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Neunzehntes Kapitel

Kühnheit und Verzweiflung der Liebe

Auf diese Weise ließen wir erst die nötige Vorsicht außer acht, dann wurden wir ganz unklug und zuletzt sogar kühn. Wir dehnten unsere Unterhaltungen immer mehr in die Länge und setzten uns mehrmals der Gefahr aus, überrascht zu werden.

Eines Abends wollte sich Le Mesnil aus Furcht vor einer Ueberrumpelung zurückziehen und ich war so leichtfertig, ihn zurückzuhalten. Einen Augenblick später, und zwar früher als gewöhnlich, machten die Schließer, die bereits Verdacht gegen uns hegten, ihre Runde, sie schlossen unsere Türen und brachten alle Schlüssel in die Wohnung des Herrn von Maisonrouge.

Ich wüßte wahrlich die Bestürzung nicht zu beschreiben, die mich ergriff, als ich hörte, wie man uns einschloß.

Was tun in einer so ärgerlichen Sache? Vollkommen klar war ich nur darüber, daß Herr von Le Mesnil nicht in meinem Zimmer eingeschlossen bleiben konnte.

Wenn es Tag gewesen wäre, so hätten wir uns eben der Uebertretung eines Gesetzes schuldig gemacht. Aber daß er die Nacht hier verbrächte, das würde einen namenlosen Skandal bedeutet haben.

Aber wie ihn hinauslassen? Die Türen erwiesen sich so fest verschlossen und verriegelt, daß hier jeder Versuch aussichtslos bleiben mußte. Die mit armdicken Eisenstangen verbarrikadierten Fenster benahmen uns ebenfalls jede Hoffnung auf Rettung. Es blieb mir keine andere Wahl, als die Barmherzigkeit des armen Maisonrouge anzurufen, obwohl ich mir nicht verhehlte, wie tief ich ihn zugleich kränken und verletzen würde, indem ich meine Zuflucht zu ihm nahm.

Schließlich aber packte ich meinen ganzen Mut zusammen, den eine so dringende Nötigung verlangte, und erwartete am Fenster die Rückkehr des Leutnants vom Gouverneur, wo er zu Abend zu speisen pflegte. Sowie ich seinen Mohrenkopf im Hof auftauchen sah, rief ich ihn und bat ihn, mir guten Abend zu sagen. Er eilte auf sein Zimmer, um die Schlüssel zu holen. Wenige Minuten darauf klopfte es bei mir an, und strahlend vor Freude über diese ungewohnte Gunst, trat der Königsleutnant bei mir ein.

Ich ging ihm entgegen; sein Rivale blieb ein wenig im Hintergrund, um sich nicht gleich seinen Blicken auszusetzen. Mit dem Ausdruck größter Verwirrung redete ich den Leutnant an.

»Ihr habt meinem Nachbar«, so sagte ich, »den Weg zu meinem Zimmer gezeigt; er ist so unbesonnen gewesen, ihn ohne Euch zu gehen. Man hat uns eingeschlossen. Ihr werdet ihn nicht hier lassen wollen, ich beschwöre Euch, befreit mich von ihm.«

Beim ersten Wort, das ich aussprach, bemerkte er den Chevalier von Le Mesnil und der heitere Ausdruck seines Gesichtes verwandelte sich in die finsterste Miene. In diesem Augenblick sah er aus wie ein wirklicher Mohr, ich bekam eine ordentliche Angst vor ihm.

Er antwortete im frostigsten Ton. Dieser Fall, erklärte er, setze ihn in große Verlegenheit. Er könne nicht ohne Aufsehen bei seinen Angestellten und den übrigen Bewohnern des Hauses die Schlüssel holen (nämlich zu dem Gefängnis des Herrn von Le Mesnil), seine Handlung würde zu den unvorteilhaftesten Verdächtigungen gegen ihn wie mich Anlaß geben.

Er hatte zu guten Grund, sich über unsere Unklugheit zu beklagen, ich gab mein Unrecht zu, aber ich beschwor ihn bei seiner Freundschaft als meiner einzigen Hilfe, uns zu retten. Er verließ uns, ohne ein Wort zu antworten. Doch er holte die Schlüssel und verschloß schweigend Herrn von Le Mesnil in seinen Kerker.

Er selber kam nicht mehr zu mir zurück.

Nach einem immerhin glücklichen Ausgang einer so schlimmen Sache fühlte ich mich sehr erleichtert, obwohl ich allen Grund zur Betrübnis haben mußte. Denn es war kein Kleines, die gerechte Entrüstung eines Mannes zu verdienen, dem ich mich so sehr verpflichtet fühlte, und den ich durch meine Unbesonnenheit dem Vorwurf aussetzte, sein Amt durch ein schimpfliches Entgegenkommen mißbraucht zu haben.

Ich konnte auch nicht daran zweifeln, der Leutnant werde uns von nun an scharf genug im Auge behalten, um jeden ferneren Versuch eines Wiedersehens unmöglich zu machen. Er war es seiner Ehre schuldig und nicht weniger seiner Eifersucht.

Er kam seitdem wieder wie gewöhnlich zu mir. Ueber das Vorgefallene sprach er kein Wort. Er sah mich traurig, fragte aber nicht nach der Ursache, die er nur zu gut kannte.

Manchmal war ich so ungerecht, ihn zu hassen, und vielleicht merkte er dies auch. Trotzdem änderte er sein Benehmen nicht und zeigte sich immer voll Sorgfalt für meinen Dienst und voller Zuvorkommenheit für alles, was ich wünschen konnte. Er erlaubte mir alle kleinen Freiheiten, die sich mit seinen Pflichten und dem Wohlanstand vertrugen, und in den Augenblicken, wo mir die Vernunft zurückkam, versöhnte ich mich in Gedanken mit ihm durch das Gefühl der Dankbarkeit, die ich ihm schuldete.

Herr von Le Mesnil jedoch, für den nicht soviel auf dem Spiele stand wie für mich, suchte ohne Unterlaß nach Mitteln, den gewohnten Verkehr aufs neue zu ermöglichen, und einmal, als wieder der Leutnant beim Gouverneur speiste, klopfte es plötzlich an meine Türe. Ich glaubte sie verschlossen, aber sie öffnete sich und vor mir stand der Chevalier.

Es war ihm gelungen, durch Geld oder Versprechungen, ich weiß nicht wie, einen der Schließer für sich zu gewinnen. Es sind dies die Leute, die die Gefangenen bedienen, ihnen das Essen bringen und für alles sorgen, was sie sonst nötig haben. Unter Tags sind die Schlüssel in ihren Händen. Dieser Schließer tat beim Verlassen meines Zimmers nur dergleichen als ob er schließe, und so wurde es Herrn von Le Mesnil möglich, bei mir einzudringen.

Ich erschrak aufs höchste und wollte ihn fortschicken. Er beruhigte mich aber und versicherte mir, daß wir gar keine Gefahr liefen. Ich glaubte ihm, weil ich ein großes Bedürfnis hatte, zu glauben.

Die Freude über das Wiedersehen mit ihm ließ alle weiteren Bedenken schwinden, die mir solche gefahrvollen Zusammenkünfte untersagen wollten.

Doch machten wir es kurz und wiederholten die Heimlichkeit nur mit größter Vorsicht. Der Gefahr der Abendstunde, die mir so verhängnisvoll geworden, wollte ich mich nicht mehr aussetzen, und wir führten unsere Torheit (es war eine große) so vernünftig wie möglich durch.

Wir sahen uns also nur selten, aber wir schrieben uns unaufhörlich. Die viele freie Zeit, deren wir genießen durften, konnte mit keiner interessanteren Beschäftigung ausgefüllt werden.

Meine ganze heftige Leidenschaft, der ich mich glaubte hingeben zu dürfen, ohne weder die Vernunft noch die Tugend zu beleidigen, findet sich in diesen Briefen ohne Zurückhaltung geäußert. Sprach ich doch zu dem treu ergebenen Geliebten, mit dem ich mich schon durch die heiligsten Bande vereinigt glaubte, und der nur das Ende unserer Gefangenschaft abwartete, um dieses Band zu einer unlösbaren und anerkannten Verbindung zu machen.

Zu jener Zeit unseres Verhältnisses genoß ich ein vollkommenes Glück, ohne Furcht, daß dasselbe von irgendeiner Seite gestört werden könnte.

Denn unsere Briefe mußten uns für die Seltenheit unserer Zusammenkünfte schadlos halten, die immer von der Furcht gestört und durch die Vorsicht abgekürzt wurden. Trotzdem bereiteten sie uns eine noch schlimmere Ueberraschung als die erste.

Denn nun geschah es eines Tages, daß der Königsleutnant nach Vincennes zu seinem alten Freund und Obersten, dem Marquis von Châtelet, zur Tafel geladen war. Just an diesem Tag kam der Kriegsminister Le Blanc zu dem Gouverneur und bat um einige Aufklärungen über den Chevalier von Le Mesnil. Der Gouverneur konnte diese nicht geben ohne vorherige Unterredung mit dem Chevalier. Obwohl gerade bei Tafel, verließ er unverweilt seinen Platz bei Tische und beeilte sich dermaßen, daß Herrn von Le Mesnil keine Zeit mehr blieb, mich rechtzeitig zu verlassen und in sein Zimmer zurückzukehren.

Der Gouverneur fand also seinen Gefangenen nicht vor und Herr von Le Mesnil erschien nur eben früh genug, um die ganze Zornflut eines Wütenden über sich ergehen zu lassen, von dessen Entladungen ich ebenfalls mein Teil abbekam.

Nach diesem ersten Ausbruch, den man sich nicht heftig genug vorstellen kann, führte der Gouverneur den Auftrag des Ministers aus und überbrachte diesem die Antwort des Chevalier, ohne etwas von dem Vorgefallenen zu erwähnen, das man seiner mangelhaften Wachsamkeit zur Last gelegt hätte. Sowie aber der Kriegsminister sich verabschiedet hatte, ließ der Gouverneur den Chevalier in einen anderen Turm verbringen und in einem schrecklichen Loch von Zelle verwahren wie einen gemeinen Verbrecher.

Ueber diese Behandlung und die üble Weise einer so überstürzten Ausquartierung bemächtigte sich meiner ein ungeheurer Schmerz. Gegen meine Gewohnheit überließ ich mich den Tränen und der Verzweiflung.

Niemals hatte ein ähnlicher Jammer je zuvor meine Seele erfüllt, es war mir nicht anders, als ob diese Seele ihr Eigenstes hoffnungslos verloren hätte. Le Mesnils Zustand stellte ich mir ebenso verzweifelt vor wie den meinigen, und dies verdoppelte noch meinen Schmerz, ja machte ihn maßlos.

Die körperlichen Unbequemlichkeiten, die er in jener entsetzlichen Mauerhöhle zu erdulden haben würde, vereint mit den Qualen seiner Seele, ließen mich für seine Gesundheit, ja, für sein Leben fürchten. Denn ein außer sich gebrachtes Gemüt ist ein Raub aller Schrecken und der übertriebensten Vorstellungen; und die Ungewißheit all dieser Dinge, über die ich nichts Sicheres erfahren konnte, machte den Unglücksbecher voll bis zum Ueberfließen.


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