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12.

Nach seinem sechsten Geburtstag bekam Tom, zusammen mit seinem Bruder Karl, Schwimmunterricht.

Detlev, der älteste, hatte bereits die rote Badehose, die man von dem Augenblicke an zu tragen berechtigt war, wo man ausgelernt hatte.

Da Tom für sein Alter ansehnlich groß, größer als Karl, außerdem gesund und kräftig und auch schon verständig genug dazu war, durfte man es wagen, ihn schon jetzt schwimmen lernen zu lassen. Sein Vater, der im stillen ein wenig der Ansicht war, Mama könnte ihn verweichlichen, und er erfahre auf alle Fälle eine gute Ablenkung von seinen sonstigen Beschäftigungen, hielt es für gut, daß Tom gleich zusammen mit Karl lernte, Lise aber war damit nur einverstanden.

Man schickte die beiden Knaben aber, wie vor ihnen schon Detlev, nicht in die städtische, sondern in die Militärschwimmanstalt, wie viele Familien in der Stadt mit ihren Kindern zu tun gewohnt waren. Die Zucht war hier zwar strenger und derber, aber um so solider und erfolgreicher.

Zu bestimmter Stunde wanderten Karl und Tom in der schönen Jahreszeit täglich ein gutes Ende am Stromufer hinunter bis gegen das Ende eines großen Werders hinaus, wo die Schwimmanstalt aus einem Weidendickicht hervor in den Strom hineinging.

Es war ein derber und oft genug unbändiger Verkehr, in den Tom da hineingeriet. Der erste zahlreichere und regelmäßigere Umgang mit seinen Altersgenossen und auch mit größeren Jungen, mit dem der Knabe in Berührung kam; alles Jungens, die den kernigen Schlag verrieten, dem sie entstammten.

Karl Körber zwinkerte jetzt bei Tisch zuweilen in seiner verhalten humorvollen Weise zu Tom hinüber und musterte ihn prüfend.

»Hat dich denn der Schwimmeister auch schon mal ordentlich Wasser schlucken lassen?« fragte er ihn eines Tages. Er interessierte sich dafür auch aus dem Grunde, weil der Schuft bis jetzt noch kein Wort hatte verlauten lassen, wie ihm das Schwimmen gefiele, und weil er meinte, das könne einen Haken haben.

»Ja«, antwortete Tom gehorsam, sagte aber nichts weiter und wurde rot, weil er gar wohl merkte, daß Vater sich über ihn lustig machte; doch auch, weil er wußte, daß er den Spott verdiente. Denn wirklich hatte ihn der ungewohnte Verkehr mit den wilden Bengels und ihre Neckereien, auch der derbe, kurz angebundene Humor der Soldaten und des Schwimmlehrers anfangs ängstlich gemacht. Ganz besonders hatte er auch Angst vor dem Augenblick gehabt, wo er an die Schwimmleine angeschnallt worden war; denn dabei wurde man allerdings meist erst mal gründlich getaucht und mußte Wasser schlucken.

Vaters Erkundigung hatte jetzt aber zur Folge, daß er diese Ängstlichkeit überwand. Außerdem fing er an, sich an den Verkehr in der Schwimmanstalt zu gewöhnen. Er wehrte sich auch gegen Neckereien, balgte sich gelegentlich mit den Jungens. Doch zeigte sich seine Sonderart darin, daß er eigentlich mit keinem von ihnen in einen näheren freundschaftlichen Umgang kam. Er hatte dazu wohl auch zuviel zu beobachten und Neues zu lernen, das ihn dann innerlich beschäftigte. Doch fing er an, ein herzhafter jungenhaftes Wesen zu zeigen, bekam braune Backen und festeres Fleisch.

Sehr gern schloß er sich auch dem neunjährigen Detlev an, der nun schon ein handfester Gymnasialsextaner war, und dem achtjährigen Karl, der die oberste Klasse der Vorbereitungsschule besuchte, wenn sie nach der Schwimmstunde mit den anderen manchmal über die Strombrücke noch einen Abstecher nach dem anderen Ufer unternahmen. Hier zog sich stundenlang ein Wiesengelände mit vereinzelten großen Bäumen und Baumgruppen und Gebüsch am Strom hin. Zum Wasser fiel es mit einer kahlen Sandstrecke ab, während es weiter ins Land hinein in Heide überging. Von der Sandstrecke aus aber gingen in gewissen Abständen große Steinmolen ins Wasser hinein, die gegen das Ufer hin mit dichtem Weidengestrüpp bestanden waren.

Das war eine neue Welt. Zum erstenmal in seinem Leben kam Tom so weit von Hause fort hinaus in die freie Natur. Der ihm ungewohnte Anblick des Geländes überwältigte ihn so, daß er sich die ersten Male möglichst in Detlevs und Karls Nähe hielt, was freilich seine Schwierigkeit hatte, weil die beiden im Eifer des Spieles bald hier, bald dort waren und sich nicht gerade immer um ihn bekümmerten. Aber er freute sich an den endlosen Wiesenflächen mit ihrem hohen Sommergras und vielen bunten Blumen, den Käfern, Schmetterlingen, Krähen, Elstern, Möwen und Kiebitzen, die's hier draußen gab, und an dem schönen Heideland, in das die Wiesen landeinwärts übergingen, und das in der Ferne von einem dunklen Waldstrich begrenzt wurde. Und noch nie hatte er so viel weiten Himmel gesehen. Er erinnerte sich gleich an Großmamas Erzählungen von den Ansiedlern, von Prärien und Urwäldern, und fand, wenn's auch nur deutsche Pappeln, Eschen und Gruppen hoher Büsche waren, die Patriarchenbäume und Baobabs in der schönen, weiten Freiheit wieder.

Sie spielten hier Haschen und Verstecken, auch Ball, Indianer, suchten das Revier nach allen möglichen Raritäten ab, hausten in dem Weidengestrüpp der Molen, wo sie sich freilich vor den Aufsehern in acht zu nehmen hatten, oder führten sonstige Streiche aus.

Doch blieb Tom, da er freilich von den anderen auch noch nicht recht für voll genommen wurde, nur Mitläufer. Im Grunde lebte er auch hier seine Welt für sich, vergnügte sich oft abseits von den Spielkameraden auf eigene Faust, machte seine besonderen Entdeckungen, nahm tausend feine, unverwischbare Eindrücke in sich auf, mit denen er sich selbst seinen Angehörigen nicht immer mitteilen konnte.

Manchmal unternahm die kleine Genossenschaft auch Streifereien in der Stadt, in den alten Straßen und Winkelgassen beim Strom, über die Werfte und Lagerstrecken hin, von denen sie sich ganz besonders angezogen fühlten; denn hier gab's meist die schönste Gelegenheit, etwas »auszufressen«.

Und es war so schön, wenn er jetzt abends mit Detlev und Karl, müde und doch die Seele von all den frischen, neuen Eindrücken erregt, und mit einem gründlichen Appetit nach Haus und in das Behagen des Kinderzimmers zurückkehrte. Und dann hatte er Rosalie jedesmal Wunderdinge zu erzählen.

Vater war der letzte, der die drei Jungens nicht gewähren ließ, wenn sie über ihren Abenteuern ihre Schularbeiten nicht gerade allzusehr vernachlässigten oder allzu wilde Streiche verbrachen. Auch Mutter machte kein Aufhebens, wenn sie manchmal auch eines allzu schlimmen Risses in Hose, Jacke und Strumpf wegen schalt oder auch mal ein paar Püffe und Katzenköpfe austeilte, oder gar damit drohte, es Vater zu sagen, wovor sie den größten Respekt hatten.

Außer etwa noch zu Rosalie sprach Tom sich nur Großmama über die Erlebnisse aus, die er bei diesen Streifereien hatte. Doch Großmama gegenüber in einer anderen Weise.

Er saß dann wohl, meist in den Spätnachmittagsstunden, wie bei den Gelegenheiten, wo sie ihm Geschichten erzählt hatte, vor ihr auf einem hochbeinigen, gepolsterten Schemel und sprach mit entbundenem Eifer drauflos. Zum erstenmal empfand er dabei jetzt bewußter, daß er sich nur Großmama mitteilen konnte, und daß einzig sie seine Vertraute war.

Mit Aufmerksamkeit hörte sie ihm zu, ging auf seine Berichte ein, urteilte, leitete hier und da zurecht, knüpfte eine Belehrung an. Es waren für sie die Stunden eines unsagbaren Glückes. Oft aber erlebte sie, jetzt auch unter diesen Erzählungen, wieder jene seltsame Betroffenheit, wenn nicht jenen Schreck wie vor der – oh, gottlob, aber guten, guten! – Dämonie eines ganz anderen, gleichsam alterslosen, seltsam tiefen, reifen Wesens, die in solchen Augenblicken aus der Seele des Knaben hervorbrach. Eine Dämonie von Eigenständigkeit und Einsamkeit, die das Schicksal dieses Kindes von seiner Geburt an zu sein schien. Und doch, gottlob, in einer Weise und glücklichen Schicksalsbestimmung, daß er nicht an ihr krankte, ihr an Leib und Seele gewachsen schien, als sei sie sein eigentlichstes Lebenselement.

Mit leuchtend verdunkelten Pupillen, in denen ein Ausdruck von Grauen, Andacht, Aufmerksamkeit, Stolz, Freude, Liebe und Fremdheit zugleich war, sah sie auf ihn nieder, beide Hände aus dem Sessel hervor, mit einem festen, wie schützenden Griff sein festgewordenes, luftgebräuntes Händchen haltend und es zuweilen pressend, und hörte ihm zu.

»Weißt du« – vor Eifer sagte er »Gro'ma« anstatt »Großmama« –, »da war doch mit einemmal solch schöner, großer Schmetterling, und ich bin immer hinter ihm hergerannt. Manchmal hatt' ich ihn fast schon, aber dann war er doch immer wieder weg. – Gerade wie ... Onkel Anton hat mir doch mal so'n Quecksilberkügelchen gezeigt. Er hatte 's auf den Tisch gelegt, und ich wollt' es haschen. Aber immer war's wieder weg. Und ich wollt' und wollt' es doch kriegen. Aber immer wieder fort. – Manchmal hatt' ich's schon zwischen den Fingern – ganz glatt und kühl war's –, aber dann war's doch wieder weg und lief über'n Tisch hin. Mal hatt' ich's und hob's in die Höhe und wollt' es Onkel Anton zeigen: aber schlupp! waren mit einemmal drei Kügelchen draus geworden, die wieder über'n Tisch hin liefen.«

Er lachte.

Das Erlebnis mit dem Quecksilberkügelchen war etwas, das er nicht wieder vergessen hatte, und womit er sich in seinen nachdenklichen Augenblicken immer wieder mal beschäftigte. Es konnte dabei vorkommen, daß er über Methoden nachsann, wie man so ein Ding ganz sicher fangen konnte. Es war auch schon längst geschehen, daß er das Kügelchen auf andere Dinge übertragen hatte, die sich schwer fassen ließen; sogar bereits auf geistige Dinge; z.B. wenn man sich auf ein Wort besann, das einem »auf der Zunge schwebte« und das man trotzdem nicht aussprechen konnte.

»Solch schöner Schwalbenschwanz war es, Gro'ma! Gelb, weiß, schwarz! Detlev hat mir gesagt, daß es einer war. – So schön in der Sonne! Oder manchmal in der Luft, im blauen Himmel. – Blau mag ich von allen Farben am liebsten. Himmelblau, Vergißmeinnicht. – Gro'ma, kann man das Kügelchen ...« Er unterbrach sich und lachte über sich selbst. »Ach nein, den Schmetterling nicht doch kriegen? Das nächste Mal will ich ein Netz mitnehmen. – Aber weil ich doch immer hinter ihm hergerannt war, war ich mit einemmal ganz allein. Detlev und Karl und alle waren weg. Und ich war bis in die Heide 'neingelaufen, immer hinter ihm her. Und da hatt' ich mit einemmal solche Angst und wußte gar nicht, wo ich war, und war wie verdreht. – Von der Stadt konnte man gar nichts mehr sehen, weil wir so weit in die Wiesen 'neingelaufen waren. Und dann waren auch Büsche und Kiefern davor. Und nun wußt' ich nicht, wie ich nach Hause kommen sollte. – Aber ich dachte, nach Hause werd' ich doch wieder kommen. Aber ich wußte doch nicht, wann? Und es war auch schon spät. Da hab' ich einen Strauß gepflückt, den wollt' ich Mutter mitbringen, daß sie Vater nichts sagen sollte. Und dann bin ich mit dem Strauß immerzu vorwärts gerannt. Aber mit einemmal kamen um die Kiefern herum Detlev und Karl mit den anderen Jungens. Sie hatten mich gesucht. Da hab' ich den Strauß wieder fortgeschmissen, weil ich'n nun doch nicht mehr brauchte.«

Es blieb eine Stille.

Großmama streichelte ihn leise über den Kopf hin.

»Großmama?«

»Was, Liebling?«

»Ich will morgen mittag mal zu Onkel Anton gehn. Er hat solche feinen Gläschen. Da ist immer so was Buntes, Gelbes oder Rotes oder Grünes oder Blaues drin, das kocht über einer Spiritusflamme. Manchmal aber, wenn das Feuer dann aus ist, sind solche schönen, weißen Blümchen, Sternchen und Schneeflöckchen drin.«

Sie verstand, daß er noch das Quecksilberkügelchen im Sinn hatte, daß er wohl auch draußen unterwegs über das Kügelchen nachgedacht, und daß das wieder mal eine Menge besonderer Gedanken bedeutete, die der eigentliche Hintergrund und die Veranlassung seiner Erzählung waren und die er nur nicht auszusprechen vermochte. Doch sie leuchteten aus seinen Augen, auf seinen geröteten Wangen, hatten aus dieser und jener seltsamen Unterbrechung seiner Rede hervorgesprochen.

Sie antwortete nicht. Doch verstand er sofort, daß sie nachdenklich war. Als sie sich aber langsam erhob und dem Klavierflügel zuschritt, freute er sich.

Sie öffnete den Flügel wirklich, sogar den Deckel stützte sie in die Höhe. Und dann setzte sie sich und fing an zu spielen.

Es war eine freie Phantasie nach Beethovens »Mondscheinsonate«. Tom kannte diese Musik, weil Großmama sie öfters spielte.

Leise, um sie nicht zu stören, kam er zum Flügel hin, lehnte sich gegen ihn und hörte zu, mit weiten Augen an Großmamas Gesicht hängend.

Er wartete auf eine bestimmte Stelle, die er sich gemerkt hatte und auswendig wußte. Als sie aber kam – ein magisch still stürmendes Schwingen durch endlose, dunkellichte Weiten und Tiefen von Welt und Nacht, mit der sicheren Allmacht eines Dranges und eines Verstehens und Erlebens, das deutlicher als Worte und Begriff – sang er plötzlich leise, vollkommen richtig die Stelle vor sich hin.

Die alte Dame unterbrach ihr Spiel und sah ihn an. Dann aber – fast wie beschwörend – wandte sie sich leidenschaftlich zu ihm hin, umfaßte und küßte ihn, und auch er drückte sich an Großmamas Brust und küßte sie.

Auf solche Äußerungen auch einer musikalischen Veranlagung hin erhielt er einige Zeit darauf auch seinen ersten Musikunterricht, den Großmama zunächst selbst übernahm, und den sie ihm gelegentlich erteilte. Auch hier zeigte er leichte Auffassung und machte Fortschritte.


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