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26.

Während Sibylle Klaus, auch von all ihren Vettern und Basen, am liebsten leiden mochte, konnte sie für Tom kein rechtes Verständnis gewinnen. Tom kam zwar, je häufiger er jetzt bei Wolframs war, aus seiner anfänglichen Befangenheit ihr gegenüber heraus, doch blieb sein Verhalten zu ihr ein ungleichmäßiges.

Aber es konnte geschehen, daß er bei den gemeinsamen Spielen und Unterhaltungen eine Munterkeit zeigte, die alle für ihn einnahm. Es war dann, als ob mit einemmal der Knabe die belebende Seele des Zusammenseins geworden wäre. Sibylle saß dann still auf ihrem Platz und sah mit großen Augen zu ihm hin. Sie war dann ganz ungewöhnlich schön. Manchmal, oder wohl immer, gewahrte Tom das, und dann hätte er, wie magnetisch von ihr angezogen, zu ihr hineilen und ihre Hand ergreifen mögen.

Doch Sibylle hatte selbst in solchen Augenblicken kein eigentliches Gefühl für ihn, vielmehr empfand sie ihren inneren Abstand zu ihm nur um so stärker. Es geschah auch kaum, daß sich ihre Gedanken mit ihm beschäftigten; obschon sie ihn sonst ganz gern mochte und auch ganz unbefangen mit ihm verkehrte. Aber sie hatte doch eher eine Art von Scheu vor ihm.

Eines Nachmittags gegen Ende November saß Tom mit ihr allein auf einer Gartenbank draußen auf der Veranda. Die Möbel waren schon entfernt, es stand nur noch die eine Bank da. Auf dem Estrich lagen mit ihrem lebhaften Karminrot noch ein paar letzte Blätter vom wilden Wein umher, dessen Ranken jetzt kahl von der Lattenüberdachung herniederhingen. Auf der breiten, weißgetünchten Brüstung aber lag, gerade vor Tom und Sibylle, ein großes Bündel Stiefmütterchen, die Wurzeln mit den braunen Erdklumpen dran nach außen, die Blüten, die sich mit ihrem samtig weichen, dunklen Violett von der weißen Tünche abhoben, nach innen. Der Garten bot sich in einem stillen, warmen Sonnenschein. Der Himmel zeigte ein aufgefrischtes, oben leuchtend tiefes Blau. Von Nordwest bewegten sich langsam weiße, rundgeballte Wolken über ihn hin. Die größeren hatten lichtgraue, die größten dunkler bläulichgraue Bäuche. In einiger Entfernung zog sich gegen die Windrichtung ein großer schwarzer Krähenschwarm ziemlich tief über die Gärten hin. Sein Gekrächz war deutlich zu vernehmen. Es klang munter erregt, wie es im Vorfrühling zu sein pflegt. Und einen ganz frühlingsmäßigen Eindruck bot auch das Treiben der Drosseln, die unter metallisch schrillen Trillerlauten mit ihren schwarzen Leibern und hurtig schlanken Bewegungen über die braune, umgegrabene Gartenerde und den kurzen, aber frisch wirkenden Rasen, durch Buschreisig und kahle Baumwipfel hinhuschten. Hier und da lachte noch der Farbfleck einer verspäteten Blume herüber. Vom Nachbargarten her ließ sich das unruhige Gegackel der Hühner vernehmen. Manchmal kreischte eins mit jenem mißtönigen Gekrächz auf, das einen Umschlag der Witterung zu verkünden pflegt. Vom anderen Nachbargarten her kam das Jauchzen von spielenden Kindern herüber, die sich an dem milden, sonnigen Wetter erfreuten.

Tom saß neben Sibylle, doch so, daß ein ziemlicher Zwischenraum zwischen ihnen war, ganz dem sonderbar wonnigen, ruhig wunschlosen Gefühl hingegeben, das ihre Nähe ihm mitteilte.

Aber es fiel ihm auf, wie sie dasaß. Aufrecht saß sie, fast die ganze Zeit ohne ihre Haltung zu verändern, etwas zu gerade hinten an die Bank gelehnt, beide Arme steif am Körper herunter, die Hände mit gespreizten Fingern nach außen gerichtet auf die Bank gestemmt, den schlanken, weißen Hals etwas nach vorn geneigt, und sah mit großen Augen vor sich hin in den Garten hinein. Die Beine hielt sie mit zierlich übereinandergelegten Füßen vor sich hingestreckt.

Die ganze Haltung schien zu verraten, daß sie, wenn nicht gern fortgegangen wäre, doch in diesem Augenblicke ebensogut wo anders hätte sein mögen, und daß sie weniger aus einem vertrauteren Gefühl als aus Höflichkeit neben Tom saß und sich mit ihm unterhielt.

Tom empfand das. In Klausens Nähe war sie nie so. Sie konnte dann bequem und munter vorgebeugt dasitzen, die Hände um das übergeschlagene Knie gefaltet, oder gar mit den Füßen zappelnd. Auch lachte sie dann öfters und sprach und gab es Klaus schlagfertig zurück, wenn der sie neckte.

Tom fühlte freilich, daß er sich mit ihr nicht über alles unterhalten konnte, daß er seine Worte und Gedanken auf ein Gebiet beschränken mußte, dem sie gewachsen und das meist etwas nüchtern war, aber das stimmte ihn niemals kritisch gegen sie.

»Sonderbares Wetter, nicht?« sagte er.

Sibylle sah ihn an. Sie nickte.

»Richtiges Frühlingswetter! – Wieviel Grad haben wir eigentlich?«

Mit einem halben Lachen wandte er sich, während er sich etwas von der Bank aufrichtete, dem Thermometer zu, das dicht neben dem Bankende über ihm an der Hauswand hing.

»Fünfzehn Grad Réaumur über Null!« las er ab. »Hast du gesehen?« fuhr er fort, während er sich wieder setzte und zu ihr hinsah; »die Haselbüsche hinten und die Springen haben Kätzchen und neue Knospen. Die von den Springen sind ganz dick und grün, als wollten sie jeden Augenblick aufbrechen!«

»Ja! Die Zwetschenbäume auch«, sagte Sibylle, ohne den Blick vom Garten abzuwenden.

»Wenn's so weiter geht, kriegen wir dies Jahr keinen Winter. – Das ist ein merkwürdiges Gefühl, gar nicht recht natürlich. – Ende November noch so warm, ordentlich sommerlich, Knospen an Büschen und Bäumen. – Es wäre schade, wenn's so bliebe. Wegen Weihnachten, nicht? Es ist sonst keine Weihnachtsstimmung. – Tüchtig eingeschneit muß die Welt sein, alles bretthart gefroren, Eiszapfen von den Dächern, der Schnee so hoch.« Er lachte und machte mit dem Arm eine Bewegung, um anzudeuten, wie hoch der Schnee liegen müsse, deren Richtung Sibylle fast ein klein wenig erschreckt verfolgte. »Ich möchte auch mal wieder so recht tüchtig Schlittschuh laufen. Die ganze Elbe müßte zufrieren. Und dann so stundenlang immer geradeaus den Strom 'nunter, drüben an den Wiesen hin, abends nachher im Mondschein. – Kannst du Schlittschuh laufen?«

»O ja. – Auf der Föhrde doch!« sagte Sibylle.

Tom sah sie nachdenklich an.

»Ach ja!« rief er dann. »Auf der Flensburger Föhrde. – Das ist natürlich noch schöner als hier auf der Elbe, die überhaupt nur selten mal ganz zufriert. – Nicht, es wär' schade, wenn wir keinen ordentlichen Winter bekämen?«

»Ach, er wird schon noch kommen. – Weihnachten vielleicht noch nicht. Aber Januar wird's schon Frost und Schnee geben. Vielleicht aber auch schon zu Weihnachten. Man kann ja nicht wissen, es kann mit einemmal kommen.«

»Vielleicht können wir dann alle zusammen Schlittschuh laufen«, sagte Tom, während ihm bei dem Gedanken das Herz klopfte.

Sibylle sah ihn an und lächelte verlegen. Aber dann sagte sie so halbhin: »Ja.«

Es blieb ein Schweigen.

»Nachher, im Januar, willst du ja aber nach Weimar«, nahm Tom die Unterhaltung wieder auf. »Freust du dich auf Weimar?«

»Ach – na ja. – Aber ich werde zuerst wohl Heimweh bekommen.«

»Ich möchte auch gern mal nach Weimar. – Goethe und Schiller haben ja dort gelebt. Man kann sich noch die Häuser besehen, wo sie gewohnt haben, und es soll drin noch alles so sein, wie's war, als sie lebten. – Wen magst du lieber: Schiller oder Goethe?«

»Ach, ich weiß doch nicht? – ›Freude, schöner Götterfunken‹, das ist schön.«

»Ich Goethe«, sagte Tom. »Goethe ist so ...« Aber er unterbrach sich und schwieg.

Es blieb wieder ein Schweigen.

»Da bin ich!«

Sie schraken beide gegen die Tür herum. Denn natürlich hatte Klaus wieder mal seine Stimme verstellt, um sie zu erschrecken. Er stand dicht neben Toms Bankende. Unhörbar war er aus dem Zimmer hervorgetreten. Er war oben im Arbeitszimmer der Brüder mit einer seiner naturwissenschaftlichen Arbeiten beschäftigt gewesen, hatte sie gerade fertig und war nun da.

»Hahaha! – Ich störe doch nicht?« sagte er, während er langsam nach vorn geschritten kam.

»Na, wie denn, stören?« lachte Sibylle.

»Weiß ich doch nicht?« schmunzelte er, ohne aber zu den beiden hinzusehen.

Er war zu dem Stiefmütterchenbündel hingetreten, in dessen Betrachtung er jetzt versunken schien. Er wandte Tom und Sibylle dabei den Rücken zu und hatte beide Hände tief in den Jackettaschen. Die eine bauschte sich dicker als die andere. Plötzlich aber wandte er sich um, hatte im Nu die Hand aus der Tasche und im nächsten Augenblick Sibylle etwas auf den Schoß geworfen.

Sibylle schrie laut auf, die Augen entsetzt auf ihren Schoß gerichtet, und fuhr in die Höhe.

Es war ein Frosch gewesen. Klaus hatte oben magnetische Experimente mit ihm gemacht, deren Ergebnisse er mit seiner gewohnten peinlichen Genauigkeit beobachtet und mit seiner winzigen, kalligraphisch deutlichen Handschrift in ein Heft eingetragen hatte.

»O pfui, das ist gemein!« rief Sibylle. »Nein, aber so was! Ein Frosch! – Pfui, wie eklig!«

Aber Tom nahm wahr, daß sie Klaus gar nicht im Ernst bös war, daß sie nur aus ihrem Schreck heraus auf ihn schalt. Klaus seinerseits hatte gar nichts weiter gesagt, hatte sie auch nicht, wie sonst, ausgelacht, er stand nur ruhig da und sah sie mit einem gutmütigen Lächeln an. Wie selten empfand Tom in diesem Augenblick, daß man Klaus gut sein müsse; und zugleich wie kaum bis daher, daß Klaus der ältere war.

Er sprang plötzlich auf und ging von den beiden fort mit schnellen Schritten in den Garten hinein bis zum vordersten Grasrundteil. Hier war ein frisch umgegrabenes Beet, halb schon mit Stiefmütterchen bepflanzt, während noch einige weitere Bündelchen von ihnen, die eingepflanzt werden sollten, und ein Pflanzstock daneben lagen.

Er hockte nieder, ergriff den Pflanzstock, nahm eins von den Stiefmütterchen und setzte es ein.

»Sogar den Frosch hat sie ihm nicht übelgenommen«, dachte er. »Ich kann nicht so witzig sein wie er, das ist mir nicht gegeben. Aber er hat solche Gabe. Das hat sie gern. Man muß ihm ja auch gut sein. – Mit ihm ist sie vertraulich, wenn ich aber fröhlich zu ihr bin, so versteht sie's nicht und bleibt fremd zu mir. – Weil sie eben anders ist als ich, und weil er besser zu ihr paßt. – Was das ist!«

Aber wie oft er auch von seiner Sehnsucht, in Sibylles Nähe zu sein, zu den Wolframs getrieben wurde, hatte er doch nicht gerade immer das Bedürfnis, sie zu sehen. Obgleich in dieser Sehnsucht eine Art von Schmerz war, so bedeutete selbst dieser Schmerz noch ein wunderliches Wohlgefühl, über das der Knabe nachdachte.

Es war ein so schönes, ruhiges Gefühl, das die in ihm sich regenden Kräfte und Anlagen jetzt zu einer Entfaltung brachte, die wieder nicht nur seine Angehörigen, sondern ihn selbst überraschte. Und es war gerade dieser Umstand, der ihm Sibylles Nähe auch wieder entbehrlich machen konnte.

Großmama hatte sich zu wundern, wie gewandt und mit welcher Munterkeit er seine gelegentlichen französischen Konversationen mit ihr übte.

Doch es gelangen ihm wichtigere Dinge. So kam es vor, daß er, wenn er gelegentlich mal in der Schummerstunde bei Großmama war, sich mit einemmal an den Flügel setzte und mit einem Ausdruck und einer Empfindung zu phantasieren anfing, daß Großmama sich förmlich betroffen fühlte.

»Es ist doch ganz merkwürdig«, sagte sie gelegentlich zu Anton. »Ich werde nicht daraus gescheit, was mit ihm vorgeht.«

Es kam auch vor, daß er spät abends noch in einer Ecke seiner Stube bei abgedämpfter Lampe saß und Gedichte schrieb oder Aufzeichnungen in sein Tagebuch machte.

Die auffallendste dieser Überraschungen ereignete sich aber, als er eines Tages bei Anton war.

»Du, Onkel Anton!« hatte er plötzlich, über den Atlas und eine Projektionskarte des Erdglobus gebeugt, gerufen. »Das ist doch sonderbar! Es gibt eigentlich gar nicht so viele Menschen auf der Erde! Eigentlich sogar weniger, als wirklich leben.« Er lachte. »Ich lache, aber ich mein' es ganz im Ernst.«

»So! Sieh mal! – Und wie meinst du das?«

»Ach, erstens gibt es ja viel mehr Wasser als Land. Außerdem kann aber das wenigste Land bewohnt werden. Denn da sind doch überall die großen Gebirge, dann Wüsten und Steppen und Seen. Und dann muß man doch auch bedenken, daß die Erdteile durch Wanderungen besiedelt worden sind, daß die Menschen doch nicht überall von selber entstanden. Und dann: durch Wanderung von einer bestimmten Stelle aus.«

»Von Norden, ja«, bestätigte Anton, Tom mit einer besonderen Nachdenklichkeit zuhörend.

»Ja, von Norden, wie du mir ja selber gesagt hast. – Also von der Nordpolrichtung her immer nach Süden.«

Er hatte unter seiner Rede weder seine Haltung verändert, noch den Blick von der Karte abgewandt und setzte die Fingerspitze jedesmal auf die Stelle, von der er sprach.

»Und dann wanderten sie«, fuhr er eifrig fort, »mit der Zeit südlich nach allen möglichen Richtungen hin, je nachdem sie sich festgesetzt und vermehrt hatten und sich dann weiter, nach den Seiten, hauptsächlich nach Osten, Asien, hin ausbreiteten. – Nun wart' mal!« zähmte er seinen Eifer und suchte die ihm zuströmenden Gedanken zu sammeln. »Nun hatten sie in Asien zwar sehr viel Platz, daß sie sich vermehren und dort weiter ausbreiten konnten und dort auch große Kulturen entstehen konnten; aber, sieh mal! sie konnten doch von dort dann nicht recht wieder in Europa eindringen. Sie brauchten's doch auch nicht, weil sie nachher in Südasien so viel Land hatten. Wenn sie dann später aber, wie die Mongolen, in Europa eindrangen, so wurden sie immer wieder zurückgeworfen und konnten sich nicht festsetzen. So blieben sie, weil sie's selber so wollten, und dann, weil sie nicht anders konnten, in Asien und konnten sich nicht immer weiter entwickeln als bis zu einer gewissen Stufe, wie die Inder und Chinesen. Wenn sie aber nicht in Europa eindringen und sich hier festsetzen konnten, so war der Grund davon, weil die Völker, die sich hier und um das Mittelmeer herum festgesetzt hatten, die edelsten Rassen waren. Erstens weil Europa doch nicht so viel rauhe Gebirge und Wüsten hat wie Asien, auch nicht so heiß war wie das tropische Asien, und weil sie sich deshalb besser entwickeln konnten. – Warte! Nun konnten aber die europäischen Völker die wertvollsten Kulturen entwickeln und außerdem auch von Europa aus überall vordringen, wohin sie wollten. So daß die Römer ja den ganzen damals bekannten Erdkreis erobern konnten. Nun konnten die Römer zwar noch nicht bis ganz nach Asien hinein und die Völker dort unterwerfen: aber sie waren ja doch auch noch nicht ganz so weit in der Kultur vorgeschritten. Aber dann kamen ja die Germanen, die die römische Kultur und vor allem das Christentum übernahmen. Und nun konnte sich die größte Kultur der Welt entfalten. Es wurde dann Amerika entdeckt, die Engländer bekamen Indien und gründeten ihr Weltreich, und jetzt wurde der ganze Erdkreis umspannt. – Wenn du nun aber sagtest, daß sich aus allen Völkern der Erde in Amerika eine neue Rasse entwickelt, dann ist doch die Rasse die Hauptsache. Die Rassen aber, aus denen sie entsteht, gelten dann nicht mehr. Und so gelten doch auch die asiatischen, afrikanischen und ganz und gar die wilden Völker nicht mehr, sondern nur die europäischen und christlichen. Die anderen sind ja natürlich auch Menschen; aber so mein' ich's: Es gibt also gar nicht so sehr viel Menschen auf der Erde.«

Es blieb ein Schweigen.

»Wo hast du das denn gelesen?« frug Anton endlich. Er hatte, ganz in seinen Gedanken, Tom unwillkürlich die Hand auf den Kopf gelegt. Tom sah zu ihm auf und lachte.

»Wo ich's gelesen habe? Ach, doch gar nicht! Es ist mir bloß so eingefallen, wenn ich die Karte besah.«

»So! – Na, manches davon ist gar nicht so übel«, sagte Anton, während er seine Hand langsam wieder von Toms Kopf entfernte.

Tom war jetzt auch oft auf ausgedehnteren, einsamen Wanderungen unterwegs, von denen er oft erst am späten Abend zurückkehrte.

Sibylle hatte mit ihrer Prophezeiung recht behalten: Anfang Dezember war erst ein starker Schneefall und nachher auch Frost eingetreten. Es hatte Gelegenheit zum Schlittschuhlaufen gegeben. Zwar hatte der Frost nicht hingereicht, den Strom zum Gefrieren zu bringen, aber da war ein tauber Arm, den er eine gute halbe Stunde in den Werder hineinschob, und der war zugefroren und bot eine prächtige Eisbahn zwischen alten Bäumen, Buschwerk und verschneiten Wiesen hin. Tom war schon, weil er hoffte, Sibylle anzutreffen, einige Male dorthin Schlittschuhlaufen gegangen – ein paarmal mit Detlev und Karl und ein paar von seinen jüngeren Geschwistern –, hatte aber weder Sibylle noch Klaus angetroffen, die eine nähere Gelegenheit in der westlichen Vorstadt benutzten.

Ganz besonders aber liebte er jene ausgedehnteren Wanderungen, die ihm jetzt eine Fülle von neuen Eindrücken und Gedanken boten und bei denen ihn Sibylles unsichtbare Gegenwart begleitete.

Meist lenkte er sich nach dem ihm schon vertrauten Wiesengelände des jenseitigen Stromufers hinaus.

Es waren klare Frostwettertage bei blauem Himmel. Die schräge Sonne warf lange, zart orangefarbene Reflexe, die in lichtbläuliche und violette übergingen, auf das makellos reine Weiß der endlosen Schneefläche. Die scharfe, aber reine Luft beizte ihm anfänglich Gesicht und Ohren, doch machte gerade das ihm Freude; auch wußte er, daß diese Unannehmlichkeit sich nachher verliert und daß man dann ein ganz angenehmes Gefühl in den Ohren hat. Auch das Vorwärtsstapfen durch den tiefen, knirschenden und quietschenden Schnee und die Anstrengung, die es erforderte, freuten ihn. Oder wenn er auf Strecken hin über dünne Eiskrusten mußte, die unter seinen Schuhen mit einem hellen, glasklaren Klirren zerbrachen.

Er hielt sich auf einem Wege, der dicht am Ufer hinführte und der in der guten Jahreszeit als Promenadenweg benutzt wurde. Einerseits war die Wanderung hier am bequemsten, vor allem aber hatte er den Blick über den Strom hin. Er war dabei auch an der Mole vorbeigekommen, wo die Blutbuche stand, unter der vor Jahren Oswald Bruhns mit ihm das Pappschächtelchen vergraben hatte. Es mochte von ihm wohl nicht mehr viel übrig sein.

Die flüchtige Verstimmung, welche die Erinnerung ihm verursachte, hielt den herrlichen, frischen Eindrücken nicht stand, die sich ihm ringsum boten. Und sie hielten der wundersamen, staunenden Empfindung nicht stand, daß sie innigst diesem tiefen, seltsamen Gefühl geeint waren und aus ihm sich entfalteten, das Sibylle ihm gab.

Die mächtige Fläche des Stromes war ihrer ganzen Ausdehnung nach mit großen, treibenden Eisschollen bedeckt, die in der Mitte unter zahllosen kleinen und kleinsten weißgrauen Schneebuckelchen ihre grünlichgelbe, von einem kristallig aufstarrenden weißgrauen Schneerand umgebene Oberfläche zeigten. In der Ferne, wo sie in eine Einheit übergingen, hoben sich all die zahllosen Schollen aus dicken, gelbbraunen Horizontdünsten mit einem weißlich phosphoreszierenden Grau ab und aus ihnen hervor, daß es ein angenehm grauslicher Anblick war in der weiten, winteröden Einsamkeit. Noch nie aber hatte Tom eine solche Empfindung für die ruhig machtvolle Kraft dieser allweiten, großen, gleitenden Bewegung gehabt. Noch nie war sie ihm so ganz ein starkes, freudevolles Kraftbewußtsein, ein so ruhig in sich gefaßtes Innengefühl gewesen.

Er war sich in den Momenten, wo diese Empfindung am stärksten war, Sibylles ganz unbewußt. Zugleich aber spürte der Knabe wohl auch die wunderliche Traurigkeit, die auf dem Grund dieses Erlebnisses war, und die doch Kraft und schöpferisch sich entfaltende Wonne. Manchmal, wenn er an solch eine große, weit in den Strom hineingehende Steinmole kam, blieb er stehen und gab sich ihrem Anblick hin. Das Weidengestrüpp, mit dem sie dort, wo sie in das Ufer überging, bestanden war, war durch einen Sturm, der in den letzten Tagen getobt hatte, vom Schnee befreit und starrte mit der roten und lichtgelben Wirrnis seiner Gerten aus dem weiten, dicken Weiß hervor. Hier und da konnte er auch die großen, scharfkantigen Steine und Blöcke wahrnehmen, an Stellen, die, dem Sturm besonders ausgesetzt, schneefrei waren. Der Schnee lag dann nur noch mit einer dünnen Wehe darüber, oder es hatte sich auch eine glatte Eiskruste drüberweg gebildet.

Herrlich aber war die rauhe Wirrnis der durch- und übereinandergeschobenen Schollen, welche die Strömung gegen die Mole an und zum Teil auf sie hinaufgestaut hatte. Man konnte hier ordentlich erkennen, wie mächtig sie waren. Manche hatten fast einen halben Meter dicke Ränder, deren glasgrüne, von kristallig hartangefrorenem, schmutzigweißem Schneestaube eingerahmte Fläche die Nachmittagssonne funkeln und glitzern machte.

Und was für eine Stille hier war! Nur die gluckenden und plätschernden Geräusche des Wassers unter den Schollen an das Steinwerk der Mole heran, zwischen den Schollen, das Knirschen, Scheuern und ruhige Rauschen, wenn sie im Vorwärtsgleiten sich aneinander rieben, die still mechanischen Änderungen in ihren Bewegungen, die sie sich gegenseitig verursachten. Manchmal wurde eine herumgedreht, oder sie schien stehenzubleiben, oder bekam einen Ruck nach rückwärts. Das sah in der Einsamkeit so seltsam lebendig aus. Oder das jähe Krachen, wenn eine neue Scholle auf die Mole aufgestaut wurde und andere, kleinere unter ihrer Wucht zerbarsten.

Tom war so gefesselt, daß er manchmal mit angehaltenem Atem, als könnte er hier in der Einsamkeit irgendein unsichtbar vorhandenes Wesen stören, oder als wollte er es beschleichen und belauschen, sich zwischen dem Weidengestrüpp hindurchwand und auf die Mole hinaustrat.

Und dann konnte er zwischen den beiden, wild starren, grünlichgelben und weißgrauen Wällen, welche die aufgestauten Schollen machten, vorsichtig über die glattgefrorenen Steine und Blöcke hin bis zum äußersten Ende der Mole, das von Schollen ganz verdeckt war, vordringen, so daß er nun mitten im großen, endlosen Gleiten des Eisganges stand.

Die machtvolle Eintönigkeit dieser Bewegung mit all ihren knirschenden, rieselnden, scheuernden, krachenden Lauten nahm ihn bis zu einem Grade und einer Grenze hin, wo er mit einem jähen kleinen Schreck aus der wunderlichen Empfindung erwachte, gänzlich in sie aufgegangen und sie selbst geworden zu sein.

Er begab sich wieder aufs Ufer zurück und stapfte weiter, noch tiefer in die weiße Öde hinein. Es war ein Gefühl von Bangigkeit und Stolz zugleich, daß er jetzt hier draußen die einzige lebendige Seele war. Denn es ereignete sich selbst nur selten, daß mal oben auf einem einsam emporstarrenden Zweig lautlos und wie in Betäubung die schwarze Gestalt einer Krähe hockte.

Doch dann der Augenblick, wo die freundlich zarten, orangefarbenen, bläulichen und violetten Töne auf der Schneefläche ausloschen. Sie wurde stumpf, der Himmel oben verblich, und es hatte den Anschein, als ob die gelblichbraunen Dünste, die rings den Horizont trübten, dichter wurden und sich näherten. Drüben aber über dem langhingezogenen, dunkel gewordenen Strich der Stadt lag eine grelle Abendröte, in die sich die Dächer, Giebel, Zinnen der Häuser und die Kirchtürme hineinzeichneten.

In der hereinbrechenden Abenddämmerung trat er dann den Heimweg an. Nach einer Weile konnte er, wenn er genau darauf achtete, schon ein paar größere Sterne unterscheiden. Sie waren in ihrer Höhe wie seine, diamantene Pünktchen. In der Gegend aber, wo in der Ferne der Hafen war, stand in einiger Höhe fein und licht der zunehmende Mond, und ein Stück über ihm ein schöner, großer, lichter Funkelstern, der sich fast selber wie ein kleiner Mond ausnahm.

Obgleich er gehörig müde war, war Tom gut zumute. Die Dunkelheit und der gespenstische Schimmer des Schnees machten ihm nicht bang. Er war wie hineingewühlt in ein wunderliches Heimgefühl.

Es geschah aber, daß er, wenn er zu Hause angelangt war und gegessen und getrunken und sich ausgeruht hatte, sich hinsetzte und noch schrieb. Niemand wußte, was.

Nachdem Sibylle im Januar nach Weimar abgereist war, traf er nur noch ein einziges Mal mit ihr zusammen. Und zwar unter merkwürdigen Umständen.

Da er viel zu tun hatte und seine Arbeiten gewissenhaft zu erledigen pflegte, war er, als er an jenem Tage bei der Arbeit saß, zuerst wie immer ganz bei der Sache gewesen. Mit einemmal aber hatte er es mit einer sonderbaren Unruhe bekommen. Er verwunderte sich, dachte nach, konnte aber keinen Grund für sie finden. Er setzte die Arbeit fort. Doch die Störung kam wieder, er war nicht mehr imstande, weiterzuarbeiten und gab einem unwiderstehlichen Trieb nach, nach seiner Mütze zu greifen und ins Freie zu laufen. Sobald er aber im Freien war, wurde er ruhig, schlenderte, jedoch gänzlich ziellos, durch die Straßen und gelangte zum Bahnhof. Hier stand er eine Weile und sah den Fahrgästen zu, die gerade in dichter Schar aus der Halle hervorströmten. Und plötzlich trat ihm Sibylle entgegen.

»Sibylle!« rief er, und das Herz pochte ihm bis in die Kehle.

Auch Sibylle zeigte sich überrascht. Sie freute sich nach der ersten Verwunderung und reichte ihm die Hand. Sie war in den anderthalb Jahren merklich gewachsen, und das ruhige, selbstsichere Wesen, das sie immer gezeigt, ließ sie und ihre Gestalt reifer erscheinen als sie war.

Tom sagte ihr nichts davon, welch seltsamer Zufall ihn ins Freie getrieben und gerade hierher, nach dem Bahnhof, geleitet hatte. Er begleitete sie noch ein Stück bis zur Haltestelle der Elektrischen, mit der sie zur Vorstadt hinaus und zu Wolframs fahren wollte. Sie erzählte, daß sie auf der Durchreise in die Flensburger Ferien Wolframs für einen Tag besuchen wolle.

Tom verabschiedete sich dann von ihr, und sie sagte ihm ein freundliches »Lebewohl!«.

Dann sah er sie niemals wieder. Nur kurz vor seinem Abiturientenexamen erfuhr er später, als er mal gerade bei Wolframs draußen war, daß sie sich kürzlich mit einem Marineoffizier verheiratet hatte, und daß das junge Ehepaar in Kiel lebte. Sie zeigten ihm die Photographie der beiden. Er war ein kleiner, untersetzter Mann mit einem biederen, breiten, niederdeutschen Gesicht und trug seine Uniform. Toms Empfindung für Sibylle war seit dem Anblick des Bildes vollkommen geschwunden, nie aber vergaß er die seltsame Begegnung beim Bahnhof.


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