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6.

Jetzt, wo Tomchen sein drittes Jahr vollendet hatte, erinnerte sich auch die alte Frau Kommerzienrat wieder ihres Vorhabens, seine Erziehung in die Hand zu nehmen. Sie fand, daß Lise sich, abgesehen freilich von dem Umstand, daß sie wieder einer Entbindung entgegensah, ohnehin nicht mehr viel um den Kleinen kümmere und ihn, wie sie meinte, ebenso wie die beiden ersten, fast nur noch ganz Rosalie überließ. Sie glaubte darin wieder mal eine Bestätigung für ihre Auffassung sehen zu dürfen, daß Lises Muttertrieb ein vorwiegend »animalisch gerichteter« war, der für die feineren Bedürfnisse, vor allem die Gemütsbedürfnisse der Kinderseele, und ganz besonders dieser, kein Verständnis besäße. Vor allem aber argwöhnte sie, daß Lise Tomchen in einer bestimmten Hinsicht fremd gegenüberstehe, und daß der Kleine also um so dringender ihrer Liebe und Fürsorge bedürfe.

Sie liebte den Kleinen. Und diese Sympathie hatte sich mit seinem Gedeihen und Heranwachsen, und je deutlicher die Harbingschen Familienzüge an ihm zutage traten, immer entschiedener entwickelt.

Sie war seinerzeit mit ihrem Manne nicht gerade eine Neigungsehe eingegangen. Sie achtete den Kommerzienrat, dankte ihm die Rücksichten und Aufmerksamkeiten, die er ihr stets erwiesen hatte, hatte sich aber in der Körberschen Familie im Grunde immer isoliert gefühlt und ein Innenleben geführt, für das ihr Mann und seine Angehörigen nie Verständnis gehabt. Es kam hinzu, daß ihre Familie in den letzten Generationen zu ihrer mißlichen finanziellen Lage hinzu von mannigfachen und recht harten Schicksalsschlägen heimgesucht worden war. Einer ihrer Brüder, ein sehr begabter Offizier, war mitten im Aufstieg zu einer vielleicht ungewöhnlichen Karriere im Duell gefallen; ein anderer war das Herzeleid der Familie durch seine Leidenschaftlichkeit und seine romantischen Exzentrizitäten geworden, in denen sich eine geniale Intelligenz heillos zersplittert hatte; eine ihrer Schwestern war in eine unheilbare Gemütskrankheit gefallen, ihre beiden anderen Schwestern lebten, an Beamte verheiratet, schlecht und recht in eingeschränkten äußeren und auch sonst nicht gerade glücklichen Verhältnissen dahin.

Sie selbst hatte zu einer nicht gewöhnlichen Intelligenz und einer starkentwickelten Gemütsanlage den Hang zu mystisch pietistischer Frömmigkeit geerbt, die ihr zwar ihre lange, kindergesegnete Ehe hindurch Halt und Trost gewährt, aber auch die Lust an einer romantisch versetzten Melancholie genährt hatte. Das waren Eigenschaften, die zum Teil vielleicht auch im Zusammenhang standen mit einem Leberleiden, das sich mit den Jahren eingestellt und eine Gereiztheit ihres Wesens zur Folge gehabt, die zwar gegen die vorzüglichen Nerven, die Geduld, das Phlegma, den guten, robusten Humor und die stets rücksichtsvolle Verehrung ihres Gatten nicht ankam, die ihre Schwiegertochter aber manchmal um so gründlicher zu bestehen hatte, als Lise ihnen einen »bäuerisch verstockten« Widerpart zu halten pflegte.

Vielleicht würde ihr Leben unter solchen Umständen gleichfalls einer ernstlicheren Krise zugedrängt haben, wenn nicht die gute Zähigkeit ihres sonstigen Wesens, ausgeprägte Willenskraft, ein entschiedener Tätigkeitstrieb und Wirtschaftlichkeit, wahre Gutherzigkeit, ein klarer Verstand, sichrer Instinkt für Form, Stolz und ein unter allen Umständen pietätsvoller Familiensinn gute Vorbeugungen gewesen wären, zu allem auch eine gewisse Anlage zu Munterkeit und gutem Humor. Es kam hinzu, daß sie im Grunde selber an ihrer Neigung zu heftigen Leidenschaftsausbrüchen litt, und daß sie aus ihrer Gutherzigkeit heraus an ihrem Manne und sogar an Lise wieder gutmachte, was sie gelegentlich von ihr auszustehen hatten.

Nun aber hatte Gott ihr dies Kind geschenkt.

Aus fremdem Boden hatte ihr Name einen neuen Sproß getrieben, als wolle er wunderbarlich aus aller Müdigkeit und all dem Unglück seiner letzten Generationen hervor doch noch einmal eine vielleicht wirklich ungewöhnliche Frucht hervorbringen, eine neue, noch unverbrauchte Kraft offenbaren.

Vielleicht eine ganz ungewöhnliche?

Sie hatte, seit Tomchen vorhanden war, sogar ein gewisses Verhältnis zu ihrer Schwiegertochter gewonnen; das freilich von seiten Lises nicht ohne Mißtrauen erwidert wurde. Mit sorglicher Anteilnahme hatte sie sich, soweit sie nicht Gelegenheit besaß, ihre direkten Beobachtungen an dem Kinde zu machen, von Lise, neuerdings auch von Rosalie über die Entwicklung Tomchens berichten lassen. Lise hatte ihr bis ins Einzelste die Sache mit der Schlafzimmeruhr erzählen müssen – auch den Vorfall mit der »indischen Ecke« hatte Lise ihr berichtet –; die Zeichnung, die sie sich von Rosalie hatte geben lassen, bewahrte sie sorgsam auf.

So verfolgte sie das Heranwachsen des Kindes mit Stolz und Freude. Freilich anfangs auch mit einer gewissen Sorge. Denn so wenig wie Anton und Rosalie und jeder, der hier Verständnis und Interesse hatte, konnte sie sich gegen den oft bis zum Erschrecken seltsamen Eindruck verschließen, den all diese Anzeichen einer wohl aus dem Bereich des Normalen schlagenden Begabung verursachten. Sie hatte an ihren Bruder Edmund gedacht und an sein unseliges, genial zersplittertes Lebensschicksal, das in Elend und Zerrissenheit geendet. Doch hatte ihr Sohn Anton, auf dessen solides Wesen, Kenntnisse und Einsichten sie viel gab und geben durfte, sie in dieser Hinsicht beruhigt. Das Kind war kerngesund, kräftig und gedieh prächtig. Zu allem Überfluß hatte sie veranlaßt, daß das Gutachten eines tüchtigen Arztes eingeholt wurde, und auch von dieser Seite war sie vollkommen beruhigt worden.

Und so sollte es denn ja wohl wahr und möglich sein, daß Gott, nach all den Prüfungen, deren Kreuz er ihr auferlegt, ihr für den Abend ihres Lebens noch ein so großes Glück vorbehalten hatte, daß sie doch in aller Welt noch zu etwas und zu einer solchen Aufgabe gut sein sollte.

Eines Tages kam Rosalie mit Tomchen und einer neuen Zeichnung, die er angefertigt hatte und die wieder einen ganz erstaunlichen Fortschritt zeigte, in das große, alte Haus, und zum erstenmal eigentlich betrat es der Kleine. In einem Augenblick, wo die Aufmerksamkeit, die er da mit einemmal erregte, wohl schon auf seinen kleinen Ehrgeiz gewirkt und sein allen Eindrücken gegenüber so sein empfängliches Wesen, seine kleine, schon so ungewöhnlich entwickelte Bewußtheitlichkeit noch mehr erschlossen und wohl bereits zu einem neuen Auftrieb gebracht hatte.

Haus und Garten boten sich anders als sonst. Denn es war ein tiefverschneiter stiller Wintertag mit graubezogenem Himmel.

An Rosaliens Hand tappelte Tomchen den breiten Mittelweg hin, den Adolf, Kommerzienrats Hausdiener, von einem Haus zum anderen freigeschaufelt hatte. Auf jeder Seite war der Schnee zu einem Wall aufgeworfen, so hoch, daß Tomchen an ihm hinaufsah.

Er hatte ein gestricktes weißes Wollkäppchen auf, ein warmes, mit weichem, weißem Flaum besetztes Mäntelchen, weiße Gamaschen und warme Schuhchen an und nahm sich sehr schmuck, mobil und niedlich aus.

Vor ihnen hob sich mit seiner mächtigen Wand dunkel, ernst, stumm im grauen Winterlicht das alte Gebäude, um den Eingang herum hoch hinauf gespenstisch überkrallt von dem dunklen, kahlen Gerank der Kletterrosen. In der Mitte war der breite, torähnliche, oben runde Eingang, dessen massive Steineinfassung mit altertümlichen, wunderlich verschnörkelten Arabeskengewinden verziert war.

Auch die schwere, mit dicken Eisennägeln beschlagene Tür, die im Sommer, von den vielen Rosen umwuchert, immer freundlich offen stand, bot jetzt geschlossen einen finsteren, schwermütig öden Eindruck. Rosalie öffnete, und sie traten in den Hausflur ein.

In der guten Jahreszeit, vom Frühling bis in den Herbst, drang mit ihren freundlichen goldigen Spielen ungehindert die Sonne hinein, färbte sich still und lieblich mit den Reflexen von den bunten Glasscheiben über dem nach der Straße hinausführenden Portal, und lichtete das nüchtern ernste, kühle Grau des großen Flures mit einem zart violetten, rötlichen und lila Ton. Jetzt aber war es dunkel, grau und öde, so daß Tomchen ein bißchen ängstlich und nur durch Rosaliens Hand beruhigt das Mäulchen wie zum Weinen verzog und die Augen aufriß. Er fürchtete sich auch vor den beiden großen Steingestalten, die weiter nach vorn starr und stumm an der kahlen Wand standen und leise gespenstisch aus der Dämmerung hervortraten. Auch die alte Wendeltreppe mit dem mächtigen, schwärzlichbraunen, geschnitzten Holzgeländer und der ragende, mit Ornamenten verzierte große Bronzeleuchter unten an dem massiven Pfosten machten ihm bange, und der, weil die Gartentür nicht mehr den ganzen Tag über offen stand, dumpfe Ruch nach Staub und irgendeiner Chemikalie, der solchen alten Hausfluren eigentümlich ist.

Zögernd und unlustig klomm er neben Rosalie her, die, um ihn zu zerstreuen, beständig auf ihn einplauderte, die breiten, mit Tuchläufern überdeckten Stufen hinauf. Doch schließlich überwältigten ihn Stille, Dunkel und der sonderbare Widerhall von Rosaliens Stimme an den hohen, kahlen Wänden, er fing aus vollem Halse an zu weinen und wollte nicht weiter.

Aber da öffnete sich unweit der Treppenmündung auf dem großen Treppenflur eine Tür, es wurde hell, und mitten in dem weißen Taglichtschein, der auf den Flur herausfiel, stand in ihrem braunen Seidenkleide, ein Spitzenhäubchen auf dem dunklen Haar, die kleine, dunkle Gestalt Großmamas.

Um seine Aufmerksamkeit zu erregen und ihn aufzumuntern, hielt sie beide Arme weit ausgebreitet in die Höhe und rief lachend:

»Ah, wer kommt denn aber da, O'mama zu besuchen?«

Aber ihre Stimme mutierte dabei in solch einer gewissen Weise, und außerdem hatte sie noch das festzusammengeknüllte Taschentuch in der Hand, so daß Rosalie sogleich den Eindruck empfing, sie müsse eben erst geweint haben und freue sich jetzt lebhaft, durch Tomchens Ankunft eine Zerstreuung zu erfahren.

Tomchen war sofort still geworden und starrte mit großen Augen zu Großmama hinüber. Ein paarmal stieß ihn noch das Böckchen, aber schon erhellte sich sein Gesichtchen von einem Lächeln, und artig und vergnügt antwortete er: »Tomsen.«

»O du meine Güte! Tomchen! Wirklich, wirklich, unser Tom'sen.«

Unter einem herzlichen Kichern, daß sie zugleich hören ließ, um Tomchen damit Vergnügen zu machen und ihn vollends aufzuheitern, und, wie sie zu tun pflegte, wenn sie sich einmal so recht von Herzensgrunde wohl fühlte, mit einem Ausdruck von Schelmerei und Behagen die Handflächen mit flinken, kleinen Bewegungen aneinander reibend, kam sie zu Tomchen, der über ihr Gebaren jetzt wirklich lachte, hergehüpft, bückte sich hurtig zu ihm nieder und, »unser Tomchen! unser Herzchen! unser Liebling!« umfaßte sie ihn, drückte ihn mit beiden Armen an ihre Brust und küßte sein von der Winterfrische rosiges, lachendes Gesichtchen ab. Aber Rosalie nahm wahr, wie ihre Augen im stillen wirklich von zwei Tränen blinkten und in ihrer Stimme ein leises Weinen bebte.

Tomchen hielt diesen Liebkosungen stand, nur ein klein wenig von ihrer Heftigkeit erschreckt das Mäulchen und die Brauen verziehend, heiterte sich aber ganz auf, als Großmama jetzt mit ihm zu plaudern und ihn über seine kleinen Angelegenheiten auszufragen anfing, und gab ihr sogar Bescheid. Sie hatte sich wieder aufgerichtet, ihn bei der Hand genommen und schritt, beständig mit ihm plaudernd, ins Zimmer hinein, das sie mit seiner behaglichen Wärme empfing. Langsam folgte Rosalie ihr nach.

Das Zimmer sah auf einen großen Platz, nicht auf den Hausgarten hinaus. Die Wahl dieser Lage verriet vielleicht ein, sogar mit etwas raffinierter Umständlichkeit angebrachter, großer »Spion« an dem einen Fenster, vor dem, auf einem Podium, ein Polsterstuhl und ein Arbeitstischchen standen.

Der ziemlich große Raum, mit einem alten Biedermeier-Meublement ausgestattet, wäre, zumal in diesem still traulichen, gleichmäßig weißen Winterlicht, das von dem vielen Schnee draußen hereindrang, sehr gemütlich gewesen, wenn seine sehr hohen Wände, der weißgetünchte Plafond mit seiner schweren Stukkatur und die hohen Fenster ihm nicht eine etwas steife Feierlichkeit gegeben hätten. Außerdem machte die etwas zu lebhafte Freude, mit der die alte Dame Tomchen empfangen hatte, Rosalie befangen.

Die Frau Kommerzienrat hatte wirklich mal wieder einen ihrer schlimmen Tage gehabt. Von jeher litt sie an diesen mit dem Schicksal ihrer Familie und ihrer inneren Vereinsamung in Zusammenhang stehenden Gemütsverstimmungen. In früheren Jahren hatten sie sich gelegentlich bis zu Weinkrämpfen steigern können.

Sie nahm jetzt endlich aber, Tomchen im übrigen an der Hand behaltend, auch von Rosaliens Anwesenheit Notiz, und Rosalie sprach ihr von Tomchens neuester Zeichnung und überreichte sie ihr.

Die alte Dame war beim ersten Blick auf die Zeichnung so überrascht, daß sie Tomchen unwillkürlich losließ und mit beiden Händen nach dem Blatt griff, um es genauer zu betrachten. Der Kleine war seit seiner ersten zeichnerischen Leistung und der Bewunderung, die sie gefunden hatte, förmlich aufs Zeichnen versessen und hatte inzwischen wieder auffallende Fortschritte gemacht. Rosalie hatte ihm gelegentlich ein ganzes Pferd und einen Reiter drauf vorgezeichnet, und nun hatte er ihr das diesmal, zwar in seiner unbeholfenen Weise, aber mit einer so unmittelbaren Empfindung für Gestalt und Bewegung nachgeahmt, daß es wohl wieder einmal fast Betroffenheit erregen konnte.

Nachdem die Frau Kommerzienrat die Zeichnung lange Zeit betrachtet hatte, wandte sie sich gegen Tomchen herum. Doch der Kleine war inzwischen auf dem großen Teppich unhörbar zum Trumeau hingelaufen und jetzt gerade dabei, sich über die vielen kostbaren alten Porzellannippes herzumachen, die das Konsol um eine größere chinesische Pagode herum anfüllten.

Durch den Anblick auf der Stelle zerstreut und belustigt, zugleich doch nicht ohne eine kleine Besorgnis für diese Sammlung sehr wertvollen Altmeißners, huschte sie, Tomchen unter einem fröhlichen, halb erschreckten, kleinen Lachen anrufend, mit einer hurtigen, elastisch belebten Bewegung hinüber, ging zu ihm nieder in die Hocke und faßte fürsorglich und zugleich sofort auf des Kleinen Spiel eingehend, nach seinen dicken, aufs Geratewohl mitten in die Figuren hineingrapsenden Händchen, während sie zugleich mit ihm zu plaudern begann.

»Gehen Sie nur, Rosalie!« rief sie Rosalie lachend zu. »Lassen Sie ihn mir nur da. – Ich lasse ihn nachher schon zur rechten Zeit wieder hinüberbringen.«

Sie fühlte sich so grundglücklich, nach dem recht übel verbrachten Tage den kleinen Kerl da mit einem Male so ganz unvermutet bei sich zu haben. Sie schmeichelte ihn, der auf die Nippes ganz versessen war, als Rosalie gegangen, aus seinem Kappchen und Mäntelchen heraus, dann huschte sie, so recht behaglich vor sich hinkichernd, mit ihm wieder zu den Figuren hin.

Tomchen hatte sich inzwischen unterm Ausziehen aber auch für den großen Bücherschrank interessiert. Der war ein herrliches Kunstwerk von Möbelstück, über und über mit bunten Intarsien verziert, Arabesken, Blumen, Vögeln, Männchen und Frauchen, Tieren, hinter den Glasscheiben die vielen bunten und vergoldeten Bücherrücken. Einen Augenblick hatte er von Großmamas Hand ab mit verlangend ausgestrecktem Ärmchen zu dem Schranke hingestrebt, doch hatte er schließlich offenbar die Nippes in vorwiegender Erinnerung. Denn er blieb ruhig und gab auch seiner Aufmerksamkeit bald wieder die frühere Richtung.

Großmama aber raffte, als sie wieder beim Spiegel waren, mit beiden Händen, doch mit zierlich behutsamer Vorsicht, die Pagode und soviel sie von den Figuren halten konnte, vom Konsol weg und huschte, Tomchen auf solche Weise lockend, mit ihrer zierlichen Gestalt in diesem Augenblick selber einem munteren, hurtigen Mädel gleichend, die vielen Figuren gegen die Brust gedrückt, mitten ins Zimmer hinein, wo der Teppich seine freie Fläche bot.

Tomchen lachte sehr vergnügt auf und rannte eifrig hinter ihr her. Sie aber ließ sich geschwind und gelenk auf den Teppich nieder, und nun beschäftigte es Tomchen sofort, wie sie die Figuren eine nach der anderen aufstellte. Sie legte sich jetzt sogar, da ihr das Hocken etwas zu sauer werden wollte, lang und sagte, indem sie die Pagode ergriff und sie an eine besondere Stelle setzte:

»Siehst du, das hier ist die Prinzessin, Tomchen! Die Prinzessin!«

Als sie aber gar mit einem Male der Pagode an den den Kopf tippte, und die zu nicken anfing, machte er im ersten Moment zwar ein verdutztes Gesicht, gleich darauf aber schrie er vor Vergnügen und strampelte mit den Füßchen.

»Mach' ihr ein schön' Dienerchen, Tomchen! Wirf ihr ein Kußhändchen zu! Es ist ja die Prinzessin!« rief Großmama.

Das gefiel ihm. Er machte in einemfort drollige Dienerchen und zappelte mit den Händchen zu der Pagode hin.

»So! Siehst du?« Und jetzt nickt sie dir auch zu: danke. Tomchen, danke! Und willkommen! – Und nun ... Aber, halt! sie sitzt ja auf einem Thron und muß einen Baldachin haben«, unterbrach sie sich lachend. »Warte!«

Unter einem kleinen, lachenden Ächzer erhob sie sich und eilte zum Arbeitstischchen hin, wo an der Wand ein großer japanischer Fächer mit schönen, bunten Blumen auf einem schimmernden Goldgrund befestigt war. Tomchen, der jede ihrer Bewegungen verfolgte, sah, wie sie hurtig den Fächer von der Wand ablöste. Doch bevor sie mit ihm zurückkam, sah sie die Zeichnung, die sie vorhin auf das Tischchen gelegt hatte, noch einmal an, sprach leise etwas vor sich hin und streichelte sie; und dann erst kam sie, den Fächer weit entfaltet und Tomchen mit ihm zuwinkend, zurück, um sich wieder auf den Teppich niederzulassen, wo sie ihn hinter der Pagode aufstellte.

»So! Und nun hat die Prinzessin Empfang. – Zuerst kam Tomchen, und nun bekommt sie noch so, so viel Besuch!« rief sie.

Hier saß die Prinzessin auf ihrem prächtigen Thron, und nun kam ein Graf mit einer Perücke und einem Zopf hinten, mit einem goldbestickten bunten Schoßrock angetan, mit bunten Kniehosen und Wadenstrümpfen, Schnallenschuhen und einem Galanteriedegen unter dem einen Rockschoß vor, und machte vor der Prinzessin, die in einemfort gnädig mit dem Kopf nickte und lächelte, eine tiefe, zierliche Verbeugung. Und dann sagte er etwas ganz Erstaunliches, Wunderdinge, die Tomchen noch nie gehört hatte, und die er mit weit aufgerissenen Augen, Ohren und offenem Schnäuzchen aufnahm. Und dann kamen noch andere Herren und Damen, und ein Mohr und Schäfer und Schäferinnen und dicke, drollige Figuren, von denen Großmama alle möglichen lustigen und wunderlichen Dinge zu erzählen wußte oder sie die Figuren sagen ließ, wobei jede ihre besondere, manchmal hohe und zierliche, manchmal grobe und tiefe Stimme hatte. Und dann kam auch ein Miezekätzchen, das richtig miaute und schnurrte und sich, wie Großmama sagte, mit einem ganz hohen, krummen Buckel an der Prinzessin rieb und dabei den Schwanz steil in die Höhe richtete. Und dann kam ein scheckiges Hündchen, das wunderliche kleine goldene Blumen auf dem Fell hatte und richtig bellte, und dann ein schneeweißes Schäfchen, das »Bäh! Bäh!« machte.

Plötzlich aber lachte Tomchen, der Großmama zuletzt die ganze Zeit über nicht mehr aus den Augen gelassen hatte, laut, fröhlich und schelmisch auf. Es mochte ihm wohl Vergnügen machen und ihn vertraulich berühren, daß Großmama, gerade so wie er selbst oder Detlevchen oder Karlchen manchmal taten, so lang da auf dem Teppich lag und »Miau« und »Wauwau« und »Bäh« machte und mit all den drolligen Stimmen sprach, und mit einem Male kam er ganz ausgelassen zu ihr hingelaufen, fiel mit seinen Ärmchen und seinem ganzen dicken Körperchen über sie her, umklammerte sie und schmiegte sich lachend an sie an.

Sie aber drückte ihn an die Brust und küßte ihn unter lachenden Wonnetränen, im Innersten glücklich; denn noch nie war ihr von dem Kinde bisher eine so unmittelbare Bezeugung seiner Neigung geworden.

Sie fühlte, daß sie ihn sich von diesem Augenblick an gewonnen hatte.


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