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29.

»Wat för 'ne Montürung, Korb! Hast du eine Nordpolfahrt vor?« sagte Ralph, als sie Haus und Garten verlassen hatten und selbander die Straße hinaufschritten.

»Kann man bei dir ja nie wissen, ob nicht wirklich eine draus wird, Rau«, gab Tom lachend zurück.

»Nee, aber sag' mal! Möchtest du wirklich eine mitmachen, Korb?«

»Hast also doch was vor?«

»Ich? Nix – Ich habe nie was vor.«

»Ne wirkliche also? Oh, vielleicht? – Aber dann müßt' ich erst doch schon etwas Geographie und andere gute Dinge intus haben. Denn als gemeiner Matrose, weißt du, möcht' ich nun doch schon nicht mittun. Ich möchte sie machen, aber nicht mitmachen.«

Tom lachte. Es war ein kleiner freundschaftlicher Stich für Ralph in seiner Rede gewesen.

Ralph wandte das Gesicht zur Seite, kniff die Augen, beschrieb mit dem Arm eine weit ausgreifende, gleichsam etwas forthauende Geste, sagte aber nichts weiter.

Der Weg führte sie durch die Vorstadt zu dem Wiesengelände hinaus, wo Tom damals vor einigen Jahren mit Onkel Anton gewandert war und dieser ihm das Vergißmeinnicht ins Knopfloch gesteckt hatte, das Tom zur Erinnerung an jene Stunde aufbewahrte. Von hier aus gedachten sie, über das Dorf, wo er damals mit Onkel Anton zu Abend gegessen, einen großen Eichenforst, die Heinrichshorst, zu erreichen, der sich am Stromufer hinzog, um landeinwärts dann in einen meilenweit sich in das Land hineinziehenden alten Kiefernwald überzugehen. Der Eichenforst wuchs auf Schwemmland, das dann mit dem Kiefernwald in Sand- und Heideboden überging. Sie brauchten, obgleich geübte Fußgänger, drei tüchtige Stunden Weges, um die Heinrichshorst zu erreichen.

Als sie die Stadt hinter sich hatten und auf den Wiesen marschierten, zündeten sie sich die Pfeifen an und kamen jetzt erst ordentlich in Zug. Es herrschte eine für die Jahreszeit ungewöhnliche, stechende Hitze. Große, starr gewölbte weiße Wolkenballen standen um den Horizont herum. Mutter schien recht zu haben: es konnte im Laufe des Tages wohl noch ein tüchtiges Gewitter geben. Die Pfeifen nützten ihnen gegen die Mücken und Stechfliegen, die sich wie toll benahmen. Hin und wieder nahmen sie aus Toms geräumiger Flasche einen Schluck Wein.

Es wurde nicht viel geredet, jeder hing seinen Gedanken nach, wer »welche hatte«. Die Belästigung durch die Hitze, die um so empfindlicher war, als es hier auf den freien Wiesenflächen so gut wie keinen Schatten gab, wurde als selbstverständlich schweigend hingenommen. Ralph hatte jedoch seinen »Jottfried« so weit wie möglich offen, auch Kragen und Krawatte abgeknöpft und in die Hosentasche gestopft und sich vorn über der Brust auch noch das Hemd aufgeknöpft. Er fühlte sich für sein Teil »ganz auf seinem Jroschen«. Tom seinerseits war selbst jetzt seiner wunderlichen Eigenart nicht untreu geworden und trug seine Joppe von oben bis unten zugeknöpft.

Trotz der Hitze erreichten sie die Horst in weniger als drei Stunden, weil sie einen besonderen Ehrgeiz dareingesetzt hatten. Es war dreiviertel nach elf Uhr, als sie in dem am Rand der Horst gelegenen Dorfe Godendiek anlangten. Tom, der schon ahnte, was kommen würde, und für sein Teil auch damit einverstanden war, machte immerhin den Vorschlag, sie wollten im »Krug« erst eine tüchtige Mahlzeit nehmen, was sie dann auch taten. Er riß dabei das Zwanzigmarkstück an, das Vater ihm für die Partie zur Verfügung gestellt hatte.

Nachdem sie gegessen und noch eine halbe Stunde gerastet hatten, brachen sie aber los.

Sie hatten bis zur eigentlichen Horst noch eine Viertelstunde Weges. Als sie das Dorf eine gute Strecke hinter sich hatten, gelangten sie auf ein Terrain mit vielen, ziemlich großen, von Schilf und hohen Binsen eingefaßten Wasserkolken. Der zwischen diesen befindliche Boden zeigte einen üppig hohen Graswuchs und war von einer Buschwildnis bestanden. Dieses Terrain zog sich bis ziemlich dicht an die Horst heran und folgte ihr auf der einen Seite landeinwärts, auf der anderen bis gegen das Stromufer hin, wo es um eine Ecke herum die Horst noch weiter begleitete; doch so, daß zwischen ihm und dem Ufer noch ein Streif kahlen Sandes blieb.

Tom fühlte sich inmitten dieser weltfernen, üppig wilden Einsamkeit mit ihrem dumpfscharfen Ruch von all dem stehenden, sumpfigen Wasser und der zahllosen jungen Vegetation, angesichts der feierlich starren Eichenwand drüben, sogleich so glücklich außer aller gewohnten Ordnung seines Alltages, daß er sich an einer von Schilf und Binsen freien Stelle des nächsten Kolkes der Länge nach ins Gras warf und von dem Anblick der stillen, tiefen, braundunkelklaren Wasserfläche und ihres hundertfältigen Kleinlebens gefangennehmen ließ. Rau warf sich, mit dem Bauch nach unten, wortlos neben ihm gleichfalls ins Gras und starrte, das Gesicht zwischen den aufgestemmten Fäusten, ins Wasser.

Die tiefe, sommerheiße Stille schwirrte über dem Wasserspiegel, über Binsen, Schilf und Gräsern, und zwischen dem regungslosen, glänzig grünen, jungen Laub der Büsche bis in den blauen Azur hinauf im monotonen Rhythmus ihrer rastlosen, in sich selbst verharrenden Schwingungen, üppig und berauschend durchwürzt von den Duftungen des Chlorophylls all der wasserstrotzenden Vegetation. Eine Unke ließ ihr geheimnisvoll dumpfes Geläut vernehmen. Eine stille, wilde, friedliche Schauerlichkeit lag darin. Ab und zu stieß aus der tiefsten Tiefe seines Behagens hervor einer der großen, dicken, braunen, lichtgelbgestreiften Wasserfrösche in seiner Verborgenheit einen kurzen Quorrlaut aus, der in der hitzeschwirrenden Stille sofort wieder erstarb. Oder in einiger Entfernung stießen aus dem dichten Schilfwuchs mit lautem Gequak und kräftig schnurrendem Flügelschlag ein paar Wildenten auf, daß es einen lustigen kleinen Schreck gab. Hoch im blauen Himmel aber näherte sich drüben von der Eichenwand her mit schöngeschwungenen, ruhigen, großen Kreisen ein Bussard.

Auf dem Wasserspiegel huschte eine größere Insektenart mit flinken, dünnen Beinen, die winzige Grübchen in die Wasserfläche drückten, und Wasserspinnen hin und her, und mit wunderlich launig munterem Zickzack und unberechenbaren Kurven, oder plötzlich pfeilschnell geradlinig, kleine, glänzig schwarze Käfer. Von einer Stelle des Grundes stieg zwischen einer fetten, frischgrünen, kressigen Vegetation und seinen, schilfigen Gräsern steilgerade eine köstlich blinkende Schnur von silbernen Perlchen zur Oberfläche empor. Sie mochten von irgendwelchen Bewegungen eines unsichtbaren Getiers herrühren, das da unten unter der Vegetation des Grundes sein Wesen hatte. Große traubige Gebilde von feinster, rauchgrauer Färbung, deren weinbeerrunde Kugeln in der Mitte einen tiefebenholzschwarzen Kern hatten, waren an dem Rand des Kolkes hin zu sehen. An dem unteren, weißlichgrünen Teil eines Binsenschaftes hafteten kleine, schwarze, tritonartig gewundene Schnecken. Ab und zu gewahrte man einen der großen, braunen, hellgestreiften Frösche, der träg seine Stelle wechselte und damit für eine Sekunde Leben in die tiefe, traumhafte Starre da unten brachte. Metallisch blauglänzende Libellen, einzeln oder ein sich umspielendes Paar, oder ein im Liebesrausch innig ineinandergekrampftes, zogen ihre schnellen, zierlichen, unberechenbaren Zickzacklinien über den Kolkspiegel hin. Zuweilen fuhren sie bis dicht auf den Spiegel nieder, ihn für einen flüchtigen Moment streifend, um sich dann wieder hoch aufzuschwingen und hoch im zitternden Azur selig schimmernd zu verschwinden. Manchmal hörte man, wenn ein Paar sich umspielte, das leise, aber kräftige Schwirren ihrer florzart starren Flügel.

»Korb, hast du die Absicht, ewig hier zu liegen? Wenn ich hier noch lange 'neinglupe, wer' ich breejenklieterig un' versaufe. – Uf! Ich wer' mich lieber in die Elbe schmeißen. Du auch?«

»Wie?« Tom fuhr auf. »Ach so! – Natürlich!«

Sie sprangen in die Höhe und schritten zwischen den Kolken hin, wobei sie sich oft durch die Wildnis des Buschwerkes hindurchzwängen mußten, in schräger Linie auf die Ecke der Horst und das Ufer zu. Hier angelangt, verließen sie das Gebiet der Kolke und entledigten sich auf dem weißen Ufersand ihrer Kleidung.

Sie freuten sich für ein paar Augenblicke ihrer Nacktheit, die unter dem blauen Himmel und den feierlich starr aufgetürmten weißen Wolkengebilden in der Verklärung all dieser Überfülle von gleißender, schwirrender Sonne in bläulichen, rosigen und silbrigen Lichtern schimmerte, und trieben unter munterem Gelächter miteinander ihren Scherz, bis sie einen Anlauf nahmen und mit lauten, jauchzenden Schreien weit in die groß gleitende, im hohen Mittag glastende, endlos gebreitete Wasserfläche hineinstürmten, bis sie den Boden unter den Füßen verloren und losschwimmen konnten.

»Fein!« rief Tom, der sich, auf dem Rücken liegend, an einer Stelle hielt.

Ralph sah mit zwinkernden Augen zu ihm hinüber, sagte aber nichts, sondern ließ nur ein kurzes Lachen hören.

Sein Verhalten machte Tom nachdenklich. Es hätte, fand er, nicht drastischer den Unterschied ihrer Naturen kennzeichnen können.

»Gewiß, eigentlich hat er nicht unrecht«, dachte er. »Denn weshalb mach' ich ein Wesens davon? Warum sprech' ich's aus, daß es schön ist, hier im Wasser zu liegen? Sicher ist das hier nicht so mein Element wie das seine. – Aber doch: es spricht sich in seinem Verhalten immerhin ein gewisser Stumpfsinn aus. Ich glaube überhaupt, daß er weniger sein ›Element‹ als seine Kraft, seine Robustheit, seine Brutalität liebt. Es ist was auf dem Grund seines Wesens, das vielleicht gar etwas Taubes, Totes ist, etwas, was mich vielleicht, wenn ich daran denke, beunruhigt. – Sicher wird er ja mal eines Tages auf und davon gehen. Aber ich glaube, mehr von dieser tauben, toten Unruhe getrieben, die er schließlich selber nicht versteht. Ich glaube nicht, daß er den sicheren, lebendigen Trieb hat, etwas zu werden. Es ist immerhin möglich, daß er mal auf irgendeine Weise zugrunde geht.«

Heimlich betrachtete er Ralphs herrlichen athletischen Körper und den schon etwas allzu früh männlichreifen Ausdruck seines sonderbar regelmäßig schönen Gesichtes. Ein flüchtiges Unbehagen überkam ihn wie über etwas Unnatürliches. Um es abzuschütteln, wechselte er seine Lage und trieb mit schnellen, kräftigen Bewegungen unwillkürlich eine gute Strecke von Ralph ab.

Als sie sich sattgeschwommen hatten, legten sie sich ans höhere Ufer unter ein Gebüsch, um sich von Luft und Sonne trocknen zu lassen.

»Sag' mal, Korb! bist du übrigens schon mal bei einem Weibe gewesen?« fragte Ralph.

»Nein. – Warum?«

»Ach, nur so! – Dacht' ich! – Du hast so was, wirkst so nach Jungfer.«

»So. – Na, ich denke, es hat auch noch Zeit. – Zu was für einem Weibe sollt' ich gehen? In die Häuschen des ›Krummen Ellbogen‹? – Ich danke, mach' mir nichts draus. – Na, aber du? Nicht wahr?«

Ralph antwortete nicht sogleich.

»Natürlich!« sagte er endlich. »Dort« – er meinte die von Tom bezeichnete Gasse –, »und auch bei anderen Gelegenheiten. – Es fehlt mir nicht.«

»Und du benutzst es«, sagte Tom, ohne weiteres Interesse.

»I wo!«

Tom schwieg, brachte die Unterhaltung dann auf einen anderen Gegenstand.

Sobald sie trocken waren, sprang er, mitten aus dem Gespräch heraus, es ohne weiteres abbrechend, auf und kleidete sich an. Wieder hatte Ralph ihm das sonderbare Unbehagen verursacht.

Sie brachen auf. Beide Hände leger in den Hosentaschen gehängt, rannte Ralph unter einem lauten Jauchzen, dessen Echo von den Eichen her zurückhallte, zwischen den Kolken hin in die Horst hinein.

Tom, der ihm eine Weile nachgeblickt hatte, rannte ihm nach. Und nun nahm die Wanderung tatsächlich ihre beabsichtigte abenteuerliche Wendung, und es ging, ohne jede Rücksichtnahme auf Weg und Steg, aufs Geratewohl mitten in die Horst hinein. Selbst der Umstand, daß die Wolkengebirge sich am Horizont mittlerweile zu einer dunklen Wand zusammengeschoben hatten, die am Himmel heraufmollte, und daß das Sonnenlicht eine weißlichbleiche Schattierung bekam und die Schwüle nachgerade schon sehr unbehaglich stockte, machte ihnen keine weitere Sorge.

Das glänzige Unterholz, aus dem hier und da ein junger Eichensprößling emporgewachsen war – schon der Anblick erregte die Illusion des herb würzigen Duftes, den man genoß, wenn man solch lenzjunges Blatt zwischen den Fingern zerrieb –, bot sich als eine einzige zarte Masse von weißglänzenden Licht- und hauchfein bläulichen Schattenflecken, ganz aufgelöst seine Konturen in gleißendes Licht und zarte Farbe.

Die Horst bestand aus hohen, alten Eichen, die ihre knorrige, von dem Eindruck des jungen, noch bräunlich glänzigen Laubes freundlich verklärte Kraft in freien Abständen darboten, die breit ausgreifenden Kronen mit ruhig hingegebener Starrheit in die blauen, schwirrenden Lüfte hineingereckt. Zuweilen traf man auf einen besonders alten Baum, der seine Einsamkeit in weitem Umkreis gewahrt hatte und seinen monumentalen Anblick nach allen Seiten hin darbot. Sein Junglaub umgab wie mit einem Gürtel den obersten Wipfel, der erstorben seine noch mannsdicken, in herrlich kraftvoller Krümmung gewundenen Äste mit gigantischer Krausheit und majestätisch würdiger Todesstarre seltsam ins blaue Gleißen des Himmels hineinschob. Der grelle Schrei eines Hähers ließ sich vernehmen, um in der drückend schwülen Stille sogleich wieder zu ersticken. Ein einzelner, kurzer Schrei. Das Tier mochte das in der Ferne sich auftürmende Gewitter fühlen.

Tom sah nach der Uhr. Es ging auf drei. Das Schwemmland, auf dem die Horst stand, zog sich, wie er sich zu Hause auf der Karte vergewissert hatte, seiner Tiefe nach eine Wegstunde vom Ufer landeinwärts, bis es in den Sandboden und den Kiefernforst überging. Sie durchquerten zwar die Horst so ziemlich in dieser Richtung, hatten aber, wie Tom überlegte, wenn sie in ganz gerader Richtung vorwärtsschritten, noch gut dreiviertel Stunde, bevor sie zu den Kiefern gelangten. Es war nicht gerade ein behaglicher Gedanke, von dem heraufziehenden Gewitter hier in der Horst überrascht zu werden. Um so weniger, als es sich sicher hierher und zum Strom heranziehen würde. Dann würde sich's aber über der Horst stauen und konnte recht lang andauern und schwer werden.

»Etwas schneller könnten wir schon zuschreiten, Rau!« mahnte er. »Und auch direkter durch. Ich glaube, es dauert keine halbe Stunde, dann geht's los. Dreiviertel Stunde haben wir noch bis zu den Kiefern. – Ich denke, wir lassen's uns lieber nicht hier in der Horst auf den Kopf kommen.«

»Hast du Angst, Korb?«

»Nicht gerade. – Aber es ist doch schon besser.«

»Ich möcht' es schon mal gerade so über mir losknallen lassen«, lachte Ralph und fuchtelte mit seinen weitausgreifenden Armbewegungen in der Luft herum. »Hast schon mal so was im Freien erlebt, Korb?«

Tom verneinte.

»Na also! – Aber wie du willst.«

»Es ist doch besser«, sagte Tom. »Zwischen den Kiefern wird sich's, denk' ich, ebensogut anhören. Wir werden dort höchstwahrscheinlich sowieso übernachten müssen. Denn wenn wir in der Richtung, die wir hier eingeschlagen haben, noch auf irgendeine Behausung oder gar auf ein Dorf liefen, wär's der reine Zufall. – Hoffentlich regnet sich das Gewitter nicht ein. – Sonst wär's mir überhaupt recht und würd' ich sowieso vorschlagen, im Wald zu übernachten. Wir haben ja Vollmond. Das wär' ganz schön.«

Sie nahmen ein Tempo, das Ralph, in militärischen Dingen gut beschlagen, »schärfstes Eilmarschtempo« nannte, und sie kamen dementsprechend vorwärts. Als sie solcherweise aber eine Viertelstunde zurückgelegt hatten, bekam das Licht der Sonne eine bleiern stumpfe Schattierung. Zwei Krähen hasteten lautlos in der Richtung zum Strom über die Wipfel der Eichen hin an ihnen vorbei. Der Umstand, daß es nur die zwei waren, vertiefte die bange Starre des Waldes noch mehr. Einzig das leise sickernd kluckende Geräusch eines unsichtbaren Wässerleins, das in der Nähe seinen Weg zum Strom hin nehmen mochte, unterbrach die stockende Stille, und ab und zu das jähe Krachen dürren Reisigs, das ihre Schuhs zertraten, oder das Rauschen und Rascheln des Unterholzes, durch das sie sich, um die möglichst direkte Richtung einzuhalten, hindurchwinden mußten.

Sie waren aber kaum zehn Minuten weitergekommen, als in der Ferne leise der erste einzelne Donner aufgrollte. Es hörte sich an wie das Geräusch einer sich in sehr weiter Ferne ereignenden kurzen Explosion. In Abständen wiederholte sich dies Geräusch, fing an schärfer und deutlicher zu werden, länger anzuhalten. Sie kamen mit einemmal zum Bewußtsein, daß das Sonnenlicht erloschen war und der Himmel sich bezogen hatte.

Die alten Eichen ragten starr und düster, noch lautlos in fahler Trübnis, in der es doch noch wie eine leise Ahnung des verschwundenen Sonnenlichtes war. Eine Strecke hin hielten die höchsten Wipfel sogar noch einen letzten gelben Glanz, der in der Trübnis etwas Grelles, Stechendes hatte. Plötzlich aber verschwand, wie fortgewischt, auch der.

Noch immer fern rollte jetzt mit kräftigem Getöse ein diesmal länger anhaltender Donner. Dann blieb es für noch ein paar bangste, drückendste Minuten still. Dann aber erhob sich ein fernes, monotones Brausen. Das Brausen kam näher und näher, und schon war pfeifend ein straffes, wirbelndes Sausen um sie und umbrüllte sie ohrenbetäubend rings in aller Nähe und Ferne das Donnergetöse der Horst.

»Na ja, da geht's los!« rief Tom. »Du kommst auf deine Rechnung!«

Die tosende Einöde umgab sie mit einem trüben Spätnachmittagsdunkel, aus dem die jetzt schwarzen alten Baumriesen und das sturmübergebogene, gespenstisch fahle Untergehölz, das ein ununterbrochenes Schallen, Rasseln, Zischen, Pfeifen und Heulen war, sich hervorhoben. Schwarze Stücke, große und kleine, von morschem Reisig, sausten über sie hin und um sie her und wirbelnd emporgefegtes vorjähriges Laub. Manchmal brach mit einem lauten Krach ein schwerer Ast hernieder. Und jetzt tauchte der erste Blitz den Wald in sein grelles Licht. Kaum ein paar Sekunden drauf schmetterte ein furchtbarer, anhaltender Donner. Sein greller Laut verriet, daß es ein Schlag war.

Unwillkürlich zwinkerte Tom mit den Augen.

»Wir haben noch gut zehn Minuten bis zu den Kiefern; wenn wir überhaupt wirklich ganz direkte Richtung haben«, überlegte er.

»Schön, Korb! Schön! Was?« jauchzte Ralph in das fürchterliche, sinnenverwirrende Getöse hinein und hieb in seiner Ekstase vor sich hin.

Tom antwortete nicht. Aber er dachte im stillen, daß Ralph ihm so gefiele, und daß er doch nicht ohne Grund Freundschaft mit ihm geschlossen hatte.

Doch jetzt war es schier Nacht um sie her geworden. Ein fürchterlicher, wolkenbruchartiger Regen toste auf sie nieder. Und nun folgte Blitz auf Blitz, und das Gedröhn des Forstes ging über in das fast ununterbrochene Getös und Schmettern des Donners. Sie konnten jetzt auch deutlich das schreckliche, blendende Zickzack der Blitze sehen, das die ganze Weite vom dunklen Himmel bis zur Erde her überspannte. Und mehr als einmal kündete ein grelles Schmettern, daß es irgendwo eingeschlagen hatte.

Obschon er seine Haltung bewahrte, war Tom doch bleich geworden.

»Nur gut, daß es so regnet, daß es kein trockenes Gewitter geworden ist«, dachte er.

Freilich waren sie naß bis auf die Haut. Ralphs »Jottfried« war tiefschwarz, und Tom fühlte, wie ihm selbst trotz seiner Lodenjoppe das Wasser am bloßen Leibe herunterlief.

Sie mochten sich noch fünf Minuten weiter vorwärtsgearbeitet haben – Tom drängte zu möglichster Eile –, als Tom beim Glast eines Blitzes in einiger Entfernung vor sich zwischen den weit auseinanderstehenden Eichen hindurch eine dunkle Wand mit fahlen, graurötlichen Längsstreifen drin wahrnahm.

»Gott sei Dank!« dachte er. »Die Kiefern!«

Zwei Minuten später rannten sie über eine breite Schneise in den Kiefernforst hinein. Tom atmete denn doch auf, daß sie aus dem gefährlichen Revier der Eichen heraus waren.

Eine warme, kienduftdurchwürzte Luft empfing sie. Da die dichtstehenden Kiefern mit ihren breiten Pinienkronen oben die gröbste Gewalt des Regengusses abhielten, hatten sie es hier doch ein wenig besser. Ihre Eile hemmend, schritten sie, zunächst noch weiter aufs Geratewohl, in das nächtige Dunkel des Forstes hinein, über sich das monotone, vom schmetternden Krachen des Donners zerrissene Gedröhn der Kronen. Noch immer in ziemlich rascher Aufeinanderfolge erhellte sich die Nacht vom grellen Glast der Blitze. Doch bedachte Tom, daß sich das Gewitter nun doch schon beim Strom gestaut haben müßte, und daß sie seine gröbste Gewalt hier nicht mehr auszustehen hatten.

Unwillkürlich benutzten sie das Licht der Blitze, um nach irgendeinem Unterschlupf gegen den Regen auszuspähen. Als sie aber eine gute Strecke zugeschritten waren und in eine Art von Mulde hinabkamen, fanden sie einen. Gelegentlich vom Sturm gefällt, lag eine riesige alte Kiefer am Hange, die, mit den Wurzeln losgerissen, ein umfangreiches Schutzdach von Erde bot, das eine Art von Höhle überragte, in der es trockenen Boden gab.

»Thalatta, Rau!« rief Tom erfreut, sprang in die Höhle und richtete sich in ihr ein, während Ralph ihm nachfolgte.

Sie hatten ihre Munterkeit wiedergewonnen. Nachdem sie einen ordentlichen Schluck aus der Flasche genommen, setzten sie ihre Pfeifen in Brand, rauchten, plauderten und sahen dem Gewitter zu und in die blitzerhellten Waldtiefen hinein. Es war gekommen, wie Tom vermutet: Das Unwetter hatte sich am Strom gestaut und hielt, wenn auch nachher sich merkbar abschwächend, ein paar Stunden an. Als Tom beim Schein eines Zündhölzchens nach der Zeit sah, war es gegen sieben Uhr. Der Regen fiel noch immer, aber nur noch schwach. Es stand wohl zu erwarten, daß das Wetter sich später noch aufhellen werde und daß sie Mondschein haben würden. Aber sie durften feststellen, daß die Partie nun doch eine »Nordpolfahrt« geworden war.

Da sie naß bis auf die Haut waren und es ihnen mit der Zeit hier in ihrer Erdhöhle ungemütlich wurde, machten sie sich, sobald der Regen nachgelassen hatte, wieder auf den Weg.

»Wir kommen hier immer weiter vom Strom ab in den Wald hinein«, sagte Tom nach einiger Zeit und blieb stehen. »Daß wir uns gründlich verlaufen, ist klar. Das Beste wär' vielleicht, wir suchten nach Godendiek zurückzukommen.«

»Magst du nicht mehr, Korb?« lachte Ralph.

So entschlossen sie sich also, die »Nordpolfahrt« fortzusetzen.

Die Dunkelheit war hereingebrochen, als sie auf eine breite, grasbewachsene Schneise gelangten. Sie konnten hier erkennen, daß der Himmel sich aufklärte. Zwischen weißen, ziehenden Wolkendünsten zeigten sich weite, klare Strecken, in denen Sterne flimmerten. Sie verrieten, daß hinter dem Gewölk der Mond schien und daß man, sobald die Dünste sich noch mehr verzogen, den herrlichsten Mondschein haben würde. Es war nach dem überstandenen Graus des Unwetters ein so wohltuender Eindruck, diese mondklaren, freien Himmelsstellen zu sehen, daß auch Tom jetzt erst recht Lust bekam, eine Nacht im Walde zu verleben. Sie kamen überein, gar nicht erst nach einer Wegverbindung zu suchen, sondern im Wald zu übernachten und alles weitere dem nächsten Morgen zu überlassen.


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