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25.

An einem Nachmittage Ende September nach vier Uhr befand er sich mit Klaus auf dem Weg zu Wolframs hinaus.

Sie schritten miteinander die Vorstadtstraßen hin an den Gittern, Staketen und Hecken der Vorgärten entlang, Klaus in seinem gewohnten behaglichen Bummelgang.

Innerlich war Tom, der es, um Sibylle zu sehen, eilig hatte, über dies Bummeltempo außer sich, und das diesem zur zweiten Natur gewordene Lächeln von Klaus verdroß ihn vollends. Doch wußte er, daß es keinen Zweck hatte, ihn aufzufordern schneller zu gehen. Schließlich wurde er dann selber ruhiger und gab sich nur seinen auf Sibylle gerichteten Gedanken hin.

Der Tag war ein verhangener, doch trocken grauer Herbsttag.

Tom liebte solche Tage. Und heute war ihm diese Witterung, die seinen Gedanken Vorschub leistete, ganz besonders angenehm. Außerdem war aber seit einer Stunde Nebel eingetreten, der in der Ferne schon ziemlich dicht und auch schon in der Nähe bemerkbar war und anfing, alles in seinen Schleier zu hüllen.

Doch verbarg er die Gegenstände nicht völlig. Aus den weißlichen Dünsten traten die lichtgelben, bräunlichen und rötlichen Massen der Büsche und Baumwipfel hervor, das satt karminrote Blattwerk des wilden Weines auf einer Hauswand oder auf einer Laube; Dahlien, Georginen, Astern, die zum Teil schon welk aussahen; eine Bretterlaube, die einen lebhaft weißlich-grünen Anstrich hatte.

»Fein lächl' ich einer dunkelroten Rose zu.«

Der Ausspruch, in einem deklamierenden Tonfall getan, hatte sich selbst parodiert, und Toms Stimme war nicht ganz sicher gewesen. Er war rot und in seinen Augen war ein blitzendes, etwas kälbriges Jungenslachen.

Klaus hatte ihm, doch nicht besonders eilig, seine Aufmerksamkeit zugewandt.

»Hübsch!« kritisierte er dann. »Wirklich hübsch! Übrigens war das ein Vers?«

Tom ließ ein etwas zu lautes Lachen hören und rief mit forcierter Verwunderung:

»Ach, sieh mal, wahrhaftig! Und es sollte gar keiner sein, ist von selber einer geworden.«

Doch er vermied Klausens Auge. Seine Aufmerksamkeit war noch immer an Klaus hin in einen der Gärten hineingerichtet, dem sie sich langsam näherten.

Als Klaus jetzt aber, neugierig geworden, der Richtung folgte, gewahrte er aus den immer dichter werdenden weißlichen Dünsten hervor eine einzige, verspätete, schöne, große dunkelrote Rose.

»Aha! – Ah, so!« sagte er mit bezug auf sie. »Sieht allerdings nicht übel aus. – Aber warum sagtest du ›fein‹? Warum lächelst du der Rose ›fein‹ zu?« erkundigte er sich dann in einer Anwandlung seines psychologischen Interesses. Von dem Verhältnis Toms zu Sibylle wußte er nichts, da Tom mit ihm darüber nicht sprach.

»Ach, wieso denn? – Nichts weiter! Ich weiß nicht! Nur so!« wich Tom aus. Hätte Klaus aber nicht noch nach der Rose hingeblickt, würde er bemerkt haben, daß Tom rot geworden war.

»Man schämt sich, wenn man Verse gemacht hat, und du auch, denn du weichst mir aus. – Wie kann man übrigens auch Verse machen. – Nee, aber sag' doch mal: wieso ›fein‹?«

»Ach, aber ich weiß doch nicht, laß doch!« wehrte Tom ab.

»Na, lassen wir das Rätsel also auf sich beruhen. – Kann übrigens sein: man weiß manchmal selber nicht, wie man auf so was kommt. – Vielleicht hat's der, allerdings aparte, Eindruck bloß so aus dir rausgeholt.«

Tom schwieg.

Auch Klaus verhielt sich jetzt still. Doch verriet sein etwas schurkisches Vorsichhinlächeln, daß er sich innerlich noch mit der Sache beschäftigte und Tom gern noch ein wenig mit ihr aufgezogen hätte.

Endlich bogen sie in die Straße ein, in der Wolframs Villa lag.

Verhalten spähte Tom aus, ob Sibylle vielleicht zufällig gerade im Garten wäre, oder ob er sie an einem der Fenster erblicken könnte. Einen Augenblick hatte er so starkes Herzklopfen, daß er in seiner Scham darüber fast davongelaufen wäre.

Aber nun waren sie angelangt, standen vor der eisernen Gittertür.

Klaus drückte auf die Klinke, die einen kurzen, scharfen Ton gab, die Tür ging auf, sie traten ein, und Klaus ließ sie mit einem Krach ins Schloß fallen.

Heimlich spähte Tom noch einmal nach allen Fenstern. Aber Sibylle war nicht zu sehen, nur für einen Augenblick Frau Wolfram, die ihnen zunickte und dann gleich wieder verschwand.

Sie durchschritten den Hausflur und betraten das in dessen Hintergrund gelegene Wohnzimmer.

Es war gemütlich warm und bot sich in einem stillen, gleichmäßigen Spätnachmittagslicht. Die Standuhr tackte, durch die beiden großen Fenster und die Scheiben der auf die Veranda hinausführenden Glastür sah man gegen den Hintergrund des weißen Nebels die friedlich von der Lattenüberdachung der Veranda herabhängenden roten Ranken des wilden Weines.

Sie fanden niemand vor. Doktor Wolfram war mit seinem kleinen Automobil auf Krankenbesuchen unterwegs, Klausens beide ältere Brüder waren in ihrem Zimmer im Oberstock mit ihren Schularbeiten beschäftigt, die beiden Schwestern aber, wie Klaus sich erinnerte, wohl in der Stadt auf Besuch oder um Einkäufe zu besorgen. Klaus sprach die Vermutung aus, daß Sibylle sich ihnen angeschlossen haben werde.

Während Tom auf diese Vermutung hin, die Mütze in der herabhängenden Hand, nun enttäuscht in der Mitte des Zimmers stehen blieb und zu den Weinranken hinsah, reckte Klaus, nachdem er seine ziemlich abgenutzte Schülermütze aufs Geratewohl irgendwohin geworfen hatte, aus Leibeskräften die Arme und gähnte. Dann aber schob er sich ins Zimmer hinein, sah mit behaglich träg gekniffenen Äugelchen hierhin und dorthin, um endlich an das Klavier heranzutreten, von dem er etwas herabnahm, womit er an den großen, mit einer buntgeblümten Wachstuchdecke überdeckten Tisch herantrat, der vor einem mächtigen, mit schwarzem Glanzleder bezogenen Familiensofa stand.

»Komm mal her«, lud er, ohne zu ihm hinzusehen, Tom ein.

Unlustig trat Tom hinzu.

»Sieh mal!«

Auf dem Tisch stand ein winziges, schneeweißes, ziemlich sauber präpariertes, auf einem schwarzen Brettchen befestigtes Tiergerippe.

»Was ist das?« fragte Tom. Im stillen dachte er: »Ob sie vielleicht doch zu Hause ist?« Er hatte ein sonderbar sicheres Gefühl, daß sie da wäre, daß er sie noch sehen werde.

»Ein Mausgerippe«, gab Klaus Bescheid, während er das Skelettchen jetzt dicht an seine etwas kurzsichtigen Augen hielt und es auf irgend etwas hin untersuchte. »Ich hab' es selber präpariert. Es fehlt kein Stückchen, es ist ganz vollständig. Erst vergräbt man die tote Maus in die Erde, und wenn sie da eine Zeitlang gelegen hat und alles Fleisch abgefault ist und die Ameisen und andere Feinschmecker – hehehe! – das Skelett sauber abgefressen haben, dann nimmt man's raus. – Hm! Na! Dann wird es noch mit so 'ner Chemikalie behandelt und jedes Knöchelchen ordentlich zurechtgerückt – muß man dabei aufpassen –, na, und dann macht man's auf so 'nem Brettchen fest, und die Sache ist fertig. – Hübsche Nippessache, nicht?«

Tom sagte nichts. Er sah das Ding, das ihm eigentlich ein wenig eklig war, nur so mechanisch an, innerlich beständig ins Haus hineinlauschend. Auch Klaus sagte jetzt nichts weiter. Er trug das Skelettchen wieder zum Klavier zurück, wo er's genau wieder an seine Stelle hinsetzte, dann bückte er sich zu dem Notenfach nieder und zog unten zwischen zwei schweren, dicken Partituren eine Mappe vor, mit der er, diesmal angelegentlicher, wieder zum Tische zurückkam.

Ohne weiter auf Tom zu achten, schob er sich mit der Mappe um die Tischecke herum aufs Sofa und ließ sich behaglich nieder, während er die Mappe vor sich hin auf den Tisch legte, um sie dann mit den schlanken Fingern seiner großen, weißen, fleischigen Hand sorgsam aufzuschlagen.

»Du, setz' dich doch! Schmeiß doch deine Mütze irgendwohin und setz' dich«, lud er ein, ohne seine Aufmerksamkeit aber von der Mappe abzuwenden. »Mutter wird uns gleich Kaffee und was zu essen bringen, sie hat uns ja kommen sehen.«

Er schmunzelte. Wohl im Gedanken an die in Aussicht stehende Vespermahlzeit.

Tom leistete Folge und setzte sich an den Tisch.

»Was besiehst du da?« erkundigte er sich, nur um etwas zu sagen. Ohne es zu wollen, stieß er einen Seufzer hervor.

»Nanu, was ist dir?«

Klaus sah ihn durch die Brille, die er inzwischen aufgesetzt hatte, an.

»Ach, nichts! Was soll mir denn sein?« wehrte Tom erschrocken ab, denn er dachte nicht anders, als daß Klaus ihm etwas anmerke. »Sag' doch, was besiehst du da?«

»Du! Die Blumen, die wir neulich von den Silberbergen geholt haben. – Sie sind famos geworden, tadellos.«

Sie hatten vor vierzehn Tagen eine dreistündige Wanderung nach einem bewaldeten Höhenzug unternommen, wo Blumen wuchsen, die sonst in der Gegend nur selten vorkamen.

»Ach so! – Ja, sie sind sehr schön geworden«, lobte Tom halbhin.

Eine Weile blieb ein Schweigen. Aber da wurden – Tom horchte sofort auf – draußen vom Garten her auf dem Estrich der Veranda leichte Schritte laut. Dann wurden sie näher, auf den Steinfliesen des Hausflures, vernehmbar. Und jetzt tat sich die Tür auf und es erschien in ihr, einen Strauß vor sich hinhaltend, der fast so groß war wie sie selbst, Sibylle.

Tom fuhr sofort, ihr zugewandt, von seinem Stuhl in die Höhe.

Sibylle blieb unentschlossen in der Türöffnung stehen.

Offenbar war sie im Begriff, weil sie die beiden sah, wieder umzukehren.

»Sibylle? Ach, du bist zu Hause? Ich dachte, du wärst mit Else und Martha in der Stadt!« rief Klaus, der, beide Ellbogen breit auf den Tisch gelegt, über seiner Mappe hockte, ohne seine Haltung zu verändern, gegen Sibylle hin, nur das Gesicht ein wenig aufgerichtet, das er bis dahin dicht auf der Mappe gehabt hatte. »Oh, was hast du denn da für einen wunderbaren Strauß? Komm doch mal her! Zeig' doch mal! – Nanu, warum willst du denn wieder fort? Du störst uns doch nicht etwa?«

Mit einem ungewissen, lächelnden Blick auf Tom, trat Sibylle an den Tisch heran.

Erst gab sie Klaus die Hand, der ihr zunächst saß, dann kam sie um den Tisch herum zu Tom hin und gab auch ihm die Hand, die Tom unter einer artigen Verbeugung nahm.

Dann ging Sibylle wieder zu Klaus hin und blieb bei ihm stehen, um ihm den Strauß zu zeigen.

Klaus krabbelte mit den Fingern zwischen den raschelnden großen, bunten Herbstblättern, den Georginen, Dahlien, Astern und den bis zum Schwärzlichen purpurdunklen Skabiosen mit ihren seinen, weißen Staubfädenköpfchen umher, konnte als Blumenfreund seine Freude nicht verhehlen und sagte:

»Er ist wirklich famos, Sibylle! – Aber warum wolltest du denn wieder gehen? Bleib' doch! Wir beißen dich doch nicht? Hehehe!«

Sibylle schickte einen Blick zu Tom herüber, zauderte noch ein Augenblickchen, sagte dann aber:

»Na ja! Hier auf dem Tisch kann ich den Strauß gerade gut ordnen. – Tu' doch, bitte, mal deine Mappe weg.«

Sie legte den Strauß mit beiden Armen auf den Tisch, daß nun ein mächtiger bunter Haufe von welken Blättern und Blumen dalag; dann ließ sie sich in Klausens Nähe auf einem Stuhl nieder.

»Kommt ihr aus der Turnstunde?« fragte sie, zu Klaus gewandt.

»Ja«, machte Klaus, der ihr aus dem »Mecklenburger Wappen« hervor behaglich schmunzelnd zuschaute. »Du! Sibylle! Rat' doch mal! Wer turnt besser: Tom oder ich?«

Was er bezweckte, erreichte er, Sibylle geriet in Verlegenheit.

»Ich weiß doch nicht? Wie kann ich denn das wissen?« sagte sie. Freilich wußte sie aber, daß Klaus nur ein mittelmäßiger Turner war, und verstand ganz gut: Er hatte beabsichtigt, sie solle Tom nennen.

Aber in diesem Augenblick tat sich die Tür auf und hereintrat Frau Doktor Wolframs kleine, holländisch schmucke, rotwangig freundliche Gestalt mit einem Präsentierbrett in den Händen, auf dem eine weiße Kaffeekanne, zwei Tassen standen und zwei mächtige Brotschnitten lagen. Sie waren rundum von einem großen Bauernroggenbrot abgeschnitten, nicht zu dünn überdies und dick mit schönem, rotem Apfelgelee bestrichen.

»Na, Jungs?« rief sie, während sie herzutrat. »Ich denke, ihr werdet aus eurer Turnstunde einen rechtschaffenen Appetit mitgebracht haben, wie? Oder ist Tom schon zu Hause gewesen?«

Tom, der sich erhoben hatte, verneinte. Er war rot geworden und starrte auf die Kaffeekanne nieder, besonders aber fühlte er sich durch die Geleestullen aus der Fassung gebracht.

»Nu', dann macht euch drüberher!« lachte Frau Doktor Wolfram.

Sie hatte das Brett, von dem Klaus, seit Mutter eingetreten war, zwischen seinem »Mecklenburger« keinen Blick verwandt hatte, auf den Tisch gesetzt und wandte sich nun, beide Arme nach Hausfrauenart unter dem Busen verschränkt, Tom zu, der in seiner Verwirrung noch dastand.

»Nu', Tom?« Sie hielt ihm ihre pralle, kleine Hand hin, die sich rauh anfühlte von der Küchenarbeit, bei der sie dem Mädchen gehörig mit half. Tom ergriff sie unter einer Verbeugung. »Sieh, was du für ein stattlicher Bursche wirst! Nächstens wirst du uns allen über den Kopf gewachsen sein. Bist ja jetzt schon fast größer als ich. – Na, greift zu! Laßt's euch schmecken! – Und was hat Sibylle für einen herrlichen Strauß gepflückt!«

Sie nickte Tom freundlich zu, streichelte ihn, schon wieder im Gehen, leicht übers Haar und ging zur Tür hin. Aber als sie schon geöffnet hatte, blieb sie nochmal stehen. »Es ist ja jetzt wohl noch hell genug. Wenn ihr nicht mehr sehen könnt, steckst du die Hängelampe wohl mal selber an, Klaus!«

Klaus ließ irgendein unverständliches Gebrumm vernehmen. Er hockte mit einem unbeschreiblich behaglichen Buckel über den Tisch hergebeugt auf seinem Platz und hatte sich bereits ein Stück in eine der beiden Brotschnitten hineingegessen. Sie war so lang, daß er den einen Arm, um sie in mundgerecht wagrechter Lage zu halten, ein gutes Ende vorgereckt hatte, wobei er sie teils aus Behagen, teils zum Spaß von unten mit weitgespreizter Hand stützte.

Die Tür wurde geräuschlos ins Schloß gedrückt, und die drei waren wieder allein.

Es blieb zunächst ein Schweigen.

Sibylles Hände raschelten zwischen dem Blattwerk und den Blumen, Klaus war mit seiner Brotschnitte beschäftigt. Tom hatte noch nichts angerührt. Er fühlte sich in einem verzweifelten Zustand. Es schien ihm unmöglich, in Sibylles Gegenwart diese mächtige Schnitte in die Hand zu nehmen und sie zu essen. Überhaupt hatte er ja, seit sie eingetreten, obgleich er die Schnitte sonst sicher nicht verschmäht hätte, jeden Gedanken an Essen und Trinken verloren. Und dabei war es ganz undenkbar, daß er die Schnitte liegen ließ. Was würde Frau Doktor Wolfram wohl für Augen gemacht haben!

»Nanu?« machte endlich Klaus, ohne sich aber im Weiteressen zu unterbrechen, der Situation ein Ende. »Tom! Schenk' dir ein! Iß doch!«

»Oh, ich... Ja! – Natürlich!« stotterte Tom und sah zu Sibylle hinüber.

»Wart'! Ich will einschenken!«

Sie hatte sich erhoben, kam zu ihm herüber, stellte die Tasse vor ihn hin, ergriff die Kanne und goß die Tasse voll schönen Milchkaffee.

»Oh«, rief Tom errötend. »Ich danke recht schön!«

»Ist's gut so?« sagte Sibylle lachend und sah ihn an.

»Oh, ich danke! Sehr!« antwortete er.

Sie ging wieder zu ihrem Stuhl zurück, setzte sich und fuhr in ihrer Beschäftigung fort. Klaus hockte über seiner Tasse, in der er fast die Nase hatte, und man hörte sein behagliches Schlürfen.

Auch Tom tat jetzt einen Schluck. Dann aber wandte sich sein Blick verzweifelt der Schnitte zu. Essen mußte er sie. Schließlich kam ihm der Gedanke, daß er sie mit dem Taschenmesser in kleine Querstreifen schneiden und dann einen Streifen nach dem anderen still wegessen wollte. Nur hatte er Angst, daß Klaus, wenn er ihn die Schnitte zerteilen sähe, ihn auslachen werde. Doch holte er endlich, aber so verstohlen wie möglich, das Taschenmesser hervor, nahm die Schnitte heran und zerteilte sie. Er lugte dabei zu Sibylle und Klaus hinüber, die aber nicht auf ihn achteten.

»Sibylle?«

»Was denn?«

Klaus, der mit seiner Schnitte zu Rande gekommen war und sich nun zu einem kleinen Gespräch auf seine Art aufgelegt fühlte, grinste und fuhr, nachdem er das »Mecklenburger« wieder aufgenommen hatte, fort:

»Sibylle, sag' mal: Wenn du erst mal groß bist, möchtest du mich dann wohl heiraten?«

Tom, der eben verstohlen wieder einen frischen Streifen in Angriff genommen hatte, sah, den Bissen im Halse, auf.

»Wie denn? Wenn ich erst mal groß bin? Ich kann doch jetzt nicht schon wissen, was ich dann tun werde?«

Sibylle lachte und sah zu Tom hinüber, als wollte sie ihn auffordern, mit ihr über Klaus zu lachen.

»Nein, aber sag' doch mal, Sibylle! Sag' doch! Wie?« beharrte dieser.

»Ach, du!« kicherte sie. »Wenn sie dich nun von der Schule fortjagen, was dann?«

»So! Sie werden mich von der Schule fortjagen! Das denkst du! – Hahaha! Aber da irrst du dich! – Soll ich dir sagen, was ich vorhabe? Und das ist wahr, hörst du? Ostern werd' ich nach Obertertia versetzt, und dann sollt ihr mal sehen! In fünf Jahren hab' ich das Examen gemacht. Und glänzend!! Vom Mündlichen dispensiert! Wette? – Na? – Also?«

»Das wollen wir doch erst abwarten«, lachte Sibylle. »Du! Aber warte doch mal! Aber um Gottes willen, die roten Weinblätter müssen doch hier, hierher! Hier vorn! Zwischen die gelben, bernsteinfarbenen! Und welche hier zwischen die Ahornblätter!«

Er hatte sich hurtig vorgebeugt, ergriff eine Handvoll Weinblätter und schob sie zwischen ein Büschel von rostbraunen Blättern.

»Ach ja, richtig!« lachte Sibylle. »Ja, es sieht so sehr schön aus.«

»Na aber natürlich! Etwa nicht?«

Klaus brachte sich wieder in seine vorige Haltung zurück.

Die Wendung, die das Gespräch genommen hatte, verriet so unmittelbar ein gutes Einvernehmen zwischen den beiden, daß Tom plötzlich auf den Gedanken kam, Sibylle werde wirklich später mal Klausens Frau werden. Und mit einemmal erhob er sich und ging zum Fenster hinüber, wo er, ihnen den Rücken zugewandt, stehenblieb und in den Garten hineinstarrte.

Sowohl Sibylle wie Klaus hatten aufgesehen.

»Nanu, Tom, was hast du denn?« rief Klaus, doch selbst in diesem Augenblick zu bequem, um sich ganz aus dem Behagen seiner Sofaecke aufstören zu lassen.

»Wie?« Tom fuhr zusammen. »Ach, nichts! – Es ist so hübsch... Ich meine: der Nebel draußen wird jetzt immer schöner.«

»Ach so, der Nebel! – Der Dichter hat sich in dir geregt! – Er kann nämlich Gedichte machen, Sibylle! Hahaha! – Na meinswegen, o ja, hat was! Die roten Ranken gegen die milchweiße Wand: gar nicht übel.«

Es blieb ein Schweigen.

»Klaus!« sagte endlich Sibylle. »Es wird dunkel. Du könntest wohl die Lampe anstecken.«

Ihre Worte bewirkten, daß Tom sich zusammennahm und wieder zu seinem Stuhl zurückkehrte.

»Och nee, warum denn?« ließ Klaus sich faul vernehmen. »Is doch so gemütlich. – Du müßtest uns jetzt, weißt du, was auf'm Klavier vorspielen.«

Doch Sibylle antwortete nicht, sondern ging zum Fenster hin, wo sie aus Frau Doktor Wolframs Arbeitstischchen eine Rolle Garn holte, mit der sie zurückkam. Sie ließ sich wieder nieder, biß mit ihren festen, weißen Zähnen geschickt ein Ende von dem Garn ab und wand es unten um den fertiggewordenen Strauß.

»So, jetzt ist er fertig!« sagte sie dann, während sie befriedigt den Strauß mit beiden Händen vor sich hin hielt.

»Er ist schön, ein richtiges Kunstwerk!« rief Tom, der mit einemmal lebhaft geworden war.

»Nicht?« dankte Sibylle mit einem lachenden, zugleich verwunderten Blick zu ihm hinüber.

Doch jetzt kam Bewegung in Klaus.

»Warte, Sibylle!«

Mit ungewohnter Behendigkeit war er aus der Sofaecke auf und lief zum Klavier hinüber, von dem er eine große, weitgebauchte, roh rote Tonvase herbeiholte. Dann nahm er Sibylle den Strauß ab, steckte ihn hinein und stellte die Vase mitten auf den Tisch. Dann aber kletterte er auf den Tisch und steckte die Lampe an, so daß man den Strauß ordentlich bewundern konnte.

Bald darauf stellten sich, da die Zeit zum Abendessen nahe war, die beiden älteren Brüder, danach auch die Schwestern ein. Und es dauerte nicht lange, so kam auch Doktor Wolfram.

Und dann schallte das Zimmer von Lachen und Fröhlichkeit, wie es immer war, wenn Vater abends ungestört unter ihnen weilen konnte.

Tom mußte zum Abendessen bleiben. Nach dem Essen aber veranstalteten sie um Sibylles schönen Strauß herum Pfänderspiele. Dabei geschah es, daß Tom von Sibylle einen Kuß bekam.

Es überwältigte ihn so, daß ihn ein Schwindelanfall überkam.


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