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Viertes Kapitel

Ein recht häßliches Abenteuer

Es dauerte lange, bis Herr von Sillery wieder zurückkehrte, und ich weiß nicht, warum dieses Wiedersehen, bei dem ich doch eine große Freude haben mußte, mit allen begleitenden Umständen meinem Gedächtnisse völlig entschwunden ist, das sonst die geringsten und unbedeutendsten Kleinigkeiten so treu bewahrt hat.

Auf eines bloß kann ich mich besinnen, daß seine Stimmung düsterer und träumerischer schien als früher. Ich sah ihn oft erregt und unruhig, was mir die Vermutung gab, daß ein neues Gefühl sich seines Herzens bemächtigt habe.

Kurze Zeit schmeichelte ich mir mit dem Gedanken, selbst der Gegenstand dieses Gefühls zu sein, aber zu meiner Beschämung klärte sich dies anders auf. Er gestand mir, daß er liebe und ich merkte, daß er nicht an mich dabei dachte. Welchen Schmerz ich darüber empfand, sah er nicht. Seine Schwester wurde in sein Vertrauen gezogen, sie brachte den Tag fast ausschließlich bei ihm zu, und ich sah beide kaum mehr.

Und so kam es, daß mein Aufenthalt auf Schloß Sillery, wo ich ein neues Leben begonnen hatte, mir von Tag zu Tag peinlicher wurde. Bis jetzt hatte ich in einer Art Verzauberung dahingelebt; die neue Entwicklung der Dinge erfüllte mich mit der tiefsten Traurigkeit, und die Seele voll Schmerz kehrte ich bald darauf in mein Kloster zurück.

Dort beschäftigte ich mich mit dem Schreiben von Erzählungen und Romanen, um den Gefühlen, die mir Seele und Herz erfüllten, einen Ausweg zu verschaffen. Ich beleuchtete meinen Geliebten von allen Seiten, und alle Personen, die sich mit meinen Erlebnissen verknüpften, sowie ich selbst, mußten mir ihren Charakter und ihre Seele leihen.

Diese unnützen Schriften ersetzten mir einen Mitwisser meines Geheimnisses, den ich als demütigend und gefährlich angesehen hätte. Sie aber bewahrten mein Geheimnis, denn sie haben nie das Licht des Tages gesehen, dessen sie auch nicht würdig waren.

Alles, was sich nicht auf den Gedanken bezog, der mich einzig erfüllte, hat keine Spur in meinem Gedächtnis zurückgelassen. So weiß ich nichts mehr davon, was ich im Laufe dieses Jahres unternahm, bis zu dem folgenden Sommer, wo ich nach Sillery zu reisen hoffte.

Aber die Dinge änderten ihr Gesicht. Der alte Marquis, den ich schon sehr leidend verlassen hatte, starb. Die geschäftlichen Erörterungen, die häuslichen Veränderungen wollen keinen fremden Zeugen und man lud mich diesmal nicht ein zu kommen.

Ich fühlte mich gekränkt, und um mich darüber zu trösten, verabredete ich einen Ausflug mit Fräulein von Roeux nach einem Landgut ihres Vaters, das nur drei oder vier Meilen von Sillery entfernt lag. Einmal dort, glaubte ich, würden der junge Marquis und seine Mutter nicht umhin können, mich zu sich einzuladen. Vorläufig teilte ich ihnen nichts von meiner Reise mit.

Diese verlief auf das angenehmste, teilweise zu Schiff auf dem breiten Fluß, wo wir von einer Barke mit Musikanten der verschiedensten Instrumente begleitet wurden. Herr von Roeux, der gekommen war, seine Tochter abzuholen, erwies sich trotz seines Alters als ein heiterer Gesellschafter. Außerdem war noch einer seiner Brüder mit von der Bande, der Abbé, eine Art lustige Person, und sein häßlicher und fast blödsinniger Sohn; man konnte sich keine vergnüglichere Fahrt denken.

An der Stelle, wo der Fluß uns von unserer Richtung abgeführt hätte, stiegen wir in die Karossen, die uns nachgefolgt waren, und übernachteten bei einer Freundin von mir, deren Haus auf unserem Wege lag.

Am anderen Tag kamen wir in Roeux an, einem alten Schlosse von seltsamer Form, nämlich gebaut nach dem Schema eines gotischen R, so wie viele andere Schlösser in der Normandie den Anfangsbuchstaben des Namens, den sie tragen, durch ihre Bauart vorstellen.

Die Umgebung war entzückend. Springende Wasser ließen Tag und Nacht jenes sanfte Murmeln hören, das so geeignet ist, die Erregung der Seele zu beruhigen. Die Natur zeigte hier im Kleinen alles, was sie Schönes und Mannigfaltiges hat. Da war ein weites Wiesental, von vielen Bächlein durchrieselt, von bewaldeten Hügeln begrenzt, und hie und da auf diesen Höhen öffnete sich eine Waldlichtung, durch die man in der Ferne das Meer schimmern sah.

So traurig mein Seelenzustand bei meiner Ankunft gewesen war, so fand ich doch hier die Lust am Dasein wieder. Auch tat es mir wohl, daß man mir die Freude über meinen Besuch deutlich merken ließ und der Hausherr mir auf alle Weise seine Achtung bezeugte und mir den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen suchte. Wir befanden uns immer in heiterer Gesellschaft und es fehlte uns kein Vergnügen, das man auf dem Lande genießen kann.

Trotzdem verlor ich meinen Zweck, der mich hierhergeführt, nicht einen Augenblick aus dem Auge. Unter irgendeinem Vorwand schrieb ich an den Marquis von Sillery; er sah aus dem Datum meines Briefes, daß ich in der Nachbarschaft weilte und äußerte mir sein Erstaunen darüber, aber er forderte mich nicht auf, zu kommen.

Meine Sehnsucht, ihn wiederzusehen, erwies sich aber so groß, daß ich mich davon nicht abschrecken ließ. Ich schrieb nochmals und machte den Vorschlag von seiten des Herrn von Roeux und seiner Tochter, dem Marquis von Sillery und seiner Mutter einen Besuch abzustatten. Er antwortete, daß er zu jeder anderen Zeit entzückt sein würde, seine Nachbarn zu empfangen, jetzt aber sei er so von Geschäften überhäuft, daß ihm ein Besuch sehr zur Last fiele. Gleichzeitig schrieb mir die Marquise von Sillery, wenn ich allein kommen wolle, so würde man sich sehr freuen, mich zu sehen.

Und sie machte mir den Vorschlag, den Postwagen von Caën, der bei Schloß Roeux vorüberfuhr bis zu einem bestimmten Ort, den man Les Mérisiers nannte, zu benützen, wo mich dann die Karosse ihres Sohnes in Empfang nehmen sollte.

Ich bestimmte hierauf den Tag meiner Abreise, um den Wagen des Herrn von Sillery an der genannten Stelle vorzufinden, und in meiner Ungeduld gab ich einen so nahen Termin meines Kommens an, daß ich keine Antwort mehr erwarten konnte.

Der Tag kam heran, und ich stand mit dem Morgengrauen auf, trotzdem ich erst am Nachmittag abreisen sollte. Ich erledigte alles, was zu tun war, in großer Hast, aber die Postkutsche von Caen kam deshalb doch nicht früher. Endlich erschien sie, von meiner Gesellschaft mit ebensoviel Bedauern wie von mir mit Freuden begrüßt. In der sicheren Gewißheit, eine Meile weiter den Wagen des Herrn von Sillery zu treffen, stieg ich ein.

Nach ungefähr einer Viertelmeile Fahrens hörte ich, wie die Postleute sich unter anderem davon unterhielten, sie hätten in der Frühe den Wagen des Herrn von Sillery auf der Straße nach Versailles gesehen.

Wenn der Himmel eingefallen wäre, hätte ich nicht vernichteter sein können, als bei dieser Nachricht.

So befand ich mich also unterwegs, in Erwartung von jemandem, der nicht kam und der sich nicht einmal die Mühe genommen hatte, mich zu benachrichtigen oder sich zu überlegen, was aus mir werden sollte; denn ich wußte, daß ich nur mit Hilfe der Silleryschen Karosse auf der elenden und fast unwegsamen Straße nach dem Schlosse gelangen konnte.

Solang wir Les Mérisiers, den Ort unserer Verabredung, noch nicht erreicht hatten, tröstete ich mich immer noch mit dem Gedanken, daß man vielleicht Mittel gefunden hatte, ein anderes Fuhrwerk für mich aufzutreiben. Aber dort angekommen, fand ich weder Mensch noch Tier, noch eine Nachricht von irgend jemandem. Ich verfiel in eine Art von Verzweiflung. Die Kutsche, in der ich mich befand, konnte ich nur anhalten lassen, wenn ich aussteigen wollte; dann hätte ich mich allein und verlassen auf der Landstraße gesehen; es blieb mir also nichts übrig, als auf dem Weg weiterzufahren, der mich nicht nach Sillery führte.

Während ich überlegte, was zu tun sei, fuhr der Wagen immer weiter, er fuhr ohne anzuhalten und so gut, daß ich bald in Saint-Pierre an dem Flüßchen Dive anlangte, wo der Kutscher sein Nachtquartier nahm.

Es blieb mir keine andere Wahl, als ebenfalls da zu übernachten.

Ich befand mich also in einer wahren Spelunke von Kneipe und hatte als einzigen Schutz nur einen Lakaien, den man mir von Roeux mitgegeben hatte. Die Angst, in so mangelhafter Begleitung an diesem schrecklichen Orte die Nacht zubringen zu müssen, versetzte mich in eine Verwirrung, in die mich viel wichtigere Unglücksfälle späterhin im Leben niemals bringen konnten, wahrscheinlich weil sie eher im Verhältnis zu meinen Kräften standen.

Obwohl damals kein Kind mehr, fühlte ich mich sehr unsicher dem praktischen Leben gegenüber; die Klostererziehung erwies sich in diesem Falle als sehr unzulänglich.

Als ich wieder ein wenig zu mir selber kam, erkundigte ich mich, wie weit ich von Schloß Sillery entfernt sei, und man sagte mir, es sei nur eine Meile dahin, aber es sei keine Möglichkeit, hier irgendeine Art von Wagen zu bekommen, der mich hinbringen könne; wenn ich kein Reitpferd benützen wolle, müßte ich nach Caën zurückfahren, was aber vier Meilen weiter sei.

Wenn man mir vorgeschlagen hätte, ein Dromedar zu besteigen, hätte ich nicht entsetzter sein können.

Einstweilen mußte ich mich in das schmutzigste Bett legen, das ich jemals gesehen hatte. Es stand mit dem Rücken gegen einen dünnen Verschlag, der dieses Zimmer von einem andern trennte, in das ich einige Soldaten und Fuhrleute hatte eintreten sehen. Die Notwendigkeit, ihre Gespräche anhören zu müssen, bildete nicht meine geringste Furcht. Um so beruhigter und überraschter fühlte ich mich, wie ich sie über die Kugelform der Erde und die Antipoden disputieren hörte.

Obwohl ich in dieser Insektenhöhle nicht schlafen konnte, blieb ich doch wenigstens ruhig bis zum Morgen, wo ich meine Unternehmung ausführen sollte.

Man führte mir ein Pferd vor, man setzte mich darauf mehr wie ein Paket als wie ein lebendes Wesen, der Lakai nahm das Tier am Zügel und leitete es so gut er konnte. Aber der Führer, den man uns mitgab, brachte uns auf einen falschen Weg und wir hielten plötzlich an einem breiten Bach. Ein Poet hätte den Ort wahrscheinlich entzückend gefunden. Und auch einen Maler hätten gewiß die alten morschen Weidenstrünke begeistert, die nicht nur ihren moosigen Fuß im Wasser badeten, sondern auch ihre hängenden Zweige in die schwarze Flut untertauchten; aber es ist ein Unterschied, ob so etwas in einem Bilde steht oder in einem Gedicht, in einer sanften Elegie; oder ob es uns bei Regen und nasser Kälte und morastigem Boden leibhaftig umgibt.

Ueber den Bach führte nur ein schmales, schwankes Brett, dieses überschritt ich zitternd, das Pferd mußten wir zurücklassen. Ohne zu wissen, wo wir uns befanden, mußten wir den Weg zu Fuß fortsetzen, und das alles bei strömendem Regen und durch den berühmten Schlamm des Landes von Auge.

Endlich kamen wir auf Schloß Sillery an, von Kopf bis zu den Füßen von Schlamm besudelt und dergestalt zugerichtet, daß ich froh sein mußte, keine Gefahr zu laufen, von Herrn von Sillery gesehen zu werden. So groß ist für die Frau die Angst, einen schlechten Eindruck zu machen.

Man brachte mir eine Menge Entschuldigungen vor, daß man mich nicht mehr benachrichtigt hatte und schob alles auf die überstürzte Abreise des Herrn Marquis, die ihm kaum Zeit zum Atmen gelassen hatte.

Ich mußte dies als bare Münze gelten lassen, was es keineswegs war.

Ein Umstand hätte mich entschädigen sollen für meine Enttäuschung. Der blonde Chevalier von Le Mesnil befand sich zu Besuch auf dem Schloß. Er sah mich unglücklich und gab sich alle Mühe mich zu trösten. Wirklich, er machte mir auf eine rührende Weise den Hof; um das Fräulein von Sillery schien er sich kaum mehr zu kümmern. Es hätten schöne Tage für mich sein können und vielleicht habe ich damals mein Glück versäumt. Aber wie wir gewöhnlich das fliehen, was uns sucht, und das suchen, was uns flieht, so hatte ich jetzt nicht die geringste Dankbarkeit übrig gegen den Chevalier, weder für seine Gegenwart, noch für seine Bemühungen um mich.

Und so mußte er schon wegen einer edelsinnigen Handlung später in die Bastille geworfen werden und ich, wiewohl aus anderen Gründen, mit ihm, um uns beide einander näherzukommen, was ihm dann, wider all mein Erwarten, Gelegenheit gab, mir meine jetzige Unfreundlichkeit mit zehnfachen Zinsen heimzuzahlen.

Er hat sich in der Tat furchtbar gerächt, und in wenig vornehmer Art. Ich war jetzt rücksichtslos gegen ihn aus der Ehrlichkeit meines Gefühls; er aber hat bei der späteren Gelegenheit mich tödlich verwundet, und für sein Verhalten dabei gibt es kaum ein milderes Wort als das der Perfidie.

Ich ließ also den Chevalier von Le Mesnil und seine Aufmerksamkeiten links liegen; die anderen aber auf Schloß Sillery bemühten sich um so weniger um mich, und nach einem kurzen Aufenthalt kehrte ich nach Roeux zurück, ich weiß nicht mehr wie, und von da begab ich mich mit meiner Gesellschaft wieder nach Rouen.

Den übrigen Teil des Jahres brachte ich ziemlich ruhig in meinem Kloster zu, wo ich von Zeit zu Zeit Briefe von dem Marquis von Sillery erhielt, aber immer nur wegen Angelegenheiten, die ihn interessierten und mich nicht betrafen. Ich fühlte mich darüber sehr unglücklich; aber was die Leidenschaft verletzt, löscht sie noch lange nicht aus.

Es hätte dennoch nicht an Gelegenheit gefehlt, meinen Geist abzulenken. Unsere Mutter Aebtissin, die mich fast immer um sich hatte, erhielt vielfach Besuch von bedeutenden Männern aus der Stadt. Am meisten befreundet war sie mit dem berühmten Altertumsgelehrten Brünel und dem Abbé von Vertot, einem Verwandten der Herzogin von La Ferté, von der nun bald ausführlich die Rede sein wird, und beide wurden mit der Zeit auch meine Freunde, wie sie zugleich meine Lehrer wurden.

Merkwürdig überrascht aber wurde ich in diesem Jahr von dem Besuch meiner älteren Schwester, die ich nie in meinem Leben je gesehen, ja an deren Existenz ich bis jetzt kaum gedacht hatte. Sie befand sich zu Paris in dienstlicher Stellung bei der Herzogin von La Ferté und hatte die Reise nach Rouen einzig zu dem Zweck unternommen, um mich zu sehen und kennenzulernen.

Aber unser Zusammensein gestaltete sich wenig erfreulich. Wir standen geistig allzu weit auseinander. Ich tat mir nicht wenig darauf zugut, die Lieblingsschülerin, ja die Freundin des gelehrten Brünel zu sein und damit auch ein wenig des großen Philosophen Fontenelle, der damals schon einen Weltruhm besaß, und sie war eben doch nur ein gelecktes Kammerkätzchen, das, trotz vollendet äußerem Schliff, aller geistigen Kultur ermangelte. Solches focht sie zwar wenig an; aber sie fühlte sich in anderer Hinsicht tief verletzt von der Verschiedenheit unserer Lebensstellung. Das Ansehen, das ich genoß, und die förmliche Hochachtung, die man mir erwies an einem Ort, wo sogar die Herrschenden zu meinen Diensten standen, erweckten in ihr Neid und Unwillen. Sogar die Aufmerksamkeiten, die man ihr um meinetwillen erwies, erregten ihren Groll, obwohl das gemeinsame Leid, das wir trugen, uns doppelt versöhnlich hätte stimmen sollen. Unsere arme Mutter war nämlich kurz zuvor zu Evreux gestorben. Freilich hatte sie ihre Mutterschaft gegen ihre älteste Tochter, diese meine Schwester Henriette, unverantwortlich vernachlässigt und mich selber Fremden überlassen, die mir die Mutterliebe allerdings tausendfach ersetzt haben.

Meine Schwester besaß natürlichen Verstand, das Aussehen einer Dame von Welt und hatte ein hübsches Gesicht. Ich fand sie liebenswürdig; sie aber verließ mich fast in Feindschaft. Welchen ungeheuren Einfluß sie auf mein Schicksal haben sollte, wird sich bald zeigen. So lebte ich denn mit den verschiedensten Dingen beschäftigt, ohne das schreckliche Unglück, das mich treffen sollte, vorauszuahnen.


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