ernste Nachdenklichkeit. »Denn wie sollte die Wirkung jener trüben Wende, die in diese so ungewöhnlich angelegte Seele einmal hineingefallen war, jemals ungeschehen gemacht werden können? Wie denn wäre dem bösen, dunklen Dämon überhaupt auszuweichen? Er trifft uns alle, direkt oder indirekt. Wen verschonte er? Aber er will wohl seine Erlösung, seinen Ausgleich.«

So aber fügte er sich ein und stillte seine wirren, trüben Ängste:

Das überbegriffliche Eine wurde allweite Ausweitung von Raum und begann von Punkt und Mitte aus zu kreisen. Urstarre Weite und Ausdehnung aber solcherweise in Erschütterung gesetzt, hub an zu erwimmeln und wurde milliardenfältig kraftbewegter Urstoff. In runden Schichten auch wird Stoff um aller Ausdehnung Mittelpunkt herum zusammengezogen zu einem großen, sich um sich selbst drehenden Ball. Je mehr dieser sich aber verdichtet, um so mehr härtet sich seine Oberfläche und wird zu einer dichten, dem feurigen Inneren des Balles aufliegenden Kruste. Auf dieser Kruste vollzieht sich vorschreitend eine feinste Ausbildung der Grundstoffe. Es scheidet sich festes Land vom Wasser, und ein Urmeer bildet sich. Die Urstufe des organischen Lebens, der Urschleim, aus dem wunderbarlich die vielen, unter sich verschiedenen Wesensreihen des organischen Lebens sich hervorbilden. Empor bis zum geistig bewußtheitlichen Menschen.

Anfangs all dies Leben noch unter- oder nur erst dumpf und dunkel bewußt und weiß noch nichts vom Leid. Klarer erwacht es zu seiner Bewußtheitlichkeit, bis die des Menschen erreicht ist.

Auch die Tiere, und selbst die höheren, wissen noch nichts vom Leid. Das weiß und erfährt erst der Mensch und das höchste, intellektuelle Bewußtsein. Doch steht es so, daß selbst er es erst von einem noch jungen Zeitpunkt ab weiß. Und es kann nicht anders sein, als daß dies Wissen und Leidempfinden zu einer äußersten Höhe gelangt, um dann an seiner äußersten Klarheit sich selbst aufzuheben und wieder in selige Leidunbewußtheit überzugehen.

Doch wie äußerstes Leid ward dem Menschen auch höchstes geistiges Allumfassen beschieden und höchstes Heldentum um den Preis des Leides.

Aber dies alles ist ohne Eines nicht zu verstehen, ist ohne dies Eine dumm und tot, ohne Sicherheit und Gewißheit seiner selbst. Noch hat es nicht gesagt, wer es ist, der sich entfaltet.

Aber aus der Urmitte löste sich das Eine aus sich selbst als ein feinster Keim mit einer diesem angeschlossenen, heilig bestimmten Anzahl von Keimen. Zuerst unstofflich reinster Zustand bipolar in sich gesammelter Kraft und Wesenheit, wird dieser Keim von der kreisenden Bewegung der Urmitte aus deren Bereich ausgestoßen in eine nächste Schicht des großen, in seiner Ausgestaltung stehenden Allmittelkörpers, bringt sie, sie ausgestaltend, in eine Unruhe, wird hier mit seiner ihm angeschlossenen Auslese, mächtig angewachsen, zu einer ersten, besonderen Stofflichkeit, um alsdann abermals auch aus diesem Bereich ausgestoßen zu werden und in eine höhere Schicht einzudringen. Wieder formt er auch diese bis zu einer äußersten Grenze ihrer Möglichkeiten aus, sich unter solcher Ausformung abermals selber um- und weiter auszugestalten und alsdann, immer mächtiger anwachsend, in eine noch höhere Schicht ausgestoßen zu werden. In ihr vollbringt er das Gleiche und verläßt sie, gleicherweise, abermals in eine höhere hinein.

Keim und sein Auslesebestand, Sinn und erwachendes Bewußtsein, empordringendes göttliches Leben, gelangt endlich in die oberste Schicht des Allmittelkörpers und beginnt deren Ausformung zu vollziehen. Durch eine Stufenfolge anorganisch-grundstofflicher Umgestaltungen schreitet er beständig vor, immer neuen Bereich zur äußersten Möglichkeit der ihm einbeschlossenen Entfaltung gebracht und in ihr abgeschlossen, einen neuen auswirkend. Bis er jene Grenze erreicht hat, wo er eine äußerste anorganisch-vororganische Möglichkeit über sie hinaus ins Organische überwandelt. Und nun ist Er mit seinem Auslesebestand an einer bestimmten Stelle im Urmeer (aus dem wahrlich hervor sich das Leben geboren hat) ein erstes Wesen und ein allererster kleiner Anfang von Urschleim und aller in sich beschlossenen und möglichen Entfaltung organischer Existenz. Wiederum schreitet Er mit seinem Auslesebestand, beständig sich weiter auswandelnd, vorwärts durch die verschiedenen gestaltlichen Möglichkeiten des Protoplasmabereiches, jedesmal einen Unterbereich, nachdem dieser seine äußerste gestaltliche Entfaltungsmöglichkeit erreicht hat, in sich abgeschlossen hinter sich zurücklassend. Bis Er mit seinem Auslesebestand die Urwurmform erreicht hat und mit ihr erste Sinneswerkzeuge und ein erstes Rückgrat, an welchem Er sich aufzurichten beginnt, um dann immer vorschreitend zum hohen bewußtheitlichen Gefühl und Erfassen seiner selbst und Allumfanges vorzudringen.

Und so lief alles auf Ihn, den aus der überbegrifflichen Tiefe der göttlichen Ureinheit Kommenden, und die Seinen hinaus. Auf Ihn, der, allen Lebens Leben, alles Sinnes Sinn, aller Inbegriff und alle Seele, sein eigener und aller Wesen Hort, nach wie vor und ewig, und der Trost aller Religion und christlicher. Vom Kreuz leuchtete sein Trost und seine ewige Zuversicht über die dunkelbrausende Welt; Wahrheit, Weg, Licht zu höchstem Ziel und, schon verheißener und verbürgter, Vollendung. Hohn seiner Feinde hatte ihn damals aufgefordert, herabzusteigen vom Kreuz, wenn Er Gottes Sohn wäre: doch ihre Blindheit hatte nicht erkannt, wie er mehr und mehr, näher und immer näher und offenbarer den Verlauf dieser letzten zwei Jahrtausende her herabgestiegen ist vom Holz der Schmach und des Sieges erhabenster Überwindung, seiner Wiederkunft nahend in der Kraft und Herrlichkeit einer neuen, übermenschlich entrückten Person. Und mit ihm haben sich gleicherweise erhoben die Seinen aus den tausend und abertausend Qualen ihrer voreinstigen Martyrien, um wiederzukommen, teilhaftig mit Ihm eines neuen verklärten und übermenschlich entrückten Leibes, um mit Ihm einst am Tage der letzten Klarheit und Erfüllung einzugehen in das Reich des Himmels und der letzten Vollendung und es mit Ihm zu leben.

Solcherweise führte Anton Körber, in einer dessen Auffassungsvermögen angemessenen Weise den Knaben bei diesen Wanderungen in den näheren Gegenstand der Biologie und der großen allgemeinen Weltentfaltung ein; und solcherweise beschwichtigte er den Dämon dunkler, unheilvoller Verwirrung und Zwiespältigkeit, der seinen Schatten über Toms Seele zu breiten angefangen hatte, ließ er ihn eingehen in die Klarheit und Kraft ewiger Religion.


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