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11.

Die Frau Kommerzienrat bekam zum Kaffee oder Tee zuweilen den Besuch von einer Jugendfreundin, einem alten adligen Fräulein, das der Kommerzienrat possierlich fand und nach ihrem Vornamen Susanne »dat Sannchen« nannte.

Auch die Beziehungen, die die Frau Kommerzienrätin zu ihr hatte, beruhten im Grunde mehr darauf, daß sie sich durch Sannchen zerstreut fühlte, wohl auch auf einem gewissen Mitleid mit der einsamen alten, in ihren Gefühlübergängen empfindlichen und zum Exzentrischen geneigten Dame.

Manchmal, wenn eben bloß Sannchen da war, durfte auch Tom zugegen sein, an dem das alte Fräulein seinen Narren gefressen hatte.

So recht mochte Tom sie zwar nicht, doch hatte er mit der Zeit ein gewisses Zutrauen zu ihr gefaßt.

Es gab immerhin auch dies und das in ihrem Wesen und Äußeren, das er bewunderte oder für das er sich doch interessierte.

Es hieß, daß Sannchen in jungen Jahren ungewöhnlich schön, von einer zärtlich anmutigen, munter beweglichen Schönheit gewesen sei; und sie zeigte auch noch immer, obgleich sie in der Mitte der Sechziger stand, Spuren davon.

Sie war nicht viel größer als die Frau Kommerzienrat und von noch immer angenehmer und gutproportionierter Gestalt, an der nur auffiel, daß sie einen ehmals schönen Busen noch heute mit Bedacht hochgeschnürt trug. Über diesem Busen aber und, wie's der hochgeschnürte Zustand mit sich brachte, Schultern von etwas zu gerader Haltung und gezwungenen Bewegungen, befand sich ein kleines, angenehm gerundetes, pergamentbleiches, von vielen feinen Fältchen und Runzelchen durchzogenes Gesicht mit einem schelmisch kurzen Näschen und einem hübschen, in seinen reizenden Fältchen noch rotlippigen Mund, der gern seine blitzeweißen, noch tadellos vollständigen Zähne zeigte.

Alles an ihr aber waren ihre Augen. Zwei große, tiefschwarze, naiv lebendige Süßkirschenaugen mit zwei schöngezeichneten, schwarzen Brauen drüber. Der ganze Eindruck ihrer Gestalt einte sich in diesen Augen und wurde von ihnen beherrscht. Und sie war sich dessen auch nicht ganz unbewußt. Denn sie trug stets eine Kleidung, die ein lichtes Graugelb zeigte, das sich mit dem klar pergamentfarbenen Ton ihres Gesichtes ausglich, so daß man, wenn man sie sah, sogleich und ganz unwillkürlich diese großen, tiefschwarzen, überdies sehr beweglichen Augen wahrnahm. Aus einer kleinen, mutwillig und zugleich drollig eigensinnig gewölbten Stirn heraus aber, die dadurch etwas sehr Klares bekam, baute sich breit und hoch ein rokokohaftes, graugelbes Haartoupet auf, das sie seit ihrer Jugend durch alle Haarmoden hindurch, die sie bis daher erlebt, beibehalten hatte. Schon dieser Haartracht wegen galt sie in der Stadt, wo jedermann sie kannte und sie jedermanns Aufsehen erregte, für ein Original.

Auf diesem Toupet saß dann aber ein riesiger, breitkrempiger Hut, dessen Farbe mit der ihrer übrigen Kleidung übereinstimmte und über den hin nach hinten übergebogen eine prächtige, breite, in gleicher Farbe gehaltene Straußenfeder lag.

Dazu trug sie einen schicken, sehr geräumigen Mantel von gleicher Farbe, der aber so elegant wie auffallend über und über mit Perlenstickereien bedeckt war, die kühn geschwungene Arabesken, Blätter, Blumen, Schmetterlinge und Vögel darstellten.

Es war besonders dieser Mantel, den Tom an »Tante Sannchen« bewunderte und der ihm jedesmal, solange sie sich in ihm befand, einen großen Respekt vor ihr mitteilte. Gleich als er sie zum erstenmal hatte eintreten sehen, einen schicken graugelben Schirm im zierlichen Händchen, das in graugelbem schwedischem Leder stak, und diesen Mantel an, hatte er sie nicht aus dem Auge gelassen.

Auch ihr Gang hatte ihn interessiert und ihre beweglich temperamentvolle, doch zugleich kultivierte Stimme, die einen wunderlichen Unterton von Leid und Resignation hatte. Ein drolliger, sonderbar vogelartiger Gang mit den Hüften und Schultern, der etwas Hüpfendes hatte. Auch der starke Parfümgeruch, den sie verbreitete, hatte Eindruck auf ihn gemacht. Noch nie hatte er jemand in seiner Nähe gehabt, der nach Parfüm gerochen hätte.

Nicht unangenehm war's ihm aber, daß es jedesmal, wenn Tante Sannchen da war, zum Kaffee oder Tee ganz besonders erlesen gute Dinge gab. Feines Königsgebäck, › petits fours‹, leckere Pastetchen und andere Delikatessen, auch von den feinsten Konfitüren, von denen Tante Sannchen mit ganz offensichtlicher Vorliebe genoß. Auch trank sie immer ein Likörchen, ein Gläschen »Cherry Brandy«, oder eins »Danziger Lachs«, für den Tom sich wegen der seinen, blinkenden Goldblättchen interessierte, die in ihm herumschwammen. Auch brachte Großmama jedesmal ein zierliches Döschen mit Zigaretten. Sie selbst rauchte zwar nie. Tantchen Sannchen aber immer ein paar davon.

Es interessierte Tom auch, daß Tante Sannchen manchmal lange nur Französisch mit Großmama sprach. Sie sprach dann aber am meisten und lachte auch sehr viel dabei. Manchmal lachte sie so sehr, daß sie einen hellen, zierlichen Husten davon bekam. Großmama lachte auch manchmal, aber nur wenig. Meist lächelte sie bloß zu dem, was Tante Sannchen sagte. Nachher sprachen sie dann aber wieder ganz ordentlich Deutsch, und manchmal unterhielten sie sich auch mit ihm.

Einmal, an einem Herbstnachmittag, kam Tante Sannchen auch gerade zu Besuch bei Großmama, als Tom da war. Es war gemütlich eingeheizt, denn draußen raschelte und sauste ein scharfer, kalter Wind im welken Laub der Linden, die auf dem Platz vorm Haus standen. Großmama saß auf ihrem Fensterplatz bei dem großen »Spion«, in den sie manchmal, während Tante Sannchen erzählte, die Arme unter der Brust übereinandergelegt und in ihrem Sessel zurückgelehnt, lange mit einer Art von zerstreuter Aufmerksamkeit hineinsah. Tom seinerseits hockte vorm Bücherschranke, der offen stand, so daß er zwischen den Büchern herumkramen, sich Bilder ansehen und lesen konnte.

»Wie gemütlich und behaglich ist es wieder mal bei dir, meine gute Melanie!« rief Tante Sannchen, die sich eben eine Zigarette ansteckte, mit ihrer lebhaften Stimme, die Tom immer nachdenklich machte, weil er manchmal nicht wußte, ob Tante Sannchen weinte, weil sie wegen irgendwas traurig wäre, oder ihr etwas weh täte, oder ob sie lachte. »Ach nein, ich empfinde es ja immer, immer wieder: Zu dir ist meine Zuflucht! O Gott, ich alte Person, wenn ich dich nicht hätte! – Übrigens, denke: draußen im Werder-Restaurant bekommt man jetzt den Zucker zum Kaffee und Tee in so reizenden, schicken, so ganz allerliebsten kleinen Kartons! Immer zwei Stück schönen, klaren Kristallzucker zu jeder Tasse in solch reizenden, kleinen, buntgedruckten Kartonchens! Es ist so schick und appetitlich! – Aber was hast du da wieder alles für gute Dinge! – Oh, Melanie, Spekulatius! Frische Spekulatius! Und Hoppjes?« Und schon knabberte sie mit ihren weißen Zähnen drauf los.

Mit einem kleinen Lächeln hörte die Frau Kommerzienrat dem Geplauder zu. Sie erinnerte sich an die guten Stunden, die sie damals, als sie selber noch ein bis zur Ausgelassenheit fröhliches junges Mädchen gewesen war, gerade mit Sannchen gelebt hatte. Zugleich fielen ihr Sannchens Liebeserlebnisse ein.

Die flatternde, damals zum unmittelbarsten Entzücken reizende Singvögelchenschönheit der Freundin, die noch heute, in ihrem 65. Lebensjahr, ein dem Leben gegenüber bis zum Rührenden hilfloses und noch dazu einsames großes Kind war, hatte damals immer einen ganzen Hof von Verehrern um sich gehabt, die sie alle am freilich mehr unbewußten Narrenseil ihrer gedankenlos leichtherzigen Munterkeit herumgezogen hatte.

Eigentlich nur auf den Willen ihrer Eltern hin hatte sie dann endlich einem ernsthaften Bewerber Gehör gegeben. Doch hatte sich die Verlobung nachher in letzter Stunde aus dem Grunde zerschlagen, weil Sannchen in ihres Herzens Unschuld bei bestimmter Gelegenheit öffentlich mit ihrem Bewerber in einem dermaßen extravaganten Hut zusammengetroffen war, daß der sehr ehrbare und korrekte Beamte sich daraufhin zurückgezogen hatte. Sannchen hatte sich das nicht weiter zu Herzen genommen; obgleich sie während des Verkehres mit dem Verlobten an dem Gedanken Gefallen gefunden hatte, eine verheiratete Frau zu werden. Nicht lange darauf aber hatte sie seltsamerweise so etwas wie eine ernstlichere Neigung zu einem ganz »einfachen« Menschen gefaßt und war mit ihm durchgegangen. Das war eine romantische und etwas dunkle Sache gewesen, die dann aber damit geendet hatte, daß sie eines Tages in recht gedrückter Stimmung wieder zur Familie zurückgekehrt war. Wie aber hätte man diesem schönen, harmlosen, für seine Handlungen kaum so besonders verantwortlichen Kinde nicht verzeihen sollen. Folgen hatte das Abenteuer übrigens weiter keine gehabt. Sie war dann ein für allemal unverheiratet geblieben.

Tom war, während Großmama und Tante Sannchen sich miteinander unterhielten, drüben beim Schranke in seine Bücher und Bilder vertieft gewesen, als mit einemmal seine eifrigen Rufe laut wurden, und er, ein mächtiges, dickes, altmodisches, in rotes Leder gebundenes Buch aufgeschlagen gegen die Brust gepreßt, eiligst zum Teetisch und Tante Sannchen herübergelaufen kam.

»Tante Sannchen!« rief er, indem er ihr in seinem Eifer das aufgeschlagene Buch auf den Schoß plumpsen ließ. »Was ist das? Warum springt der Mann mit den nackten Beinen da zum Fenster raus?«

Das Buch war ein Exemplar der seltenen ersten Auflage von Hogarths Zeichnungen mit dem Text von Lichtenberg. Tom hatte es mit seinem schönen, roten Ledereinband unter einem Stoß von anderen Büchern und Papieren im untersten Schrankfach entdeckt und nicht eher abgelassen, bis er's herausgezogen hatte. Und dann hatte er sich in diese Zeichnungen vertieft.

Es handelte sich um die, in deren Hintergrund ein großes Himmelbett steht, während zur Rechten, dicht neben dem Bett, ein Mann im Hemd und mit nackten Beinen eiligst zum offenen Fenster hinaus entflieht; in der Mitte des Bildes aber steht vor dem Bett eine Dame im Nachtgewand und macht eine abwehrende Gebärde zur Linken und einer Tür hin, zu der ein Herr mit gezücktem Degen hereindringt.

»Huch, Jung! O du mein Liebling!« schrie Tante Sannchen, vor Lachen mit Armen und Händen zappelnd, auf, nachdem sie einen Blick auf die Zeichnung getan. »O du mein Gottchen! Nun, nicht wahr? Was wird er für einen Schnupfen kriegen!«

Die letzten Worte hatte sie zu Großmama hin gewandt, die erst nicht recht wußte, um was es sich handelte, jetzt aber, wo sie das Buch wahrnahm, erschrak.

»Wie? Aber nun bitt' ich, mit bloßen Beinen springt man doch nicht zum Fenster raus!« verbarg sie ihren Schreck unter einem scherzenden Lachen.

»Oh, wenn's nun aber brennt, Gro'ma?« fragte Tom, der zuerst nicht recht gewußt hatte, was er daraus machen sollte, daß Tante Sannchen so geschrien hatte und so lachte und mit den Händen zappelte.

»I, was ist denn das für ein ganz dummes Buch!« entschied Großmama jedoch, erhob sich, kam und nahm Tante Sannchen das Buch vom Schoß runter. »Komm, wir stecken's wieder in den Schrank, und ich will dir ein viel, viel schöneres geben.«

Tom, der mit erstaunten Augen bald Tante Sannchen, die noch immer lachte, bald Großmama angesehen hatte, sah Großmama nach, die mit dem Buch zum Schranke hinging.

Er verstand zwar, daß das Bild dumm sei, weil er doch kein Feuer gesehen hatte, aber er wußte nicht, warum Tante Sannchen so lachte. Doch schon hatte die ihn zu fassen gekriegt, nahm ihn, noch immer lachend, sein Gesicht zu sich emporziehend, bei beiden Backen und sah ihm in die Augen. Dann aber rief sie, zwar noch immer lachend, aber eine kleine Rührung in der Stimme:

»Oh, die herrlichen, herrlichen Guckaugen!«

Und dann beugte sie sich zu ihm nieder und küßte ihn ab. Darauf schenkte sie ihm zwar ein Hoppjes, das sie ihm gleich in den Mund steckte, und das er auch im Mund behielt: doch im stillen wunderte er sich, während er langsam wieder zum Schrank zurückging, warum Tante Sannchen so gelacht, ihn mit einemmal so abgeküßt und das da von seinen Augen gesagt hatte.

Großmama aber hatte ihm inzwischen ein großes Buch mit vielen wunderbaren bunten Schmetterlingen und Blumen aus dem Schranke hervorgezogen, in das er sich sofort mit großem Interesse vertiefte.

Etwas später in den Herbst hinein empfing Tom einen anderen Eindruck, der für ihn, nach dem, was damals zwischen ihm und Mutter geschehen war, als sie ihn, weil er so bös gewesen war, geprügelt hatte, und nach allem, was er seither über Mutter und Großmama nachgedacht hatte, nicht ohne Wichtigkeit war.

Vorn bei Kommerzienrats sollte eines Abends ein Familienball stattfinden, zu welchem auch Vater und Mutter geladen waren, und Lise hatte sich in ihren Gesellschaftsdreß geworfen.

Bevor sie sich aber mit Karl zum Vorderhaus begab, betrat sie erst noch mal die Kinderstube, um nach den Kindern zu sehen und ihnen gute Nacht zu sagen.

Sie hatte ein lichtseidenes Schleppkleid an, das ihre schöne Gestalt sehr glücklich zur Geltung brachte. Sie zeigte ihre Büste aber nicht völlig dekolletiert – das war etwas, was ihr widerstand –, sondern das Kleid hatte nur einen spitzen, von duftigen Spitzen eingefaßten Ausschnitt von der Art, wie die Damen ihn »freundlichen Blick« zu nennen pflegen. Ihr lichtblondes Haar trug sie in einer anmutig gewellten Frisur, die den heiteren Ausdruck ihres schönen, klaren, von einem feinen, rosigen Schimmer verklärten Gesichtes noch mehr erhöhte und ihm zugleich einen Anflug von Kultur und Apartheit verlieh, der ihrem Wesen für gewöhnlich, wenn sie sich alltags in ihrem Hauskleid bot, nicht eigentümlich war.

Noch nie hatte Tom Mutter so gesehen. Er sah sie nur immer groß an und verlor keine ihrer Bewegungen aus dem Auge, bis sich die Tür wieder hinter ihr geschlossen hatte.


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