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18.

Tom hatte weder zu Mutter, noch zu Großmama, noch sonst jemand von dem Traum gesprochen; und schon das war ein Anzeichen, daß dieser eine besondere, nachhaltige Einwirkung auf sein Wesen zu üben angefangen hatte. Denn er behielt diesen Traum von nun an ein für allemal bis in all seine Einzelheiten hinein in der Erinnerung.

Im übrigen hatte er, trotz des Verhaltens, das er Großmama gegenüber gezeigt, als er wieder aufgewacht war, weder für Großmama noch für Mutter innerlich Partei genommen. Er hatte gar wohl verstanden, daß ihr Streit sich um ihn gehandelt hatte, und das war auf der Stelle für ihn gleichbedeutend gewesen mit einem Schuldgefühl. In seinen späteren, reiferen Jahren, als er dem Rätsel der menschlichen Seele und seiner eigenen bewußter gegenüberstand, dachte er oft über diesen Umstand nach, ein Nachdenken, das Zeit seines Lebens nie ohne eine besondere Frucht für ihn blieb. Jenes Gefühl von Schuld, das sein empfindende Menschen überhaupt zu haben pflegen, wenn sie Gegenstand eines leidenschaftlichen Gespräches sind, gleichviel, in welchem Sinne es geführt wird.

Vor allem hatte er aber sofort ein unmittelbares Verständnis für das gehabt, was Mutter Großmama da, ohne es direkt auszusprechen, über seinen Zustand und eine gewisse Ursache desselben, in einer Weise aber, mit einem zornigen Vorwurf angedeutet hatte, in dem doch so viel Sorge, ja Angst, Angst sich verraten, daß er sofort den lebhaften Widerwillen, den Oswald Bruhns ihm im weiteren Fortgang ihres Verkehrs erregt hatte, nicht nur bekräftigt fühlte, sondern daß ihm auch jetzt erst zum Bewußtsein kam, wie ernst die Folgen seines Umganges mit Oswald für ihn hätten werden können. Nichts hätte dem Knaben nach dieser Richtung einen heftigeren und radikaler heilsamen Schreck mitteilen können, als der Auftritt zwischen den beiden Frauen.

Daher kam es dann aber auch, daß er ein so lebhaftes Bedürfnis gefühlt hatte, so schnell wie möglich gerade wieder bei Mutter zu sein und zu ihr seine Zuflucht zu nehmen; nicht nur aus dem unmittelbaren Zusammengehörigkeitsgefühl von Kind und Mutter, sondern auch aus dem Verständnis dafür, daß Mutter ihn schon damals dem Tode entrissen, und daß zwischen ihm und ihr damit eine unlösbare tiefe Verbindung bestand. Doch nur in solchem Sinne hatte er für Mutter »Partei ergriffen«; im übrigen aber wurde etwas anderes für den weiteren Fortgang seiner Entwicklung von Wichtigkeit.

Wie in allen Zufällen seines Lebens, selbst in Fällen von lebhafter Freude, Schreck und, selbst äußerster, Gefahr war Tom auch unter jenem Fieberanfall, eine so unerträgliche Glut er auch zu erdulden gehabt und so eisiger Frost ihn auch gebeutelt hatte, keinen Augenblick ohne sein vollstes Bewußtsein und die seltsame, reife Fähigkeit gewesen, wie den eigenen Zustand, so auch das, was in seiner Umgebung vor sich ging, mit einem seinen und eindringlichen Wahrnehmungsvermögen aufzunehmen, zu behalten und zu werten.

Hundert Fragen und Beobachtungen hatte der Zwist der beiden Frauen und sein Ausgang in ihm erregt. Warum hatte Mutter sich so dicht vor Großmama hingestellt und so leise zu ihr gesprochen und doch ordentlich auf sie losgezischt, so daß man hatte merken können, wie furchtbar böse sie auf sie war? Und obgleich sie bloß so gezischt hatte, hatte er doch jedes Wort verstehen können. Und warum war Großmama so still geblieben und hatte bloß immer Mutter sprechen lassen? Und warum hatte Mutter, obgleich sie doch so böse war, so laut »Mutterchen!« geschrien und mit einemmal so aufgeweint? Warum hatten sie nicht daran gedacht, daß er doch gar nicht schliefe, sondern alles mit anhörte? Wie kam es überhaupt und war's möglich, daß Mutter und Großmama sich so miteinander zanken konnten? Noch niemals hatte er zu Hause oder gar bei Großmama einen solchen Zank und überhaupt Zank erlebt; nur Detlev und Karl und er, auch manchmal er selber, zankten sich und schrien; aber doch nur weil sie noch klein und zu dumm waren, und außerdem schadete das weiter nicht, weil sie sich nachher ja doch wieder vertrugen und im Grunde einander lieb hatten, weil sie doch Geschwister waren. Und warum hatte Mutter Großmama nachher, wie Großmama umgefallen war – er hatte solch furchtbare Angst gehabt, weil er gedacht hatte, Großmama wäre mit einemmal gestorben –, umarmt und geweint und so zärtliche Worte zu ihr gesprochen, wo sie doch zuerst so bös zu ihr gewesen war? Hatte Mutter vielleicht Angst gehabt, Großpapa oder wer anders könnte hereinkommen, oder Großmama könnte es, wenn sie wieder zu sich kam, Großpapa oder Vater erzählen? Ja, auch der gemeine Gedanke war ihm gekommen.

Aber dann war Großmama, als sie wieder zu sich gekommen war, so sonderbar gewesen, so still, hatte gar nichts gesagt und war zur Tür hingerannt. Warum war sie zur Tür hingerannt, und warum wollte sie fortlaufen und wohin, was wollte sie tun? Wollte sie fort und niemals wiederkommen? Oder wollte sie sich gar etwas antun? Und warum wollte sie das? Warum verteidigte sie sich nicht gegen Mutter, warum war sie so sonderbar still? Wo sie doch gar nichts getan hatte, gar nichts dafür konnte, daß er das Wechselfieber hatte? Aber sie hatte damals ja Oswald eingeladen. Und dann war es so sonderbar gewesen, daß Großmama hinten der Zopf heruntergehangen hatte. Noch nie hatte er sie so gesehen. Aber er hatte sich gewundert, daß sie noch so viel schönes Haar hatte, während Tante Sannchen doch schon falsches hatte.

Aber zuletzt hatte Großmama Mutter ja ihre Hand nehmen lassen, und Mutter hatte ihre Hand geküßt. Und nachher war Großmama wieder so ruhig gewesen wie immer. Er war darüber so froh gewesen. Nur angegriffen war sie noch. Nachher aber, als er aufgewacht war, hatte sie ja bei ihm gesessen und war so lieb und gut zu ihm gewesen. Und doch hatte er sich fremd zu ihr gefühlt und war ihm so merkwürdig zumute gewesen. Sonderbarerweise hatte ihm Mutter nachher am meisten leid getan. Aber Großmama hatte ihm auch leid getan. Aber als Mutter nachher so still 'nausgegangen war, da hätte er am liebsten weinen und ihr nachrufen mögen, sie sollte ihn mitnehmen. Doch hatte er an Großmama gedacht und wie betrübt sie sein würde, wenn er das getan hätte. Erschreckt hatte es ihn aber, und ganz betroffen hatte es ihn gemacht, als Mutter gesagt hatte, Großmutter dächte wohl, er sei nicht ihr Kind. Er war mit einemmal darüber so betroffen gewesen, daß er ja immer so viel bei Großmama war, während sie sich um Detlev und Karl und die anderen Geschwister gar nicht so viel kümmerte. Er hatte sich nicht nur mit einemmal darüber geschämt, sondern sogar ein wunderliches, fremdes Gefühl gegen Großmama gehabt. Obgleich er sofort überlegt hatte, wie gut Großmama war, und daß nur sie ihn recht verstand, und selbst Onkel Anton ihn nicht so gut verstand wie sie. Und auch an die feineren seelischen Beziehungen, die zwischen Großmama und ihm bestanden, hatte er sich erinnert; wie damals, als sie die Mondscheinsonate gespielt und er seine Lieblingsstelle vor sich hingesungen und Großmama ihn mit einemmal an sich gezogen und ihn geküßt hatte; ein Geschehnis, das sich die Jahre her tief in sein Gedächtnis eingesenkt hatte.

Doch dann war das alles ineinandergegangen in die Erschöpfung des Schlafes und in diesen sonderbaren Traum.

Ein paar Tage nach diesem für ihn so schrecklichen und zugleich innerlich so folgenreichen Fiebertage hatte Tom sich dann, nach wie vor nicht recht wohlauf, für sich gehalten, war selbst nicht zu Großmama gegangen und hatte sich nur immer mit seinen Gedanken herumgetragen. Dann aber stürzten ihn all die seelischen und auch leiblichen Erregungen, welche die letzten Monate über auf seinen Organismus eingestürmt waren und ihn bis ins innerste Mark seines jungen Lebens erschüttert hatten, in ein schweres Scharlachfieber. Da dies sich nachher aber noch komplizierte, so war er ein volles Vierteljahr lang ans Zimmer und den größeren Teil dieser Zeit ans Bett gebunden. Und zum dritten Male stellte sein Schicksal ihn an den Rand des Todes.


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