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21.

Bald nach seinem zwölften Geburtstag gewann Tom bei besonderer Gelegenheit einen noch näheren Anschluß an Onkel Anton.

Onkel Anton war von einer zweijährigen Weltreise zurückgekehrt, die von jeher seines Lebens Lieblingswunsch gewesen, und die er seit Jahren mit Umsicht vorbereitet hatte. Halb und halb waren auch seine naturwissenschaftlichen Neigungen mit im Spiel gewesen.

Von Hamburg aus war er nach Nordamerika gefahren, hatte dort die großen Städte kennengelernt und die Union dann nach verschiedenen Richtungen hin bereist, hier und da zu Studienzwecken auch längeren Aufenthalt genommen. Gleicherweise hatte er dann auch Südamerika bereist. Dann war er nach Asien, Japan, China, Insulindien und Indien gefahren, hatte sich danach in Kleinasien und Nordafrika umgesehen, um schließlich über Griechenland, den Balkan, Österreich wieder heimzukehren.

»Laß doch sehen, was inzwischen aus unserem Tom geworden ist!« hatte er gerufen, als er zum erstenmal bei der Mutter wieder mit Tom zusammengetroffen war. Und er hatte ihn bei den Schultern genommen und zu sich herangezogen.

Nun, Tom war ein für sein Alter recht großer Junge geworden. Detlev und Karl, wenn auch stämmiger als er, waren im Wachstum hinter ihm zurückgeblieben. Schlank war er und gut gewachsen, dabei kräftig und gewandt, nicht bloß so in die Höhe geschossen. Seine grauen Augen zeigten einen offenen, treuherzigen Blick, der aber ein wenig von unten herauf kam, was vielleicht auf Hintergründe schließen ließ, aber doch einen Ausdruck von klug in sich hineinnehmender Aufmerksamkeit und zugleich angenehmer Bescheidenheit gab. Seine Stirn war nicht besonders hoch, aber breit und schön gewölbt, von schwarzem Kraushaar umrahmt, seine Schläfen deuteten auf musikalischen Sinn. Die Nasenwurzel war kräftig, die Nase nicht ganz so lang, wie's Harbingsche Eigenschaft war. Das Gesicht zeigte ein gutes Oval und eine anmutige, doch feste Kinnpartie. Sein Mund hatte frische Lippen und einen klugen, etwas weichen, noch kindlichen Ernst. Zwischen den Brauen aber war's wie die Neigung zu einem Fältchen in die Stirn hinein.

Nur nicht ganz so frischrote Backen hatte er mehr, wenn seine Gesichtsfarbe sonst auch nichts zu wünschen übrig ließ. Auch war Onkel Anton mit dem Druck seiner kleinen, doch festen und breiten Hand zufrieden. Sie hatte gut geformte, nicht zu lange und nicht zu kurze Finger mit angenehm gerundeten aber nicht zu breiten Kuppen, die nach innen kleine Buckelchen besaßen. Wie Onkel Anton sagte, deuteten diese Buckelchen auf Gutmütigkeit, Phantasie und Schönheitssinn.

Tom seinerseits war von Onkel Antons Anblick ein wenig benommen gewesen. Seine hellen, lichtblauen Augen blickten aus einem fremdländisch gebräunten Gesicht hervor. Auch hatte er solch einen exotischen Strohhut mitgebracht, den auch hier in der Heimat zu tragen, gemäß seines eigenständigen, nichts weniger als philiströsen und nach Körberscher Art eher etwas originellen Wesens, er sich nicht scheute.

»Und bist du inzwischen tüchtig vorangekommen?« fragte Onkel Anton.

»Oh, das ist er ja«, ergriff Großmama, die in ihrer besten Stimmung war, das Wort. »Er will ja nun zu Ostern nach der Tertia versetzt werden. Und ich denke, das wird er. Nicht, Tom? Und so schöne Bilder hat er gemalt. Er porträtiert uns sogar. Auch in der Musik hat er gute Fortschritte gemacht, phantasiert sogar manchmal auf dem Klavier. Auch parliert er mit Großmama recht hübsch geläufig Französisch. Aber auch beim Turnen steht er nicht zurück.«

»Hm! So vielseitig?«

Onkel Anton gab Tom frei, der sich abseits niederließ und mit Aufmerksamkeit verfolgte, was Onkel Anton Großmama erzählte.

»Ja, es wäre nichts für dich, das Land der Dollarjagd und der Wolkenkratzer, Mutter«, begann er.

»Ich glaube auch«, lachte Großmama herzlich.

Tom merkte, wie groß ihre Freude war, nach so langer Abwesenheit, die vielleicht sogar nicht ohne Gefahren für ihn gewesen war, ihren Lieblingssohn wieder bei sich zu sehen.

»Ich für mein Teil möchte meinetwegen auch nicht gerade für die Dauer in einer Stadt wie Newyork leben und da alles mitmachen. Dazu fühl' ich mich zu unverwüstlich und unabänderlich als Deutscher und – dein Sohn. – Aber ich muß doch sagen, daß ich gerade in Newyork sehr viel und sehr Wichtiges zugelernt habe über die Union. Es liegt doch eine ganz enorme Großzügigkeit und, mein' ich, vor allem Bedeutung in diesem amerikanischen Leben und Getriebe. Und gerade in seinen bei uns so verachteten Schattenseiten. Man muß das alles mal selber sehen, mitgelebt haben, muß sich mal so ein Vierteljahr gründlich in einer Stadt wie Newyork umgetan haben, um das zu verstehen. – Man sagt ja: die Union habe keine Kultur. Aber wie soll ein Volk, das kaum hundert Jahre alt ist, schon eine Kultur haben? Es fragt sich also nur, ob es eine bekommen wird. Aber wie haben die europäischen Völker seit der Antike angefangen, und wie hat das junge, kaum hundertjährige Amerika angefangen?

Man kann, muß vielleicht sogar Art, Stand, Grenze einer Kultur nach ihrer Zivilisation, dem Maßstab ihrer erreichten technischen Ausbildung beurteilen. Aber wenn man das tut, dann besteht der so außerordentlich auffallende Umstand, daß die Union ja gerade da angefangen hat, wo Europa aufhörte, und daß sie den äußersten erreichten technischen Fortschritt Europas gleich zu einem so überwältigenden, gar nicht mehr zu überbietenden Ausbau gebracht hat. Zu einem Ausbau, von dem wir ja überhaupt erst noch wieder profitiert haben, so daß man sagen kann: Europa vollendet sich jetzt erst von der Union her selbst.

Das ist beispiellos, seinem rapiden Tempo nach und auch sonst in jeder Hinsicht. Und es hat etwas ganz Besonderes zu bedeuten! – Es hat seinen tiefen Sinn, daß Europa dort drüben, in der ›Neuen Welt‹, mit einem bestimmten Auszug seiner Nationen und Rassen diesen Ausbau bewirkt hat. Und daß zu den europäischen Rassen auch noch Chinesen und Japaner sich gesellten, und, mit einem bestimmten Auszug wieder, die afrikanischen Negerrassen, die, wenn man so will, den noch vorhandenen ältesten Menschheitsbestand repräsentieren. So daß man sagen kann: Es ist in der Union« – er legte auf das Wort einen besonderen Nachdruck – »ein Auszug der ganzen Menschheit zusammengekommen, um dies seltsame neuweltliche Staatengebilde zustandezubringen. Wirklich um jetzt noch einmal das zu erreichen, was man eine ganz neue, noch niemals dagewesene, ›geistige Kultur‹ nennt? Ich glaube das nicht, es scheint mir ganz ausgeschlossen. Mit einem solchen Ausbau fängt keine neue Kultur an, mit ihm endet sie, endet jetzt alle Kultur, um in etwas ganz anderes, noch niemals Dagewesenes, überzugehen, von dem wir uns heute überhaupt noch gar keine Vorstellung machen können.

Ja, man muß mal so ein Vierteljahr lang in Newyork gelebt haben, um zu dieser Einsicht zu kommen. Eine derartige technische Hochzivilisation kann keine neue eigenständige Hochkultur, kann keine neue Wissenschaft, Kunst, Dichtung, Religion mehr aufkommen, sie kann nur noch alle bisherige Kultur sich bis aufs Letzte aufbrauchen lassen. – Man muß dies erbarmungslose, jede Fiber in Anspruch nehmende Getriebe am eigenen Leibe erlebt haben, um die sogenannte amerikanische ›Barbarei‹ zu begreifen, ihrem tieferen Sinne nach zu erfassen. Wo sollte hier noch die Sammlung möglich sein, aus der je und je die geistigen Hochkulturen Europas erwuchsen? Weder in der amerikanischen Stadt, noch auf dem Lande. Es fehlt da jede Möglichkeit und jeder Ansatz. Und es fehlt vor allem ja die Resonanz, fehlt das notwendige Volk für eine solche Kultur.

Nein, es steht mir fest: dieser unerhört nervenfressende, oder vielmehr: auf das unerhörteste und fundamentalste das Nervensystem umkrempelnde Kommerz kann da drüben nur noch auf eine organische Umbildung, Neubildung, auf eine aus allen Völkern und Rassen der Erde entstehende Einheitsrasse hinaus sein, von deren Typus wir uns noch keine Vorstellung machen können, weil all unsere bis daher erworbenen Begriffe keinen Maßstab mehr für sie geben können. Nur das kann einzig noch die künftige große Kulturtat, das treibende Kulturziel der Union sein. Die Tat, das Ziel einer Kultur nicht mehr im geistig intellektuellen Sinne, sondern im biologischen.

Nichts halte ich für selbstverständlicher, als daß die Technik der Union vielleicht schon im Laufe des nächsten Jahrhunderts ihre wesentlichste Möglichkeit erreicht haben wird, und daß damit die äußerste Möglichkeit aller menschheitlichen Technik erreicht sein wird. Der Ausbau wird dann aber wohl nicht nur die Natur Amerikas, wird das Aussehen des Erdballs umgestalten, um damit für die neue Rasse, den biologischen Überstieg eine ganz neue Umgebung zu schaffen. Dann aber wird es mit aller Zivilisation und aller bisherigen Geisteskultur zu Ende sein, sie werden das ihrige geleistet haben, werden entbehrlich geworden sein.«

Tom hatte das meiste von dem, was Onkel Anton gesprochen, nicht verstanden: aber nicht nur die bedeutungsvoll nachdenkliche, manchmal fast seherische Art, wie er das alles vorgetragen hatte, das Feuer seiner blauen Augen in dem fremdartig gebräunten Gesicht hatten auf ihn einen unauslöschlichen Eindruck gemacht, sondern er hatte auch begriffen, daß sich mit Amerika und den Menschen, die dort lebten, und die, wie er schon selber wußte, sich aus allen Völkern und Rassen der Erde zusammensetzten, in irgendeiner Zukunft etwas Neues und noch nicht Dagewesenes ereignen würde.

Onkel Anton hatte das Gespräch nachher auf seine unterhaltsameren, mehr anekdotischen Reiseabenteuer gebracht, aber das hatte Tom nur um so begieriger gemacht, ihn recht bald in seinem großen, alten Haus am Markt aufzusuchen, ihn nach all diesen neuen Dingen zu fragen und all die sonderbaren Sachen zu sehen, die er in was alles für Koffern, Kisten, Säcken, Körben und Tierhäuten teils mitgebracht, teils schon von unterwegs nach Hause geschickt hatte.

Das Haus war eine der Sehenswürdigkeiten der Stadt. Es stammte aus dem 16. Jahrhundert und hatte bis zu dem mächtigen Giebel hinauf außer dem Parterre drei Stockwerke zu je acht, nach damaliger Bauart ziemlich weit auseinanderstehenden Fenstern Front. Außerdem hatte der Giebel oben noch vier Stockwerke. Zu ebener Erde befand sich rechts von der portalähnlichen Haustür ein großer Laden mit einem geräumigen, den Forderungen der Neuzeit entsprechenden Schaufenster, in welchem sich das Detailgeschäft befand. Über der Haustür aber war, dick von altertümlichen Ornamenten umrahmt, ein steinernes Medaillon angebracht, das in einer ringförmig zusammengebogenen Schlange einen nackten Knaben zeigte. Einige Zeit vor Toms Geburt hatte Onkel Anton das ganze Haus frisch mit Ölfarbe streichen lassen, und bei dieser Gelegenheit war auch dieses alte Wahrzeichen des Hauses aufgefrischt worden. Die Schlange hatte einen Anstrich von dunkelgrüner Ölfarbe bekommen, den Knaben hatte Onkel Anton vergolden lassen, der Grund in der zusammengebogenen Schlange und hinter dem Knaben aber hatte eine himmelblaue Farbe bekommen, während die Sterne auf dem Grunde gleichfalls vergoldet worden waren.

Tom liebte den großen Laden mit seinen Drogen, Gewürzen, Produkten, Ölen, Früchten, und das chemische Laboratorium, das Onkel für seinen wissenschaftlichen Privatbedarf in einem Nebenraum eingerichtet hatte. Und er liebte die mehrere Stockwerke hohen Speicher für den Engroshandel hinten auf dem alten Hofe, der zur Hälfte asphaltiert war, während er zur anderen noch ein altmodisch holpriges Steinpflaster hatte, zwischen dem Moos und Gras wuchs. Es herrschte hier ein Ruch von den Lagerräumen und nach Gewürzen, den Tom gern mochte. Und er liebte das ganze große, altertümliche Haus mit seinen breitstufigen, bequemen Wendeltreppen und seinen altfränkisch geräumigen, hohen, kühlen, dämmerigen Haus- und Treppenfluren.

Jetzt aber, wo Onkel Anton wieder von seiner Weltreise zurück war, kam er doppelt gern. Nicht nur, weil ihn die vielen seltenen Dinge anzogen, sondern es war auch die Art, wie Onkel Anton sich mit ihm beschäftigte.

Anton Körber war unverheiratet und gedachte es zu bleiben. Er ging in seinen wissenschaftlichen Privatstudien auf, die er schon seit seinen Jünglingsjahren trieb. Er war der Mann dazu, sich mit Tom zu beschäftigen, sich liebevoll in das Erkennen einer jungen, reich veranlagten Menschenseele zu versenken. Er hatte nach seiner Rückkehr mit seiner Mutter, aber auch mit seiner Schwägerin und Rosalie Rücksprache genommen, und war über die Krise, die dann in das Scharlachfieber ausgeartet war, jetzt durchaus beruhigt, wie er auch selber Gelegenheit gehabt hatte, sich über das gute Befinden des Knaben zu freuen. Außerdem hatte er aber so viel über Toms seitherige geistige Entwicklung gehört, daß er zu dem Entschluß gelangt war, ihn, um sein ferneres Fortschreiten zu beobachten und wohl auch zu leiten, so viel wie möglich und angängig in seiner Nähe zu haben. Und er hatte es gern, wenn der Knabe wohl auch unerwartet und außer Zeit zu ihm kam und ihm auf solche Weise seinen Eifer und seine Anhänglichkeit bekundete.


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