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7.

Es war herrlich gewesen. Denn nachher hatte die Prinzessin auch noch ein Gastmahl gegeben, bei dem Kakes, Marzipan und Fondants verabreicht worden waren. Tomchen hatte Rosalie, als er von ihr zu Bett gebracht wurde, von der Prinzessin, den Grafen, Baronen, Gräfinnen, Mohren, Schäfern, Schäferinnen, Hündchen und Kätzchen und schnurrigen Leuten Wunderdinge erzählt.

Jedenfalls war das Kind Großmama von diesem Tage an mit Entschiedenheit zugetan, und es verging selten einer, an dem er jetzt nicht von selbst getrieben hätte, zu ihr hinübergebracht zu werden. Zuweilen traf er dann auch mit Großpapa zusammen, der auf seine Weise sein Späßchen mit ihm machte, doch verlangte ihn vor allem nach Großmama und nahm er an ihn weiter keinen besonderen Anschluß.

Der Umgang mit dem Kinde hatte sich für die alte Dame nun doch anders gestaltet, als sie sich's anfangs, wo sie ihren Freundinnen gegenüber einen mehr verstandesgemäßen »Erziehungsplan« entwickelt hatte, vorgestellt. Sie fühlte und wußte nichts anderes mehr, als daß sie den kleinen Kerl unaussprechlich lieb hatte, und daß sie an ihm selber die Grundheiterkeit ihres Temperamentes wiedergewann und sich förmlich verjüngte. Doch verwöhnte sie den Kleinen keineswegs, etwa mit zuviel guten Eßdingen. Und es freute sie so unaussprechlich, zu gewahren, daß das Kind nicht der guten Dinge willen, die es bei ihr fand, zu ihr verlangte, sondern daß es einen unmittelbaren Anschluß an dies gleichmäßigere, munter verjüngt unbefangenere Wesen nahm, das sie jetzt zeigte. Und so wurde sie Tomchen tatsächlich zu einer zweiten Mutter. Zu einer Zeit, wo seine leibliche ihm allerdings den wichtigsten Teil ihres Interesses zu entziehen angefangen und ihn zu Rosalie und den beiden älteren in die Kinderstube gesteckt hatte.

Doch auch die Erziehung, die Rosalie dem Kleinen zuteil werden ließ, nahm ihren nicht unwichtigen und zugleich erfolgreichen Fortgang. Es sollte aus der Kinderstube über Tomchen bald neue Erstaunlichkeiten im Vorderhause zu berichten geben; denn die Frau Kommerzienrat hatte Rosalie angehalten, ihr alles über ihn auf das genaueste mitzuteilen.

Das wunderliche Mädchen, das in gewisser Hinsicht auf sein Leben verzichtet hatte und in der Pflege der drei Kinder mit Leib und Seele aufging, hatte eines Tages, wieder halb zu eigenem Zeitvertreib, zugleich aber mit einer gewissen auf Tomchen gerichteten Neugier, ein Blatt Papier sorgfältig mit »i«s beschrieben. Wie sie vorausgesehen, war er aufmerksam geworden, kleiner »Hans in allen Gassen«, der er war, zu ihr hingelaufen gekommen und hatte ihr mit angespannter Aufmerksamkeit eine Zeitlang zugesehen, was sie denn da mit dem Bleistift so hübsch sorgsam auf das Blatt hinmalte. Und dann hatte er sie gefragt, was sie da mache?

»I's schreib' ich. Tomchen! I's! Lauter hübsche kleine I's«, antwortete sie, ohne sich zu unterbrechen.

Tomchen hatte den Ausdruck »i«s sofort festgehalten und wollte voller Eifer auch solche »i«s schreiben. Darauf gab Rosalie ihm, ohne weiter etwas Besonderes draus zu machen, den Bleistift und ein Blatt Papier, und er brachte wirklich, wenn auch etwas kreuz und quer die Zeilen von unten nach oben und oben nach unten und unter öfterer Auslassung der Punkte, die »i«s zustande.

Es dauerte aber nicht lange, so vergaß er auch die Punkte nicht mehr und hatte verstanden, daß sie mit dazugehörten; und nun war er, wie erst aufs Zeichnen, darauf versessen, Papierblätter voll »i«s zu schreiben; ohne daß er übrigens die Lust auch am Zeichnen darüber verloren hätte

Nach dem »i« ist am bequemsten zunächst das »e« zu schreiben und zu behalten, und so malte Rosalie eines Tages ein Blatt voll »e«s und belehrte Tomchen auf seine interessierte Frage, daß das »lauter schöne, kleine e's« seien. Gleich wollte er auch die malen und lernte auf solche Weise zum »i« jetzt auch das »e« hinzu. Dann kam das »u« an die Reihe. Hier machte ihm der Haken sofort Vergnügen, und es hatte gar keine Schwierigkeit, daß er ihn beim Schreiben nicht vergaß. Dann ging's weiter, und er lernte das »o«. Wie er aber erst das schreiben konnte, ging's auch ganz gut mit dem »a«, das ja nur ein »o« mit einem Haken dran ist.

Zugleich lernte er von Rosalie auch zählen. Zunächst, allmählich, bis fünfzig. Doch hütete sie sich, ihn mit diesen Dingen allzuviel zu beschäftigen, sondern ließ ihn gewähren, wie er gerade mochte. Aber es zeigte sich, daß es ihm nach wie vor Spaß machte, und wenn er sich bei seinem mobilen, auf alles mögliche gerichteten Wesen auch nicht beständig mit diesen Dingen beschäftigte, so kam er doch immer wieder von selbst darauf zurück und zeigte dabei über die Zwischenzeit hinweg ein scharfes Gedächtnis.

Das Phlegma seines Vaters verhielt sich diesen neuen Fortschritten des Kindes gegenüber wie gelegentlich der ersten Zeichenprobe. Er sagte nichts dafür noch dagegen, sondern schmunzelte bloß. Lise aber schalt Rosalie, daß sie den Kleinen schon mit solchen Dingen beschäftigte. Doch ließ sie's schließlich angehen, ohne sich weiter darum zu bekümmern. Onkel Anton und Großmama aber verfolgten die Sache mit liebevollem Interesse, ohne den Kleinen jedoch durch zuviel Lob zu einem allzu großen Eifer anzuspornen.

Und so hatte es der kleine Tom, als er wenig über drei Jahre alt war, so weit gebracht, daß er das Alphabet schreiben und bis fünfzig zählen konnte. Nicht viel über vier Jahre alt aber, konnte er bereits schreiben und etwas lesen, auch schon ein wenig rechnen. Was aber seine teilnehmenden Angehörigen anbetraf, so durften sie sich nach wie vor durch den Umstand beruhigt fühlen, daß der Kleine körperlich gut gedieh, kräftig wurde und die lebhafteren Kinderspiele, gelegentlich wohl auch -streiche, nichts weniger als mied, wenn sich auch die beiden älteren Buben in dieser Beziehung einseitiger entwickelten und Tomchen in der Regel überlegen zeigten.

Ein halbes Jahr nach seinem vierten Geburtstag geschah es aber, daß er zum ersten Male in ernstliche Lebensgefahr geriet. Durch eine schwere Krankheit, die er sich infolge eines Streiches zugezogen hatte. Und es war Lise, die eingriff und ihn im letzten Augenblick vom schon sicheren Tode rettete.

Es kam jetzt häufig vor, daß die drei Buben unter Detlevs Anführung ihre selbständigen Abstecher unternahmen, die sich mit Vorliebe zum Stromufer hinüber erstreckten, das sie mit seinen Dampfern, Frachtkähnen, Schuppen und Lagerstrecken verlockte.

Tom hatte an dieser Gegend ein großes Gefallen gefunden, und da er in aller Stille Unternehmungen auf eigene Faust zu lieben anfing, war er eines Tages zum Strom hinab entwischt und hatte sich dort umhergetrieben. Dabei war er aber in einen Wassertümpel gefallen, hatte sich zwar von selbst wieder herausgerappelt, war aber gründlich naß geworden und hatte sich eine Halsbräune zugezogen.

Er war, um seine Geschwister, deren Zahl inzwischen auf fünf angewachsen war, vor Ansteckung zu bewahren, in eine besondere Kammer gebracht worden, die nach dem Garten hinaus lag, und Lise wich hier Tag und Nacht nicht von seinem Bett.

Die alte Frau Kommerzienrat war außer sich, denn der Arzt hatte durchblicken lassen, daß der Anfall ein ernster wäre. Nur ihr angstüberreizter Zustand bewahrte sie selbst vor einer Krise. Tag und Nacht rang sie vor Gott im heißen Gebet um das Leben ihres Lieblings, die einzige und letzte Möglichkeit, das Leben noch zu ertragen, wie ihr leidenschaftliches, trübsinnig versetztes Temperament immer wieder aus ihr herausschrie in diesen entsetzlichen Stunden und Tagen, wo sie sich den Ihren verschloß, von niemand Trost annahm und oft von verzweifelten Weinanfällen geschüttelt wurde. So war die Krankheit des Kleinen eine sorgenvolle, unruhige Zeit für die ganze Familie, die allen ein wenig den Kopf verdrehte und selbst die phlegmatische Ruhe Karls erschütterte.

Soweit das nur anging, war die alte Dame jetzt hinten im Gartenhaus. Doch stellte ihr Lise, die sich von ihren allerdings oft kaum noch zu ertragenden Aufregungen nicht aus der Fassung bringen lassen wollte, ein schließlich sehr entschieden abwehrendes Benehmen entgegen, so daß die alte Dame, um wenigstens in dieser Zeit eine schärfere Auseinandersetzung zu vermeiden, vor allem dann aber im Interesse Tomchens, es dann doch vorzog, sich durch ihre Bedienung Erkundigungen über das Befinden des Kleinen einholen zu lassen.

In Lise aber war der natürliche Muttertrieb mit einer solchen Stärke erwacht, daß sie über der Pflege des Kleinen nicht nur ihre anderen Kinder, sondern auch ihren Haushalt hintansetzte.

Die Krise war gekommen. Der alte Hausarzt hatte Tomchen lange und mit einer Art von Sorgfalt untersucht, die ihren seinen Instinkt sofort in die äußerste Angst versetzte. Als sie ihn, der ein ernstes Gesicht zeigte und weiter nichts mehr äußerte, dann aber hinausbegleitete, hatte ihre Angst einen Grad erreicht, daß ihr rasend pochender Herzschlag ihr das Wort versagte. Schließlich aber brach sie in ein verzweifeltes Weinen aus, packte den Arm des Arztes und schrie die halb erstickte Frage hervor.

Er zuckte die Achseln. »Wenn er über die Abendstunden hinauskommt«, sagte er, »ist er gerettet. Hoffen wir das beste.«

Er drückte sich hinaus. In einer Art und Weise, daß Lise deutlich merkte, er wolle sich weiterer Nachfrage entziehen.

Halb entseelt brach sie auf einem Stuhl zusammen, wohl auch von der Strapaze der letzten Tage und schlaflos verbrachten Nächte übermannt. Beide Hände aufs Herz gepreßt, saß sie und starrte vor sich hin. Ihre Verzweiflung, ihr angstvoll angespannter Muttertrieb ging in einen fast somnambulen Zustand über.

»O Jesus, Erbarmer!«

Wie von irgendeinem geheimnisvollen Angstruf getroffen, war sie in die Höhe gefahren und begab sich mit fliegender Eile und doch leise zu dem Kleinen hinein in die gegen die Abendsonne verdunkelte Kammer.

Behutsam, mit angehaltenem Atem, den ihr wildes Herzpochen ihr trotzdem mit schnellen, kleinen, fauchenden Stößen hervortrieb, einem Angstschweiß auf der Stirn, beugte sie sich mit weitaufgerissenen, forschenden Augen über Tomchen hin.

Er lag mit seinem schwarzen Krausköpfchen gegen die Wand gekehrt. Das Hemdchen war vorn offen und ließ den weißen, schön gewölbten kleinen Brustkasten sehen, der sich von schnellen, mühevoll röchelnden Atemzügen hob und senkte.

Vorsichtig, aber schnell, fühlte sie nach seiner Stirn. Sie war von einem feinen, kühlen Schweiß bedeckt.

Außer sich vor Angst rief sie, in der fürchterlichen Ahnung, er bekomme schon keine Luft mehr, um seinen Zustand zu erforschen:

»Mein Tomchen?«

Tomchen warf sich mit einer hastigen, offenbar ängstlichen Bewegung herum und starrte Mutter, wie dieser schien, etwas weinerlich, aber mit einem Blick, der selbst jetzt seinen gescheiten, klaren Ausdruck nicht verloren hatte, an.

Sie wollte sich, von ihrer Liebe und Freude, daß er sie hörte und sie, wenn auch ängstlich und offenbar gepeinigt, doch so schön klar ansah, überwältigt, noch näher zu ihm hinbeugen und ihn liebkosen, als sie von einer plötzlichen Wahrnehmung mit einem jähen Schreck durchschauert wurde. Es war ihr, als ob des Kleinen Lippen sich bewegt hätten, als mache er Anstrengungen, ihr etwas zu sagen, konnte aber nicht mehr sprechen.

Mit beiden Händen fuhr sie zu, faßte ihn unter den Rücken, ihn etwas hebend, starrte ihn an und rief ihm zu:

»Herzchen? – Mein liebes Tomchen? Soll ich dir ein schönes Biskuit geben? Wie? So ein ganz, ganz schönes?«

Ja! Jetzt sah sie deutlich, daß er die Lippen bewegte; doch zugleich wurde sein kleiner Oberkörper von einem stummen Weinen geschüttelt. Es war kein Zweifel: er konnte nicht mehr sprechen, fing an zu ersticken.

»Tomchen! Mein Herzenssöhnchen! Soll dir Mutter nicht so ein recht, recht schönes, schönes Stückchen Kuchen bringen?«

Eine minutenlange starre Stille. Tomchen machte peinvolle Anstrengungen zu sprechen, doch nur zwei stumme, blinkende Tränchen rannen ihm aus den Augen, die fest und angstvoll auf Mutter gerichtet waren.

»Kannst du nicht sprechen, mein Liebling?«

Er schüttelte den Kopf. Das stumme Weinen verzog ihm jetzt auch den Mund.

»O mein Engel! Mein Guter! Mein Herzenstomchen!«

Sie beugte sich schnell ganz zu ihm nieder und drückte ihm ein paar Küsse auf die Bäckchen.

»Hab keine Angst, hörst du? Warte, Mutter gibt dir jetzt etwas zu trinken, und dann wirst du gleich wieder sprechen können. Nicht?«

Seine Augen nahmen einen vertrauensvoll lächelnden Ausdruck an.

Lise nickte ihm noch einmal zu und streichelte ihm lind über das Haar und die Stirn, von der sie ihm zugleich den Schweiß abwischte; dann aber nahm sie mit bebenden Fingern das Wasserglas vom Tischchen und flog zum anderen Ende der Kammer hin, wo sie, ohne von Tomchen gesehen zu werden, eine Minute verweilte. Dann aber kam sie zu ihm hingehastet, beugte sich unter zärtlich eindringlicher Zurede über ihn, legte ihm den Arm unter den Rücken, hob ihn und setzte ihm das Glas an die Lippen.

»Trink, trink, mein Tomchen! Trink, mein Herzchen! Trink schnell, schnell, trink's leer!«

Doch Tomchen verzog weinerlich das Gesicht und wollte nicht.

»O ja, mein Liebling? O doch? Hörst du, was Mutter dir sagt? Mein Herzenstomchen muß ja sterben, sterben, wenn er das nicht hübsch austrinkt? Kriegt gar keine Luft mehr und ist tot und wird ins dunkle Grabloch gesteckt und wird nie, nie wieder Vater und Großmama und Onkel Anton und Detlev und Karlchen und Mutter sehen? Wird gar nicht mehr da sein?«

Tomchen hatte sie aufmerksam angesehen. Als er Mutter jetzt aber weinen sah, schien er zu verstehen, was ihre Worte bedeuteten, und er trank, halb schüttete Lise ihm den Inhalt des Glases in den Mund. Doch das Glas war noch nicht ganz leer, als er schon, doch, wie sie mit innigster Erleichterung wahrnehmen konnte, vom Magen herauf, alles in das Geschirr, das sie ihm schnell vorhielt, ausbrach.

Aber – ihr Herz jauchzte vor unsäglicher Freude – im selben Augenblick hörte sie ihn sagen:

»Ma'chen, ich kann sprechen.«

Dem himmlischen Vater Dank! Ja, er konnte wieder sprechen, und atmen!

»Mein Süßer!« jauchzte sie auf. »Siehst du? Und nun wirst du nicht, nicht sterben, wirst bald wieder ganz gesund und kannst aufstehen und sollst auch den aller-, aller-, allerschönsten Kuchen von Mutter kriegen! Nicht wahr?«

Tomchen nickte, von der Aussicht auf den schönen Kuchen aufrichtig erfreut und zugleich beruhigt, weil er wieder ganz richtig atmen konnte, und ließ sich Mutters Küsse gefallen, mit denen sich ihr jubelndes Herz Befreiung schaffte.

»Nicht, jetzt hast du Luft, Meiner?« fragte sie, um noch einmal seine Stimme zu hören.

»Ja, Ma'chen«, bestätigte er, völlig ruhig.

»Und ganz ordentlich?«

»Ja.«

»So, und möchtest du nun ein schönes Kakes essen und ein Schlückchen Wein trinken? Dann bist du morgen wieder ganz, ganz gesund, und wie wird sich der Doktor wundern, nicht?«

Tomchen nickte, lachte und langte mit den Ärmchen noch einmal nach Mutters Hals. Aber sie machte sich gleich wieder frei; denn es war ihr der Einfall gekommen, daß jetzt ein um den Hals gelegter Salzhering das übrige tun könnte. Sie hielt sehr viel von solchen einfachen Hausmitteln, und wär's nach ihr gegangen, so hätte der Arzt mit seinen Pinseleien und Beizereien nicht an des Kleinen Hals gedurft.

»Schon längst könnte er wohl gesund sein, wenn ich gleich von Anfang an hätte tun dürfen, was ich wollte. Er hat mit seinem verfluchten neumodischen Gebeize da die Sache erst schlimm gemacht. Dann zieht er 'n Gesicht und zuckt die Achseln«, dachte sie zornig mit Bezug auf den Arzt, und zugleich nicht ohne einen bitteren, innerlichen Vorwurf gegen die Familie und besonders gegen die Schwiegermutter, während sie sich, um den Hering zu holen, in die Küche begab.

Bald darauf kam sie zurück und wies ihn Tomchen, den sie mit allerlei kleinen Scherzen zum Lachen brachte. Dann aber riß sie den Hering mit einem geschickten Ruck mitten auseinander und legte ihn auf das Tischchen, während sie beiseite ging, sich niederließ und einen ihrer Strümpfe abstreifte, mit dem sie, damit er möglichst so warm bliebe, wie er vom Bein gekommen, schnell zurückkam, um den Hering auf ihn darauf zu legen. Und dann nahm sie den Strumpf mit dem Hering auf die Hände, legte ihn Tomchen um den Hals und wickelte den langen Strumpf dicht mehrere Male herum.

»Es is schön kühl, Ma'chen«, sagte Tom, dem der kühle Hering auf dem fieberheißen Halse wohltat.

»Nicht, das tut dir gut?« lachte Mutter und holte noch ein Linnen herbei, mit dem sie den Strumpf und den Hering festband.

»So, und nun leg' dich hübsch still hin, Herzenssöhnchen, und warte. Der Hering wird dir jetzt die Nacht über all das böse, garstige Zeug aus deinem Hälschen herausholen, und dann bist du morgen früh wieder gesund und wirst so viel Kuchen essen können wie du willst.«

Tomchen nickte und lag still.

Sie setzte sich zu ihm und hielt zärtlich sein Händchen.

Als sie eine Weile, jetzt selber einer Müdigkeit nachgebend, solcherweise dagesessen hatte, nahm sie wahr, wie ihm die Augen schwer wurden, und gleich darauf war er mit ruhigen, freien Atemzügen eingeschlafen.

»O Gott, Gott sei dank!« flüsterte sie mit gefalteten Händen und ein Seufzer erleichterte ihr die Brust.

Doch da klopfte es an die Tür.

»Lise?« ließ sich eine angstvolle Stimme vernehmen.

»O Gott, der Arzt sagt ja ... Um Gotteswillen, wie steht's mit ihm?«

Lise antwortete und erhob sich nicht sogleich. Ihre Augen nahmen einen harten, fast bösen Ausdruck an. Schließlich stand sie aber auf, trat zur Tür hin und öffnete sie, doch nur halb und den Eintritt versperrend.

»Aber was denn?« Fast herrschte sie die Schwiegermutter an.

»Ich muß, muß ihn sehen, es ist ja unmöglich, das zu ertragen!«

Die alte Dame machte einen Versuch, in die Kammer einzutreten.

»I nein, nein, ich kann Sie jetzt nicht zu ihm lassen«, sagte Lise aber mit Entschiedenheit. »Es ist unmöglich, daß Sie jetzt hereinkommen.«

»Aber um Gottes willen, so sag' doch wenigstens ...«

Lise stieß ein kurzes Lachen hervor.

»Er schläft«, sagte sie. »Es wird gut. – Er hat die Krise überstanden. – Aber er darf jetzt nicht gestört werden.«

Sie drückte die Tür ins Schloß.

Eine Zeitlang vernahm sie im Nebenraum noch ein leises Geräusch. Dann hörte sie die Schwiegermutter flüstern, bis sich endlich langsam sich entfernende Schritte vernehmen ließen, draußen die Tür ging und alles wieder still war.

»Sie hat gebetet«, flüsterte sie vor sich hin.


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