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19.

Zum dritten Male entschied seines Schicksals Waage für das Leben. Dank wieder der aufopfernden Pflege seiner Mutter, die, besonders wieder in den Tagen der Krise, Tag und Nacht nicht von seinem Bett wich und all ihre robuste Lebenskraft für den kleinen, übrigens diesmal recht ungeduldigen und unruhigen Patienten einsetzte.

Doch litt Mutter es diesmal, daß Großmama sich mit ihr in die Pflege teilte, und es war für Tom eine wunderbare Freude, zu gewahren, daß Mutter und Großmama Frieden miteinander geschlossen hatten und sie zum ersten Male einander wirklich rücksichts- und liebevoll begegneten.

Nachdem er diese Staupe, dank auch seiner guten, fehlerfreien Konstitution und seiner ungewöhnlich regen, so innig, tief und beständig mit tausend Fäden dem Leben verknüpften Bewußtseinskräfte, die mit gewissen ihrer besonders drastischen Äußerungen selbst dem Arzt, und gerade in der schwersten Zeit der Krankheit, Freude, ja Vergnügen gemacht und seine gute Zuversicht nie ganz hatten sinken lassen, bestanden hatte, kam er bald wieder zu Kräften. Er war wieder ein gut Stück gewachsen, und die Krankheit schien alle Unregelmäßigkeiten, welche die vorhergegangenen bösen Monate und ihre Erschütterungen ihm verursacht, gründlich ausgeworfen und ausgeglichen zu haben.

Und doch war eine sehr wichtige Veränderung mit ihm vor sich gegangen. Eine Veränderung, von der seine Angehörigen freilich nichts ahnten, da er sich niemand gegenüber über sie aussprach, ja ihrer ganzen Natur nach auch nicht aussprechen konnte. Zum ersten Male erfuhr er in seinem Leben mit wirklicher Bewußtheit, daß wir unsere wichtigsten Angelegenheiten mit uns selbst auszumachen haben, und zum ersten Male gelangte es ihm zum Bewußtsein, daß er mehr als irgendeines seiner Geschwister oder sonst ein Mensch seiner Umgebung einsam war.

Kennzeichnend für diese Veränderung war ein merkwürdiger Einfall, auf den er eines Tages kam. Schon lange war er gewohnt gewesen, gelegentlich kleine Aufsätze zu schreiben, in welchen er schlecht und recht, wie's ihm in die Feder kam, über seine täglichen Erlebnisse oder die Eindrücke, die er auf seinen Jungensstreifereien erfuhr, berichtete. Anregung dazu mochte ihm wohl gegeben haben, wenn er Detlev und Karl ihre Schularbeiten machen sah. Rosalie, auch Großmama und Onkel Anton hatten sich dann auch für diese Übungen interessiert, sie hier und da korrigiert oder mit ihm über den Inhalt gesprochen.

Im Anschluß nun wohl an diese Aufsätze hatte er jetzt ein paar Bogen Papier zurechtgeschnitten, sie in einen alten Buchdeckel eingeheftet und sich auf solche Weise ein Tagebuch hergestellt, in das er regelmäßige Eintragungen machte. Das merkwürdige war aber, daß er diese Eintragungen niemand zeigte und auch zu niemand von ihnen sprach. Er hatte das Heft unter einem großen Schrank versteckt, der ausrangiert auf dem Bodenflur stand und um den sich kein Mensch weiter mehr bekümmerte. Von Zeit zu Zeit stahl er sich dort hinauf, zog das Heft hervor und machte, in der dämmerigen, staubigen Ecke hockend, mit einem Bleistift in einer sauberen, steilen Handschrift, die schön klar ausgebildete Haar- und Grundstriche, hier und da wohl auch eine kräftiger übergeworfene Schleife hatte, seine Eintragungen.

Es fanden sich in dem Heft Stellen wie folgende:

»Die Naumannsche ist nicht gut zu Mutter. Sie will immer nur möglichst viel von Mutter geschenkt kriegen und tut nur so, als ob sie zu Mutter gut wäre. Aber ich habe selber gehört, wie Oswald Bruhns Mutter zu Bruno Bruhns gesagt hat, daß die Naumannsche über Mutter klatscht. Auch über Großmama klatscht sie. Aber das Tollste ist, daß die Naumannsche, die bei Bruhns in der Nähe wohnt, und die Bruhns miteinander über Mutter und Großmama klatschen.«

»Ich habe auf dem Markt, als Wochenmarkt war, eine Frau gesehen, die ging im bloßen Kopf und hatte drei dicke, große, nackte Fleischbuckel auf dem Kopfe, die durch solches dünnes, glattes Haar durchsahen. Das sah so eklig aus.«

»Wie kann Großmama der Frau Bruhns immer alles glauben? Wo Frau Bruhns doch so falsch ist? Jetzt hat es Großmama aber selber eingesehen, und sie darf nicht mehr zu ihr kommen.«

»Mutter sagt, Kinder sollen tun, was die Erwachsenen ihnen sagen, und sie sollen immer gut sein und nichts Schlechtes tun, daß der liebe Gott einen nicht straft. Aber die Erwachsenen tun selber vieles, was nicht richtig ist, und wofür die Kinder Strafe kriegen, wenn sie's tun. Tante Sannchen ißt so viel Kuchen und Bonbons, wenn sie bei Großmama zu Besuch ist, und sie spricht oft auch so viel Komisches, was gar keinen Sinn hat. Wenn Kinder aber so viel Kuchen und Bonbons essen, dann werden sie ausgezankt. Es ist so komisch, daß Tante Sannchen so viel süße Sachen ißt, manchmal aber, wenn Tante Sannchen nicht da ist, macht Großmama sich darüber lustig; wenn sie aber da ist, sagt Großmama nichts und läßt sie so viel essen.«

»Es ist so gemein, wie die Jungens in der Schule Herrn Wachsmuth in der Singestunde ärgern. Wenn ein Lied gesungen wird, dann miauen sie auf der letzten Bank wie die Katzen, auf der vorletzten bellen sie wie die Hunde, auf der drittletzten pfeifen sie und in der Mitte wird gebrummt, nur auf den vordersten Bänken singen sie ordentlich. Das tun die Jungens aber, weil Herr Wachsmuth so gut ist und keinen haut und nicht schimpft. Herr Wachsmuth steigt dann jedesmal aufs Katheder 'nauf und steht ganz still da und guckt vor sich hin und ist leichenblaß, und sein Mund wird ganz blau und zuckt. Er sagt aber nichts, weil er doch nicht rauskriegt, wer's gewesen ist. Und dabei wissen die Jungens, daß er auf der Brust krank ist und ihm der Ärger schadet. Wenn dann aber wieder gesungen wird, dann machen sie's doch wieder so, und manchmal platzen sogar welche auf der hintersten Bank los und lachen ihn auch noch aus. Bei anderen Lehrern, die hauen, tun sie nichts, weil sie zu feig sind. Das ist eine Gemeinheit. Die Jungens sind Hunde.«

»Großmama hat in ihrem Schrank ein Gedichtbuch, das ist schwarz eingebunden wie ein Gesangbuch und vergoldet und ist von Lenau. Ich lese manchmal drin, aber es ist alles so traurig und dann werde ich traurig. Bei einem Gedicht hat Großmama aber ein schwarzes Seidenband hineingelegt und einen Bleistiftstrich an den Rand gemacht. Das Gedicht heißt: ›Das Begräbnis einer Bettlerin‹. Die ersten Verse kann ich auswendig, weil ich das Gedicht so oft gelesen habe, und sie heißen:

›Vier Männer dort, im schwarzen Kleid,
Die tragen auf der Bahre,
Lastträger ohne Lust und Leid,
Des Todes kalte Ware.

Sie eilen mit dem toten Leib
Hinaus zum Ort der Ruhe.
Schlaf wohl, du armes Bettelweib,
In deiner morschen Truhe.

Dir folgt kein Mensch zum Glockenklang
Mit weinenden Gebärden,
Die Not nur blieb dir treu so lang
Von dir noch was auf Erden.‹

Ich weiß ganz genau, daß Großmama mit dem armen Bettelweib sich selber meint, weil sie oft traurig ist. Aber warum ist sie traurig, wo ich sie doch so lieb habe, und wo sie doch gar kein Bettelweib ist, ich weiß gar nicht, was sie damit meint; denn auch Großpapa und Vater und Onkel Anton haben sie doch lieb?«

So war mit ihm eine Veränderung vor sich gegangen, die für seine Entwicklung wohl die Gefahr einer frühzeitigen Zerrissenheit hätte einschließen können.

Doch war es auffallend, daß er sich in dieser Zeit wieder mit Vorliebe in der Nähe seiner Mutter aufhielt. Wenn Mutter, wie es vorkam, nachmittags mit einer Handarbeit im Wohnzimmer oder auf ihrem Lieblingsplatz in der Küche saß, so konnte es geschehen, daß er sich still abseits ihr gegenübersetzte und sie nicht aus dem Auge ließ. Mit ernst versonnenem Ausdruck haftete sein Blick dann an ihrer Gestalt und den Bewegungen ihrer Hände, an der Aufmerksamkeit, die sie, ohne sich in ihrer Arbeit zu unterbrechen, in den Garten hinaus richtete, und er sagte dabei kein Wort, beobachtete sie nur immer.

Es geschah dann wohl, daß sie auf ihn aufmerksam wurde und mit einem kleinen Humor, vielleicht auch einer kleinen Verachtung, halb mit Unwillen und Sorge, halb aus Neugier fragte:

»Nun, du Kauz, was hockst du da so stumm? Schickt sich das für einen Jungen, so zu dösen?«

Aber dann sagte er mit einem sonderbaren Lächeln:

»Ach, nichts! Nur so! – Ich hab' meine Schularbeiten für morgen fertig.«

»Nun, wenn du nichts zu arbeiten hast, dann lauf' doch 'naus, tummle dich mit Detlev und Karl!«

Aber er merkte schon, daß sie nicht gerade drauf bestand, lachte und sagte:

»Ach, ich mag jetzt nicht.«

Sie schwieg dann und schenkte ihm, nachdem sie sich über seine Stimmung unterrichtet hatte, weiter keine Beachtung. Sie verstand wohl, daß es ihm gut tat, ein wenig bei ihr zu sitzen, und ließ es gut sein.

Aber dann konnte es plötzlich geschehen, daß er aufsprang und lachend oder singend nach echter Jungensart hinauslief und zu den Brüdern ins Freie ging, um mit ihnen zu spielen.

Zu Großmama kam er in dieser Zeit seltener. Freilich nahm der tägliche Schulbesuch, der Aufenthalt in der Schwimmanstalt, sein Umgang mit den Schulkameraden seine Zeit in Anspruch. Doch es kam hinzu, daß seine Empfindung für Großmama jetzt eine nicht ganz sichere war, zwischen Liebe und einer Nachdenklichkeit schwankte, deren Ergebnis wurde, daß seine Neigung eine weniger kindlich vertrauliche und dafür eine mehr respektvolle wurde. Als Großmama ihn aber eines Tages, als er bei ihr war, fragte: »Hast du denn Großmama nicht mehr lieb, daß du so selten zu ihr kommst, mein Tom?«, da hatte er sie leidenschaftlich umarmt und ihr beteuert, daß er sie sehr, sehr lieb habe.

Doch auch an den gemeinsamen Streifereien und Streichen mit den Kameraden beteiligte er sich jetzt seltener. Dafür trieb er sich oft allein umher, und zwar mit Vorliebe beim Strom und Hafen und in der Stadt.


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