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14.

Der Erlaubnis der Frau Kommerzienrat entsprechend, kam Oswald von da an manchmal Tom besuchen. Immer in seinem blauen Sonntagsanzug, einem sauberen Hemdkragen und ein braunes Krawattchen vorgebunden.

Er enttäuschte Tom jedoch, weil er die Gitarre nicht mitbrachte, da sie, wie er sich entschuldigte, zu groß wäre. Dafür vergaß er aber niemals seine Maultrommel, ein größeres, schönes Instrument mit einem Glockenspiel oben drauf. Wenn er auf ihr spielte, so klangen die blanken Glöckchen sehr lieblich dazwischen, was Tom ausnehmend gefiel. Meist spielte er Volkslieder, Schullieder und Operettenmelodien. Auf Toms Wunsch hatte er auch dessen Lieblingslied »Weißt du, wieviel Sternlein stehen?« gespielt, was er mit großem Geschick und gutem musikalischen Gehör, auch nicht ohne Empfindung getan. Durch den letzteren Umstand fühlte Tom sich sofort berührt.

Einmal war's aber geschehen, daß er einen Gassenhauer gespielt hatte. Hätte er selber darüber gelacht oder sich nach anderer Jungen Art ausgelassen dabei benommen, würde Tom vielleicht keinen Anstoß daran genommen haben. So aber fühlte er sich sofort befremdet und hatte flüchtig einen unangenehmen Eindruck von Oswald.

»Was war das für ein Lied, das du da gespielt hast?« sagte er. »Weißt du, solch Lied mag ich nicht, spiel' das doch nicht wieder.«

Oswald war verlegen geworden, hatte dann aber niemals wieder einen Gassenhauer gespielt.

Die beiden Knaben hatten auch ihre Spiele miteinander. Aber sie spielten nur mit Bleisoldaten, mit dem Baukasten oder Lotto, oder sie ließen auf Schienen einen aufgezogenen Eisenbahnzug fahren. Bei körperlichen Spielen jedoch, wie Haschen, Ballspielen, solchen, bei denen man sich tummeln mußte, die Tom manchmal in Anregung brachte, zeigte Oswald sich unlustig und ungeschickt, so daß Tom es damit aufgab.

Zuweilen zeichneten oder malten sie auch oder schnitten Zusammenstellbilderbogen aus, deren Stücke sie zusammenklebten, was Tom allerdings fast ganz dem darin sehr geschickten und akkuraten Oswald überließ.

In der ersten Zeit hatten sie ein paarmal in Großmamas Zimmer zusammensein dürfen, wobei allerdings die Maultrommel ausgeschlossen gewesen war. Meist spielten sie dann aber unten im Garten in einem kleinen, steinernen Gartenhaus. Manchmal waren sie aber auch im Hinterhaus beieinander.

Oswald hatte sich Toms Mutter gegenüber zwar sehr artig und bescheiden benommen, doch mochte Lise, die ein unüberwindliches Vorurteil gegen die Bruhnsleute hatte, ihn nur ungern. Aber sie ließ es dann doch angehen, weil er sich ja ganz nett benahm und so viele Geschicklichkeiten zeigte, von denen sie manchmal Belustigung erfuhr. Auch wollte sie der Sache wegen nicht gerade wieder mal mit der Schwiegermutter in einen offenen Zwist geraten.

Auch auf Detlev, der allerdings nun schon im zwölften Jahr stand, und auf Karl und die älteren der jüngeren Geschwister machte Oswald keinen besonderen Eindruck, und wohl auch nicht auf Rosalie. Er war den kräftigen, munteren Buben zu still und zurückhaltend, sie wußten nichts mit ihm anzufangen. Allerdings war ihnen ja aber auch Tom, der schon hübsch geläufig Französisch sprach – woran bei ihnen nicht zu denken war – und schon den ganzen Unterrichtsstoff der Vorbereitungsschule beherrschte, so daß er so gut wie gar nichts für die Schule zu arbeiten brauchte und schon hatte anfangen können, sich von Onkel Anton die Anfänge des Lateinischen beibringen zu lassen, zu »gelehrt«.

Eines Tages bereitete Oswald Tom eine Überraschung, die diesem, so gut sie gemeint, keine angenehme war.

Es verstand sich, daß er von seinen Besuchen bei Tom mancherlei Vorteil zog. Er bekam Spielsachen geschenkt, welche die Körberskinder nicht mehr mochten, auch dies und jenes abgelegte, aber noch gute Kleidungsstück, und, verstand sich, stets etwas Gutes zu essen und zu trinken, wobei er übrigens in aller Stille und Bescheidenheit einen vielleicht etwas zu guten Appetit entwickelte.

Er mochte nun wohl das Bedürfnis empfunden haben, sich erkenntlich zu erweisen: jedenfalls brachte er Tom eines Tages ein zierlich zusammengeklebtes Pappschächtelchen mit, das er selbst angefertigt hatte, und das er Tom bat, als Geschenk von ihm anzunehmen.

Tom aber war, als er das Schächtelchen entgegennahm, so unangenehm berührt, daß er zuerst ganz zu danken vergaß.

»Das ist ja so'n Schächtelchen wie oben auf dem Ofensims?« sagte er.

Noch bis zum heutigen Tage aber erinnerte er sich an seine verunglückte »Fahrt nach Indien« von damals, und bis zum heutigen Tage hatte er gegen die Gegenstände auf dem Ofensims eine Abneigung.

Mit der Zeit durfte er auch mitgehen, wenn Oswald kam, ihn zu einem Spaziergang abzuholen. Die Knaben streiften dann entweder in der Stadt umher, oder sie unternahmen, wozu die Anregung von Tom ausging, Abstecher nach den Stromwiesen, und es erwies sich dabei, daß auch Oswald Sinn für Natureindrücke hatte.

Es waren diese Abstecher, die eigentlich jetzt erst ihren Umgang zu einem vertrauteren machten. Zum erstenmal hatte Tom einen Freund gefunden, der noch für etwas anderes Sinn hatte, als bloß für wilde Spiele und Streiche und Raufereien, und dem er sich mitteilen konnte.

Er machte aber die Wahrnehmung, daß Oswald sich, wenn sie solcherweise außer Hause und mit sich allein waren, anders und ungezwungener gab. Auch geriet er, während er zu Hause stets auf sich achtete und ein richtiges Deutsch sprach, bei diesen Gelegenheiten öfters in die gemeine Sprechweise hinein, wie sie von den Leuten in den Winkelgassen der Stromgegend gesprochen wurde. Auch beobachtete Tom, daß Oswald über die Momente, wo Tom sich ihm an Kenntnissen und Urteilen überlegen zeigte – wobei sich's aber nicht bloß um Französisch und Latein handelte –, hinwegschwieg und zu etwas anderem, meist zu mehr praktischen Dingen und technischen Geschicklichkeiten überging, in denen er Tom weit überlegen war.

Es war da aber auch noch ein anderer Umstand. Während Tom nämlich, wie das bei solchen Knabenfreundschaften der Fall ist, Oswald in Augenblicken, wo er besondere Sympathie für ihn empfand, etwa den Arm um die Schultern legte oder seinen Arm einhenkte, erwiderte Oswald solche Zeichen der Freundschaft nicht nur nicht, sondern erwies sie Tom auch nicht aus freien Stücken.

Sonst aber hatten sie auf diesen Wanderungen eifrige Gespräche, in denen sie ihre Gedanken austauschten. Es geschah auch, daß Oswald Tom da draußen auf den Wiesen und in der Heide alles mögliche zeigte, Pflanzen, Tiere, Blumen, besonders schöne Flecke. Nicht so recht sagte Tom aber zu, daß er sich so ganz und gar nichts aus körperlichen Übungen machte.

»Hast du schwimmen gelernt?« fragte er ihn gelegentlich.

»Schwimmen? Nein. – Aber sogar die Matrosen können ja doch nicht schwimmen! Wozu braucht man denn das? Wenn sie auf dem Meere ins Wasser müssen, ziehn sie doch einfach 'n Schwimmgürtel über.«

»Aber wenn man nun jemand ertrinken sieht? Da ist es doch recht gut, wenn man schwimmen und ihn retten kann.«

Oswald schwieg.

»Aber du gehst doch in die Badeanstalt baden, nicht?«

»Ach nein! Das kostet doch Geld. Mutter kann mir kein Geld dazu geben.«

»Ach so!« dachte Tom. »Sie sind ja arme Leute.« Er hatte das Gespräch nicht weiter fortgesetzt.

Aber er fand es doch sonderbar, daß Oswald überhaupt keine Lust hatte, ins Wasser zu gehen, und daß er wie das Huhn, das Entchen ausgebrütet hat, dastand, Angst kriegte und Tom zurief, wenn der bei so einer Wanderung sich mal bei einer der Molen auszog, ins Wasser ging und lustig drin umherschwamm.

»Komm doch auch!« rief Tom ihm dann wohl zu. »Du kannst doch Schuh' und Strümpfe ausziehn und die Hosen in die Höhe streifen und ein bißchen im Wasser umherlaufen. – Es ist ganz schön warm, du erkältest dich nicht, und am Rande ist's auch gar nicht tief. – Mach' doch! Wenn du ertrinken willst, hol' ich dich raus!« hatte er hinzugefügt und gelacht.

Aber Oswald hatte ihm nicht geantwortet.

Wenn Tom dann aber nackend aus dem Wasser herauskam und sich bei der Mole, um sich von der Luft und der Sonne trocknen zu lassen, unterm Weidengestrüpp in den Sand setzte, dann stand Oswald gelangweilt da und betrachtete mit einem verlegenen Lächeln Toms nackten Körper, und es war, als ob er sich geniere.

Auch wenn Tom da draußen von all dem blauen Himmel, von Luft und Sonne und der schönen, grünen, bunten Weite berauscht in einer Anwandlung übermütiger Fröhlichkeit mal zum Spaß mit ihm raufen wollte, stand er bloß da steif wie ein Pfahl und lächelte blöde.

Tom fand das wohl alles etwas langweilig, sonderbar und komisch.

Obgleich Oswald Tom bis dahin noch nie einen äußeren Beweis seiner Freundschaft gegeben hatte, überraschte er ihn an einem herrlichen Herbstnachmittag draußen auf den Wiesen mit einem besonderen Einfall.

»Tom«, fing er mit einemmal nach einem Schweigen, das offenbar etwas Besonderes eingeleitet hatte, ernst und fast feierlich an. »Ich weiß nicht, ob auch du schon daran gedacht hast, daß wir doch Freunde sind.«

»Wie denn? Aber natürlich. Das weiß ich doch.«

Tom hatte ihn erstaunt angesehen und dann gelacht.

»Na ja, ich meine«, fuhr Oswald etwas irritiert fort. »Ach so! – Ja, ich meinte also: ob ... ob du ... Ich meine also: eigentlich haben wir uns doch das bis jetzt noch nie richtig gesagt und überhaupt noch nicht davon gesprochen.«

Tom schwieg. Er war ein wenig verlegen, und sah seitab in die Wolken hinein.

»Sieh mal! Ich meine ... Die Natur ist heute so schön, der Himmel ist so schön blau und überall sind so viele schöne Farben, und alles ist so schön und still und weihevoll.« Er sprach mit einer wunderlichen Tonart, als ob er etwas Auswendiggelerntes deklamierte. Tom fand das ein bißchen komisch; doch schämte er sich über den Gedanken, da Oswald ja das alles eigentlich ganz ernst meinte. »Da mein' ich also, das wäre so'n recht schöner Augenblick, daß wir den Beschluß fassen sollten, unserer Freundschaft ein Denkmal zu setzen.«

»Wie denn, ein Denkmal?« fragte Tom verwundert.

»Ja, sieh mal, ich denke, Tom«, fuhr Oswald immer in derselben steifen, wunderlich feierlichen Weise fort, »weil wir uns doch in allen Dingen so gut miteinander verstehen, und weil wir beide doch anders sind als die anderen Jungen, werden wir doch auch immer zusammenhalten und wird unsere Freundschaft für das ganze Leben dauern. Du weißt ja, daß es viele solche Freundschaften gegeben hat, die nachher sogar berühmt geworden sind.«

»Ja, Achill und Patroklus, Damon und Möros, Harmodios und Aristogeiton«, sagte Tom und sah wieder in die Wiesen hinein. »Aber wie denn, ein Denkmal?«

»Na ja, siehst du, ich habe also gedacht ...« Seine Kopfhaltung war noch vorgereckter als sonst, außerdem berührte es Tom ein wenig unangenehm, daß seine dicken Lippen manchmal ein sonderbares kleines Schmatzen hören ließen. »Ich habe gedacht, daß unsere Freundschaft doch genau so eine ist, und deshalb mein' ich: wir wollen uns das ausdrücklich bestätigen, indem wir ihr ein Denkmal setzen. – Und ich will dir gleich zeigen, wie ich das meine. – Wir wollen aber erst mal bis an die Mole dort gehen. – Dort ist es.«

Oswald bewahrte bis zu der Mole hin ein völliges Schweigen. Am Anfang der Mole stand aber, wer wußte durch welchen Zufall vormals dorthin geraten, dicht vor dem Weidengestrüpp eine prächtige, große, einsame Blutbuche, vor der er stehen blieb.

»Hier ist die Stelle«, sagte er, ohne Tom aber anzusehen, wieder in der feierlichen Weise.

»Ach, die Blutbuche!« sagte Tom, der sich zu interessieren anfing.

»Ja, paß nur auf. – Ich habe gedacht, daß die Blutbuche hier der rechte Ort für unser Freundschaftsdenkmal ist. Und ich habe gedacht, daß wir über unsere Freundschaft etwas Schriftliches aufsetzen, und dann das Datum und unsere Namen drunterschreiben, und dann das Blatt in solch Schächtelchen tun, wie ich dir eins gegeben habe, und daß wir das Schächtelchen dann hier unter der Blutbuche eingraben. Es ist dann doch schön, wenn wir später mal, wenn wir erwachsen sind, zusammen hierher gehen und das Schächtelchen ausgraben. – Es ist nun bloß die Frage, Tom, ob du auch das Gefühl hast, daß wir wirklich auch immer Freunde bleiben?«

»Ja, aber natürlich sind wir doch Freunde, Oswald?« sagte Tom.

»Na ja! Dann hast du's also ausgesprochen, und nun müssen wir uns die Hand drauf geben.«

Tom lachte und gab ihm die Hand.

»So, jetzt haben wir unsere Freundschaft ausdrücklich besiegelt.« – Er sagte »besiegelt«. – »Und nun hab' ich gedacht, daß du morgen nachmittag zu uns kommst« – Tom war noch nie bei den Bruhnsleuten gewesen – »und daß wir das Dokument da unterschreiben. – Ich hab' es nämlich schon geschrieben. Und dann tun wir's in das Schächtelchen und tragen's hierher und vergraben's.«

»Wenn's nun aber in der Erde naß wird und entzwei geht?«

»Oh, daran hab' ich doch schon gedacht. Erst legen wir das Loch mit Steinen und Sand aus, und dann wickeln wir das Schächtelchen noch in Gras ein und tun's zwischen die Steine.«

»Ach so! Ja!«


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