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22.

»Ach, du, Tom?« sagte Onkel Anton, als Tom wieder einmal eines Tages unerwartet in das Laboratorium eintrat, wo er gerade mit einem Experiment beschäftigt war. »Eigentlich kann ich dich jetzt freilich nicht recht gebrauchen; wenigstens wirst du dich langweilen. Oder kommst du wegen etwas Besonderem? – Aber was hast du denn da?«

Es gab allerdings etwas Ungewöhnliches, denn Tom hatte eine Blume im Knopfloch.

»Eine Studentenblume«, gab Tom, etwas verlegen und mit einem Erröten Bescheid.

»Ah was? Eine Studentenblume? – Wo hast du denn die her? – Na, komm doch näher, du kannst meinetwegen schon dableiben.«

»Aus unserem Garten.«

Tom war an den Experimentiertisch herangetreten und begrüßte Onkel Anton.

»Aha, du hast dich also erst noch im Garten verweilt, eh' du herkamst, hast dir 'ne Blume gepflückt. – Aber, he, warum? Und warum gerade eine Studentenblume?«

»Ach, nur so. – Sie ... Ich dachte, daß sie gut zu meinem Anzug paßte.«

»Hm! Na, o ja«, ging Onkel Anton, ohne sich aber weiter in seinem Experiment unterbrechen zu lassen, weiter auf die Sache ein. »Safranfarben! Das nimmt sich zu Marineblau allerdings ganz gut aus. Aber auch eine lichtblaue Aster hätte ganz gut gepaßt, würde sich auf dem Dunkelblau ganz apart ausgenommen haben. – Doch also bon: eine Studentenblume! – Aber wie bist du eigentlich darauf gekommen?«

»Ach, nur so!« wiederholte Tom.

»Meines Wissens hast du das nämlich noch nie getan und hast dir 'ne Blume ins Knopfloch gesteckt. Oder inzwischen doch? Ich bin ja zwei Jahre lang nicht zu Hause gewesen, und in zwei Jahren kann sich vieles ändern, besonders bei solchem jungen Manne wie du. – Du scheinst mir einer zu sein, der gerne Überraschungen bereitet? Wie? Sage!«

»Ich weiß doch nicht?« Es war, als zögere Tom etwas auszusprechen, er hatte ein ganz merkwürdiges Lachen. »Ja, doch!« sagte er endlich. »Aber ich will es nicht. – Ich wundere mich selber darüber.«

Anton sah ihn mit großen Augen an. Es war wieder mal eine von Toms seltsamen Bemerkungen. Anton glaubte etwas aus ihr herausgehört zu haben, was ihm nicht gefiel, ihn mit einer Sorge erfüllte.

»So so!« machte er trocken, sich wieder seiner Arbeit zuwendend. »Aber, sag' mal: Wie war dir zumut, als du mit der Studentenblume im Knopfloch durch die Stadt gingst?«

»Ich habe nachher nicht mehr daran gedacht«, antwortete Tom ausweichend, er war sehr rot geworden. Mit einemmal aber zog er die Blume aus dem Knopfloch und schob sie ungesehen beiseit auf den Tisch.

Aber Anton hatte den kleinen Vorgang doch bemerkt, tat aber als wär's nicht der Fall und sagte weiter nichts. Er löschte jetzt die Flamme und führte nach einer Weile den Inhalt der Retorte in eine Reihe von Reagenzgläschen über.

»Ich bin aber doch wegen etwas gekommen«, unterbrach Tom plötzlich das Schweigen.

»Ein Auftrag von Mutter oder Großmama?«

Tom wurde rot.

»Nein.«

»Na, dann hat's wohl Zeit bis nachher. – Ich bin jetzt vorläufig fertig. – Komm, wir wollen 'naufgehen, ich will meinen Hut holen, und dann können wir mal einen Spaziergang machen. – Du hast doch Zeit?«

»Ja«, stimmte Tom zu. Es fiel Anton auf, daß er sich mit einer gewissen Hast erhob und nach seiner Mütze griff.

»Willst du deine Blume nicht mitnehmen?«

Zögernd ergriff Tom die Blume, steckte sie aber nicht wieder ins Knopfloch, sondern behielt sie in der Hand.

Da es sich fand, daß Onkel Anton seinen Hut dort hatte liegen lassen, begaben sie sich in sein Arbeitszimmer.

Das war ein nach dem Hof hinaus gelegener hoher, großer, dreifenstriger Raum. Alle Räume in dem alten Haus waren hoch. Die Ausstattung zeigte eine etwas strenge, solide Schlichtheit. Ein paar größere verdunkelte Ölgemälde hingen an den Wänden. Die letzteren waren mit einer weißen, glänzigen, mit winzigen mattgoldenen Sternchen bedeckten und mit schmalen vergoldeten Leisten versehenen Tapete beklebt. Auch ein paar Ölbilder der impressionistischen Schule, für die Anton eine Vorliebe hatte, waren vorhanden, außer ihnen eine Anzahl von wissenschaftlichen Bildern, Kartons und Karten. Große, solid gearbeitete, schlichte Schränke gab es mit wissenschaftlichen Sammlungen, einen großen Globus und andere wissenschaftliche Apparate. In der Mitte des Zimmers stand ein mächtiger, massiver Eichentisch. Eine von einer dunkelbraunen Portiere verhangene Tür führte in einen Nebenraum, in dem sich die Bibliothek befand.

Tom hatte, während Onkel Anton sich noch dies und jenes zu schaffen machte, das Zimmer durchschritten, als er mit einemmal am anderen Ende, neben dem Eingang zur Bibliothek stehen blieb, von einem ihm sofort so schrecklichen wie zugleich anziehenden Eindruck getroffen. Bis hoch hinauf waren auf freier Wandfläche eine Menge wildgrotesker chinesischer, japanischer, birmanischer Masken angebracht, außerdem Kriegsmasken kannibalischer Völker des indischen Archipels, die Onkel Anton von seiner Reise mitgebracht hatte. Sie waren erst jüngst ausgepackt und an der Wand befestigt worden, so daß Tom sie zum erstenmal sah.

»Was ist das?« fragte er, all die vielen dunklen Fratzen anstarrend.

»Was denn? – Ah so! – Gefallen sie dir nicht?«

»Nein, gar nicht. – Sie sind scheußlich«, antwortete Tom, der sich bemühte unbefangen zu sein. »Sie sehen aus wie abgeschnittene Köpfe. Und sie riechen so sonderbar.«

»Ah, was denn! Sie riechen? – Na, aber kann sein, daß sie etwas riechen. Bei dem warmen Wetter wird vielleicht der Lack etwas riechen; auch das Holz und der Bast von den Kriegsmasken ... – Nu um Gottes willen: Masken sind's, Masken, aber keine abgeschnittenen Köpfe«, sagte er, während er sich zu Tom hin begab. »Hm! – Aber sie riechen ja gar nicht!« – Im stillen wunderte er sich. Die Dinger schienen dem Jungen ja eine förmliche Idiosynkrasie, womöglich gar eine Geruchshalluzination zu verursachen. »Masken! – Chinesische, japanische, javanische, malaiische, birmanische. Und das da sind Papua- und Maori-Kriegsmasken, das da Negermasken.«

»Wozu sind sie aber?« fragte Tom, offenbar nach wie vor bis zum physischen Leiden peinlich berührt.

»Nu, was gibt's denn! Bist du ein Kerl?« polterte Onkel Anton.

»Ja, die Kriegsmasken mein' ich auch nicht, da sieht man gleich, daß es Masken sind; aber die anderen; die Haare und Augen sind so eklig.«

Er wandte sich ab und tat einen Schritt fort, um Onkel Anton aufmerksam zu machen, daß sie ja spazieren gehen wollten.

»Na gut, komm! Wir wollen gehn; es ist etwas nach fünf. – Sie wissen doch zu Hause, daß du bei mir bist?«

Tom bejahte.

»Na, dann können wir bei dem schönen Wetter ja mal einen Marsch machen. – Also los!«

Sie durchschritten den der Stromgegend entgegengesetzten westlichen Stadtteil, alsdann die westliche Vorstadt und gelangten dann nach etwas über einer Viertelstunde ins Freie.

Solange sie sich im Stadtgebiete befanden, sprachen sie nur wenig miteinander. Besonders verhielt sich Tom so gut wie völlig schweigend, obgleich Anton ihm anmerkte, daß er den Marsch sehr gern mitmachte.

»Was mag er haben? Irgend etwas stimmt nicht«, dachte er.

Als sie dann aber im Freien waren, schien Toms Stimmung sich zu ändern.

»Ach sieh, Onkel Anton, der Roggen ist schon gemacht!« rief er, und wies zu den zusammengestellten Garben eines abgemähten Feldes hinüber.

»Ja, sieh mal! – Kannst du auch die übrigen Getreidearten unterscheiden?«

Tom bejahte.

Sie wanderten einen Weg zwischen Feldern. Er hatte gegen seine Ränder hin einen üppigen Graswuchs, aus dem blauer Wiesensalbei, rote und blaue Glockenblumen, gelbe Klee- und würzig duftende Thymianpolster hervorleuchteten, während der Saum der Getreidefelder von Klatschrosen, Zyanen, Raden, Rittersporn, Winden und roten Erdnußblüten durchwirkt war. Da der Weg einen scharfen Bogen machte und das vor Reife knisternde Getreide das Jahr übermannshoch stand, waren sie eine ganze Strecke hin wie eingeschlossen in die goldigen, von einem leisen, warmen Spätnachmittagswind rauschenden Mauern, deren köstliche Würze sie mit Wohlbehagen atmeten.

Doch war der heimisch eingeschlossene Gang überreich an Eindrücken. Der bronzebraune Buchweizen, wie ein Wall zahlloser starrer Lanzen, atmete Kraft und gab mit seinen in herzhaft krißlig-rauhstarre und doch zierliche Form gefaßten, kurzgrannigen Ähren eine Empfindung von Frische und Stärke. Der rötliche Hafer – unten waren seine Halme und Blätter satt kupferfarben – und das lustig zarte, tüpflige Gewirr seiner Dolden machten einen förmlich lachen vor Freude. Wohl am schönsten aber wirkte die lichtgelbgoldige Gerste mit ihren langen, zarten Grannen. Sie schienen Rückstrahlungen eines überirdisch paradiesischen Schimmers. Es war, als bewegten sich unsichtbar himmlische Lichtgestalten über diese Weite unbeschreiblich feiner, goldlichter Zartheit hin, als sei sie der Abglanz ihrer Gewänder. Und ging mit einem feinen Schauer der warme, lichtgesättigte Wind drüber hin, so war's einem, als ob man Gesänge hörte, die nicht von dieser Welt sind. Dann kam ein Kartoffelfeld, mit der festen, prallen und doch weichen Form seiner Stauden, die in diesem Jahr so üppig waren, daß man das braune Erdreich mit seinen sauber gezogenen Furchen drunter kaum hier und da noch ein wenig wahrnahm; und das Auge freute sich und ruhte in dem glänzigen Dunkelgrün der runden Blätter, zwischen denen die weißen und rötlichen Blütensterne mit ihrer lichtgelben Mitte hervorsahen. Das Feld hauchte einen warm herzhaften, angenehm ein klein wenig beizenden Ruch. Und dann kam ein großes Stück Brachland, das seiner ganzen Ausdehnung nach von unzähligen wilden Stiefmütterchen überwuchert war. Auf den Roggenbreiten standen die hohen Garbenpuppen weit ins Gelände hinein, wo sie in fernen Sonnendunst und flirrende Sommerluft hineintauchten. Zwischen den Stoppeln wuchsen kleine Kräuter und Blümchen und zogen sich weithin kriechende Brombeerranken, deren Blätter sich hier und da schon zu verfärben anfingen.

Dann aber hörte das Feldgelände auf, und sie bogen in einen Wiesenweg ein. Die Wiesen, nicht mehr so hoch und bunt wie im Frühsommer, boten sich, der Grummeternte entgegenwachsend, niedriger und krauser, und der letztere Eindruck wurde hervorgebracht von den vielen Storchschnabelstauden. Doch um so schöner kam die freie Weite mit dem blitzenden Netz ihrer Wassergräben, ihren Erlenbüschen, den in Gruppen oder einzeln stehenden Eschen und deutschen Pappeln zur Geltung. Bunte Rinder weideten nah und fern, und Pferde, einzeln und in Rudeln. Sie sahen den Kiebitz kreisen und vernahmen seinen klagenden Ruf. Staarschwärme hatten ihr metallisch zwitscherndes Wesen, und aus den in den blauen Himmel hinein gereckten Wipfeln der Pappeln schallte das grelle Geschwätz der Elstern, von denen ab und zu eine mit flatterndem Fluge schwarz und weiß gescheckt und mit langem, steilem Schwanz wiesenein sich bewegte. Am Horizont zeigten sich zwischen einem krausen, grünen Wall von Obstbäumen hervor der gedrungene Kirchturm, die hohen Strohdächer und niedrigen bolusroten, blauen, weißen Hauswände eines Dorfes.

Nach einer Weile bog Onkel Anton zu einem der Wassergräben ab, an dem hin sie ihre Wanderung jetzt fortsetzten.

»Onkel Anton?«

»Und, Tom?«

»Du sagtest damals bei Großmama, in Nordamerika entstände eine neue Rasse, die ... die, ich weiß nicht, aber du sagtest wohl, ganz anders sein würde als die Menschenrassen heute sind?«

»Das hast du dir gemerkt. – Ja, ungefähr das sagte ich«, bestätigte Onkel Anton, auf irgendeinen Unterton aufmerksam, der sich unter Toms Worten bemerkbar gemacht hatte. »Aber es versteht sich natürlich, weißt du, daß es damit noch keine Eile hat.«

»Ach, du denkst, es dauert noch lange?«

»Gut Ding will Weile haben, Tom! Das Sprichwort kennst du ja.«

»Ach! – Ja! – Natürlich! – Wie kann das denn so schnell gehen, da ja doch so viele Völker, die Völker und Rassen der ganzen Welt erst ... Ich meine, erst eins geworden sein müssen, daß die neue Rasse draus entstehen kann. – Aber entstehen wird sie doch sicher?«

»Nun, das hat schon seine Richtigkeit. – Das kann sogar gar nicht anders sein. – Und das gefällt dir, he?«

»O ja! – Es ist doch so merkwürdig, und was Wunderbares, daß aus allen Völkern der Erde etwas ganz Neues entstehen wird. Die Rasse ist doch dann ganz anders als alle Völker, und hat doch von allen etwas.«

»Ja.«

»Aber was wird dann aus den anderen Völkern, wenn das erst da ist?«

»Was wird aus dem Getreidekorn, Tom, wenn der Halm und die Ähre draus geworden ist? Es vergeht und ist nicht mehr. Und eines Tages werden alle die Völker, aus denen die neue Rasse zustandegekommen ist, nicht mehr sein.«

»Ja, sie werden nicht mehr sein!« wiederholte Tom und seine Augen blitzten. »Aber – dauert es noch sehr lange, bis es soweit ist?«

»Unbesorgt, Tom!« lachte Onkel Anton. »Wir alle brauchen uns darum noch keine grauen Haare wachsen zu lassen. Und all die vielen Völker, die heute noch leben und erst mal ihre Vollkommenheit erreichen wollen, auch nicht. Auch nicht die, die überm großen Teiche heute in der Union beisammen sind.«

Es blieb ein Schweigen.

»Dann dauert es noch sehr lange«, sagte Tom und seine Worte verrieten eine Erregung, über die Anton sich nicht klar war. Doch sagte er weiter nichts, sondern wartete ab, was Tom zum Vorschein bringen würde.

Aber da geschah etwas Unerwartetes.

Tom rannte plötzlich von ihm fort eine ziemliche Strecke weit vorwärts bis zu einer Stelle, wo dicht am Graben ein einsamer Erlenbusch stand, von dem er sich mit einem gewissen Ungestüm eine Gerte abbrach. Als er das aber getan hatte, schickte er, bei dem Busch stehenbleibend, ein sonderbares Lächeln um den Mund, einen kurzen Blick von unten herauf zu Anton hin, der, noch in einiger Ferne, ohne seinen gemächlichen Schlenderschritt beschleunigt zu haben, allmählich herankam; worauf Tom, während seine Augen in neuem unbestimmten Übermut funkelten und seine Backen sehr rot waren, mit hastigen Bewegungen die Blätter von der Gerte abriß.

»Nanu, was machst du denn da mit einemmal? Hatte das nicht Zeit, bis wir an den Busch heran waren?« sagte Anton, als er herangekommen war, und blieb vor Tom stehen, ihm zusehend, wie er die Blätter vollends abriß.

Tom lachte und hob, doch nur für einen Moment, sein hochrotes Gesicht mit den funkelnden Augen von der Gerte zu ihm auf.

»Ach!« antwortete er dann, zu laut. »Es ist so hübsch, wenn man beim Gehen eine Gerte hat! – Wenn ich zusammen mit Klaus Wolfram« – Klaus Wolfram war ein Schulkamerad von ihm, an den er näheren Anschluß genommen hatte – »einen Marsch mache, dann knicken wir uns immer Gerten ab.«

»So! – Na ja.«

Sie waren schweigend ein Ende weitergegangen. Tom ließ seine Blicke über die Wiesen hin schweifen, pfiff vor sich hin und hieb nach dem Takt dessen, was er pfiff, mit der Gerte gegen sein Bein.

»Du, Onkel Anton! – Es darf im Kriege heute doch nicht mehr gebrandschatzt und geplündert werden, nicht?«

Anton sah ihn an.

»Nein, darf unter gesitteten Völkern nicht mehr vorkommen«, antwortete er dann.

»Ja, aber ... Und ... Aber die Offiziere, gerade die Offiziere müssen doch darauf achten, daß die gemeinen Soldaten so was nicht tun und müssen sie zurückhalten, wenn sie's tun wollen, nicht wahr?«

»Ja, müssen sie, Tom.«

»Na ja! – Natürlich! – Das müssen, müssen sie!« stieß Tom, hochrot, mit vor Eifer sich überstürzender Stimme hervor. »Aber sie tun's nicht! Ich habe ja gelesen: es ist in den Kriegen, ich meine: den modernen, vorgekommen, daß gerade die Offiziere, die doch gebildete Menschen sind, und das meiste Ehrgefühl haben« – er legte auf das Wort einen besonderen Nachdruck – »und die sich doch auch am meisten beherrschen müssen, die gemeinen Soldaten sogar erst noch zu so was angetrieben haben. Sie haben sie sogar angetrieben, ganz wehrlose alte Leute und Weiber und Kinder, die sich noch nicht mal was haben zuschulden kommen lassen, abzuschlachten, ja sogar zu Tode hat man den Feind martern lassen, was doch noch viel, viel schlimmer, als wenn Indianer so was tun. – Nämlich rein aus Wut haben sie's getan, weil sie mal eine Schlacht verloren hatten und wie sie auf der Flucht durch die Ortschaften durchkamen. – Es kommen also auch heute im Kriege noch Greueltaten vor. – Und noch andere, noch schlimmere Dinge sind vorgekommen. Sie haben aus reiner Wut die Gefangenen, die doch ganz wehrlos waren, ans Kreuz geschlagen und haben armen Verwundeten mit dem Daumen die Augen ausgequetscht und sie dann lebendig ins Feuer geworfen und sie verbrennen lassen. Und gerade Offiziere, Offiziere haben dabei mitgetan und die gemeinen Soldaten erst dazu angestiftet. – Solche Scheußlichkeiten machen nicht mal die Tiere, das tun nur die Menschen, die Menschen miteinander. – Aus widerlicher, gemeiner Wut tun sie das. – Und dabei soll ein Offizier doch so viel Ehrgefühl haben, daß er, wenn er sich im Frieden was hat zuschulden kommen lassen, was noch nicht mal so was Besonderes zu sein braucht, sofort aus dem Offizierstand ausgestoßen wird. – Aus gemeiner Wut machen sie solche Scheußlichkeiten, und weil sie sich nicht beherrschen können!«

Anton Körber hatte dem Knaben, ohne ihn zu unterbrechen, zugehört. Er mußte sich vor Schreck und Betroffenheit erst sammeln, als er jetzt fragte:

»Sag' mal, Tom, mein Junge! Wo hast du denn das alles her?«

»Oh, ich hab's doch in Zeitschriften gelesen. Und auch in Büchern. In ganz ernsthaften, nicht in solchen Schmökern!« rief Tom.

»So! – Und wo hast du die Bücher her?«

Tom schwieg einen Augenblick. Es war nicht recht deutlich, ob aus Verwirrung oder aus Trotz.

»Oh, ganz richtige Geschichtsbücher«, wich er aus.

»Aber wie kamen die Bücher in deine Hände?«

Wieder schwieg Tom.

Dann aber sagte er, diesmal mit deutlichem Trotz:

»Aber die Bücher sind doch da? Sie können doch nicht verbrannt und fortgeschlossen werden? Es kann sie doch jeder lesen? Man kann sie dann doch woanders herkriegen?«

Doch kaum hatte er ausgesprochen, als er erschrak und vor Schreck und Verwirrung einen Moment erbleichte.

Wie durch eine unsichtbare Gewalt förmlich von ihm fort zur Seite weggewirbelt, war Onkel Anton unter einem lauten Ausruf des Entzückens zum Graben hingerannt, mit einer jähen Bewegung in die Hocke niedergegangen, und jetzt rief er, ganz naiv und munter wie ein Junge:

»Tom! Tom! – Komm! Komm doch mal her! – Sieh doch! – Sieh mal!«

Zögernd und in vollkommener Verwirrung leistete Tom Folge und trat an seine Seite.

»He? – Wie? – Nicht?«

Er sah aus seiner hockenden Stellung mit hochrotem, in diesem Augenblick förmlich verklärt schönem Gesicht unter dem Sombrero und seinem schön gewellten lichtblonden Haar in die Höhe, wobei seine blauen Augen Tom, der seinen Blick verwirrt gleich wieder senkte, strahlend anlachten.

Er hatte beide Arme gerade vor sich hin niedergestreckt, und seine Hände waren tief in einem ungeheuren, breiten, dicken, im köstlichsten Himmelblau leuchtenden Polster von Wasservergißmeinnicht vergraben. Das Polster überwucherte aber weithin den Rand des Grabens die ganze abfallende Böschung bis zu dem stillen, bernsteinbraun klaren, von Sonnenlichtern friedlich schimmernden Wasserspiegel hinab.

Es war allerdings seltsam, dachte Tom, daß an dem ganzen Grabenrand bisher und bis zu diesem Augenblick kein so ganz ungewöhnlich großes und schönes Polster von Vergißmeinnicht zu sehen gewesen war.

»Wie? – Was? – Nun? – Ist das nicht herrlich?« lachte Anton zu ihm empor.

»Ja«, antwortete Tom leise. Langsam ließ er hinter seinem Rücken die Gerte zu Boden gleiten.

Im gleichen Moment wandte sich Onkel Anton aber wieder den Vergißmeinnicht zu, aus denen er mit einem schnellen, aber sicheren und überlegten Griff ein Büschel herausriß, worauf er ebenso schnell seinen Hut abnahm und das Büschel an ihm befestigte. Dann aber ging er mit einer elastischen Bewegung aus der Hocke wieder in die Höhe, und Tom sah, daß er noch ein einziges Vergißmeinnicht in der Hand hielt.

Er wandte sich mit ihm zu Tom hin, faßte ihn – warm fühlte Tom seine großen, schöngeformten, schlanken und doch muskelkräftigen Hände – zugleich scherzend und liebevoll vorn an der Brust und hielt ihm das Vergißmeinnicht vors Gesicht.

»He, sieh mal, Tom! Wie klein, winzig klein und zierlich es ist! Nicht? – Ein so liebes, kleines, zierliches Dingchen! – So, laß es dir ins Knopfloch stecken!«

Und mit behutsamer und, schien's, bedachter Umständlichkeit steckte er Tom das Blümchen ins Knopfloch.

»Sagte ich, lichtblaue Aster paßte gut zu deinem marineblauen Jackett? Ich muß wohl dies Dingchen hier gemeint haben. – Na! So! Die Studentenblume hast du übrigens, wie's scheint, inzwischen wohl schon irgendwohin fortgeworfen.

Aber warte, warte, noch was!«

Seine Augen hatten sich unter den letzten Worten schon wieder dem Graben zugewandt, zu dem er noch einmal hin eilte. Wieder ging er in die Hocke, beugte sich diesmal aber gegen den Wasserspiegel vor.

»Komm mal her! Noch was!«

Langsam, wie zuvor, leistete Tom Folge und nahm die Richtung von Onkel Antons ausgestrecktem Arm, der mitten aufs Wasser zeigte. Seine stille, braune, bis auf den Grund klar durchsichtige Fläche war an der Stelle, auf die Onkel Antons Arm hindeutete, über und über mit weißen und blaßrosafarbenen Bitterkleesternchen bedeckt, was ein köstlicher Anblick war.

Doch schon ließ Onkel Anton sich vernehmen.

Seine Stimme kam jetzt sonderbar humorvoll gepreßt und ganz tief, mit einer herzhaften, fast etwas grobschlächtigen Tonart aus der Magengegend herauf.

»Hohoho! – Menyanthes! Oder: Bitterklee! – Gehört unter die Gentianaceen, kommt nur in zwei Arten in der nördlich gemäßigten Zone vor. Notabene: in England muß es sehr viele geben, denn dort ist ja der Spleen zu Hause –, wächst in Wassergräben, auf Sümpfen, Mooren und feuchten Wiesen. Ein fingerdicker Stengel kriecht im Sumpfgrund, du siehst! Er treibt einem dreiblättrigen Kleeblatt ähnliche Blätter und Trauben von zehn bis zwölf fünfgespaltenen, weißen und blaßrosa Blütensternchen. Die Blätter sind die Folia trifolii fibrini, aus denen man den Bitterkleeextrakt gewinnt. Man gebraucht diesen Extrakt mit gutem Erfolg gegen Trägheit der Verdauungsorgane. – Na also!«

Er hatte unter den letzten Worten die Hand nach einem der dicken Stengel ausgereckt, an welchem eine besonders schöne Dolde saß, und riß ihn heraus. Dann erhob er sich und ging mit einem »Na, komm!«, das er aber erst rief, als er schon, ohne sich weiter um Tom zu kümmern, einige Schritte vorwärts getan hatte, weiter, wobei er den Stengel mit der Dolde in der Hand behielt.

Tom leistete der Aufforderung nicht sogleich Folge, blieb noch stehen und sah ihm nach.

Onkel Anton schritt mit seinen langen Beinen schneller vorwärts. Er hatte seinen gewohnten mausgrauen Anzug an, dessen Schoßrock er immer weit offen trug. Tom hatte ihn fast nie anders als in einem solchen Anzug gesehen, und er hatte diesen Anzug förmlich lieb.

Er atmete heftig, etwas wie ein Weinen wollte ihm die Kehle in die Höhe, doch das ging in ein wunderliches Lachen über; und von einer heftig aufwallenden Liebe und zugleich Verlegenheit und Reue getrieben, setzte er sich jetzt in Bewegung und rannte Onkel Anton in fliegender Eile nach. Als er ihn aber eingeholt hatte und wieder an seiner Seite war, sah er zu ihm auf, lachte, rief mit einer Stimme, in der es wie eine Bitte war: »Onkel Anton?« und faßte mit einem zugleich unsicheren und festen Griff nach Onkel Antons Hand.

»Na, jawohl!«

Mit einem kurzen Druck erwiderte er Toms Handdruck; dann aber begann er, während sie miteinander weiterschritten:

»Ja, Tom! all solche Greuel kommen auch noch heutigen Tages im Kriege vor. Die Berichte, die du gelesen hast, sind wirklich nicht unauthentisch. – Aber du erkundigtest dich ja anfangs nach der neuen Rasse, die eines Tages in Amerika aus allen Völkern der Erde entstehen wird. Ich wies darauf hin, daß, wenn sie da sein wird, die bisherigen Völker und Rassen eingehen werden. Ich glaube, du hast fragen wollen, ob auch dann, wenn die neue Rasse und eine neue Menschheit da sein wird, noch Kriege und solche Scheußlichkeiten vorkommen werden. Nicht, das wolltest du fragen?«

Tom bejahte leise. Er war aber nicht mehr ganz bei der Sache. Ganz seiner Neigung zu Onkel Anton hingegeben und im Innersten glücklich, und in einer warm dankbaren Nachdenklichkeit über seinen Handdruck, dachte er kaum noch an etwas anderes und hatte nur ein beständiges Bedürfnis seiner wiedergewonnenen Unbefangenheit Ausdruck zu geben. Zugleich aber hörte er mit Spannung zu, was Onkel Anton sagte.

»Na ja«, fuhr der fort. »Und du hast ja wohl auch schon dein Bedauern ausgesprochen, daß es noch so lange dauern wird, bis die neue Rasse und Menschheit da sein wird. – Aber wir müssen ja bedenken, daß sie sich vorbereitet, und daß sie von dem Augenblick an schon sich vorbereitet hat, wo die Union in Nordamerika zustande kam. Das kann aber nur bedeuten, daß von dem Augenblicke an auch die Einsicht zu erwachen anfing, und von nun an sich immer mehr festigen wird, daß schon unter den heutigen großen Völkern Kriege nicht mehr stattfinden dürfen, weil ja die immer schneller zunehmende Ausbreitung der Technik und des internationalen Verkehres zwischen den Völkern die Völker immer mehr zusammenschließt. Und ebensowenig wie es denkbar ist, daß die Staaten der Union noch untereinander Krieg führen, wird es denkbar sein, daß die großen europäischen Völker noch Kriege miteinander führen. Und das wird wohl schon in einer verhältnismäßig nicht mehr fernen Zeit so sein. – So siehst du also, und das wollen wir festhalten, daß die Menschheit mit der Zeit immer vollkommener wird, und die Menschen untereinander sich immer mehr als Brüder fühlen werden. – Und nun vorläufig genug davon, Sohnemann. – Du kannst jetzt übrigens mal öfter zu mir kommen. Ich glaube, du hast ein ganz gutes Interesse an den Naturwissenschaften. Wenn man aber erst mal eine Ahnung bekommen hat, wo's mit der Menschheit hinaus will, so wird es sich auch lohnen, zu wissen, wie und woher sie gekommen ist. Und das will ich dir von jetzt an mal genauer erzählen. – Jetzt aber Schluß.«

Das letzte Verhalten des Knaben hatte Anton zwar beruhigt, aber er hatte trotzdem den Schreck, den ihm seine mit einem so förmlich verbissenen Trotz hervorgestoßene, in gewissem Betracht furchtbare Äußerung verursacht hatte, noch nicht völlig überwunden. Die Äußerung hatte verraten, daß Toms innere Entwicklung denn doch infolge jenes schlimmen Erlebnisses und der Krise, die es zur Folge gehabt, eine Wendung genommen hatte, die noch immer eine ernstlichere Gefahr für den Knaben bedeutete. Er mußte auf ihn achten.

Doch nach einer Weile – sie waren nicht mehr weit von dem Dorfe, das sie hatten liegen sehen, ab – wandte er sich Tom zu und fragte ihn mit burschikos kameradschaftlicher Unbefangenheit:

»Sag' mal, Tom, du bist ja wohl auch schon ziemlich lange von zu Hause fort: Hast auch du Appetit? Ich, ja.«

Tom sah mit erhellten Augen zu ihm auf und bejahte.

»Na natürlich! Gut! – Also, weißt du? Dann schlag' ich vor, wir gehen ins Dorf, lassen uns im Kruggarten erst mal häuslich nieder und legen was vor, wie?«


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