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Zweites Kapitel

Erste Männerbekanntschaft

Damals kam Fräulein von Sillery als Pensionärin nach St. Ludwig, die ich während meiner Kindheit in St. Salvator öfter gesehen hatte und ich schloß mich mit aller Lebhaftigkeit der ersten Freundschaft an sie an, ich dachte nur noch daran, ihr zu gefallen, und was ihr gefiel, gefiel auch mir. Sie liebte die sogenannte wissenschaftliche Lektüre und steckte auch mich damit an.

Bis jetzt hatte ich noch keine Bücher ernsterer Art gefunden, die meine Neugier erregt oder gar befriedigt hätten, und ich habe seitdem oft den Verlust von fünf oder sechs Jahren bedauert, wo der Geist am willigsten ist, sich zu bilden, und die ich zugebracht hatte, ohne, außer den Sachen der Religion, mehr zu lernen, als was man gewöhnlich die jungen Mädchen lehrt: wie Musik, Tanz, Klavierspiel, alles Dinge, für die ich weder Sinn noch Begabung besaß und in denen ich keinerlei Fortschritte machte, bis endlich das Fräulein von Sillery mir neue Wege eröffnete.

Sie machte aus der Philosophie von Descartes eine Art von Studium und ich gab mich selber mit außerordentlichem Vergnügen diesem Unternehmen hin. Ich las mit ihr sein Werk Ueber die Erforschung der Wahrheit und begeisterte mich für das System des Verfassers so sehr, daß ich es nicht leiden konnte, wenn mich irgend etwas von diesem Studium ablenken wollte. Die gewöhnlichen Vergnügungen und gesellschaftlichen Vereinigungen mißfielen mir mehr als je, wie überhaupt alles, was sich nicht auf meine Studien bezog.

Indessen wurde ich vermittels dieses Nachdenkens von Gedanken ergriffen, die mich beunruhigten. Ich fürchtete, daß die Philosophie den Glauben beeinträchtigen könne, daß diese metaphysischen Ideen eine zu starke Nahrung für meinen Geist sein möchten, der sich noch nicht fähig erwies, diese Ideen zu verdauen, und im Augenblick, als meine Leidenschaft für diese Philosophie den höchsten Punkt erreicht hatte, faßte ich den Entschluß, mich so lange von dem Gegenstand loszusagen, bis ich mich ihm ohne Gefahr hingeben könnte.

Dieses Opfer kostete mich unendlich viel, aber ich hatte mich früh daran gewöhnt, mir Gewalt anzutun und in zweifelhaften Dingen gegen meine Neigung zu entscheiden.

Fräulein von Sillery, die ich zu Rate zog, billigte meine Zurückhaltung; es gab keinen Gedanken, den ich nicht mit ihr geteilt hätte, ich liebte sie wie man sich selbst liebt, ja noch mehr, so schien es mir; ich hätte die Leiden erdulden mögen, die ihr bestimmt waren, und ich ging so weit, daß ich eine Abneigung gegen die Leute faßte, die mir selber mehr Zuneigung und Verständnis schenkten als ihr.

Diese von mir unzertrennliche Freundin mußte eine Reise nach Paris machen, und ihre, wenn schon kurze Abwesenheit verursachte mir einen Schmerz, wie ich ihn größer bis dahin nie empfunden hatte. Ich nahm unterdessen meine Zuflucht zu einer neuen Beschäftigung, um mich aus der gänzlichen Niedergeschlagenheit, in die mich die Abwesenheit der Freundin versetzte, herauszuziehen. Bei meinen philosophischen Studien hatte ich bei mir den Mangel an Kenntnissen in der Geometrie bemerkt und mir vorgenommen, mir wenigstens einen Schimmer davon anzueignen. Nun entschloß ich mich dazu und fand eine nützliche Ablenkung durch dieses Studium. Das beste Mittel, die Verwirrungen der Seele zu beruhigen, ist nicht, dagegen anzukämpfen, sondern dem Geiste neue Anregungen zuzuführen, die ihn unmerklich von dem, was uns quält, ablenken.

So gingen wieder einige Jahre ruhig genug vorüber, dann aber erlebte ich den großen Kummer, mich von Fräulein von Sillery trennen zu müssen, die zu ihren Eltern auf deren Schloß in der Normandie zurückkehrte.

Bald nach der Abreise meiner Freundin bekam ich die Blattern und war so übel daran, als man es nur sein kann, wenn man nicht daran stirbt. Mein Leben kümmerte mich wenig mehr, ebenso mein Gesicht, das mir ohnehin nicht der Beachtung wert schien, ich fühlte nur noch das Uebel der Krankheit. Doch dachte ich daran, mich absondern zu lassen, um niemand in Gefahr zu bringen. Wie in der Geometrie, so hatte ich auch in der Morallehre bereits verstanden, daß das Ganze größer ist als sein Teil. Gern bereitete ich mich zum Sterben vor; als ich indessen wieder genas, wagte ich es nicht, mein Gesicht anzusehen, so wenig Aufhebens ich sonst davon gemacht hatte, und erst nach drei oder vier Monaten sah ich es mit Erstaunen wieder, so sehr hatte ich jeden Begriff davon verloren.

Die Frauen, die ihre äußeren Vorzüge gering einschätzen und gar nicht daran zu hängen scheinen, halten doch viel mehr darauf als sie sich selbst bewußt werden.

Ein unerwartetes Ereignis brachte mich wieder mit Fräulein von Sillery zusammen. Ihre Mutter mußte eines Prozesses wegen nach Rouen und führte ihre Tochter mit sich. Ich war überglücklich, sie wiederzusehen und wurde es noch mehr, als man mir den Vorschlag machte, mich auf einige Zeit nach Sillery mitzunehmen. Frau von Sillery zeigte mir ihre Zustimmung und sogar ihren lebhaften Wunsch und so willigten die Aebtissin und ihre Schwester ohne den geringsten Widerstand in meine Abreise, trotzdem es ihnen unendlich schwer fiel, sich von mir zu trennen. Sie fühlten sich glücklich, mir eine Freude auf Kosten der ihrigen zu machen.

Mit dem größten Enthusiasmus von der Welt reiste ich in der Gesellschaft meiner immer zärtlich geliebten Freundin ab. Ihre Mutter erwies sich kühl aber höflich gegen mich und ich gewöhnte mich bald an sie. Wir kamen in einem recht schönen Schlosse an, das zwar etwas traurig und altertümlich, aber ebenso vornehm wirkte wie sein Besitzer, der sich äußerst trocken gegen mich benahm. Mit der Zeit aber gewann ich seine Gunst, sowie die seiner Gemahlin, die sich sonst kaum weniger zugänglich zeigte, und sie baten mich zu bleiben, solange es mir gefiele. Diese Leute waren durchaus menschenfreundlich, aber kaum liebenswürdig. Daran hinderte sie ein gewisses kühlsteifes Wesen, das aus übertriebenem Stolz entsprang, den nur ihr wirkliches Wohlwollen etwas dämpfte. Ihr Sohn, von dem noch viel die Rede sein wird, erwies sich mir später als von gleichem Schrot und Korn, nur daß bei ihm eine hohe geistige Bildung und der vollendete Weltmann den Junker übertünchte. Er stand gegenwärtig im Feld und seine Abwesenheit wirkte fühlbar auf alle Gemüter.

Es kam fast niemand in dieses Haus. Der alte Marquis von Sillery liebte die Ausgaben nicht und die Marquise war sehr fromm und machte sich nichts aus Gesellschaft. Außer einigen benachbarten Edelleuten, die meine Aufmerksamkeit keineswegs auf sich zogen, hatte ich noch niemanden gesehen.

Da machte eines Tages der Chevalier von Le Mesnil Besuch, ein jüngerer Bruder des Grafen von Le Mesnil-Monmart, auf dessen benachbartem Schloß er sich gerade aufhielt. Man forderte ihn zu einer Partie Hombre auf, wonach er sich verabschiedete, mit dem Versprechen, wiederzukommen und einige Zeit bei uns zu bleiben. Bei dieser Gelegenheit entdeckte ich den Wunsch bei mir, daß er doch recht bald wiederkehren möchte, und ich versuchte, mir über den Grund meiner heftigen Wünsche klar zu werden.

Ich sagte mir, daß es ein Mann von Geist und ein guter Gesellschafter sei, der selbstverständlich an einem so einsamen Orte willkommen sein müsse. Als ich mich aber daraufhin prüfte, worauf ich die Meinung von seinem Geist gründete, fiel es mir ein, daß ich ihn nur die beim Spiel gebräuchlichen Worte wie gagné »trois matadors« und sans prendre hatte aussprechen hören, und ich mußte mich fragen, ob etwa gar nur die schlanke Gestalt, das flaumige Blondbärtchen über den Lippen und die munteren blauen Augen es waren, die mir seine Gegenwart so wünschenswert erscheinen ließen! Seine Familie gehörte zu dem ältesten Adel von Anjou, er selbst stand als Fahnenjunker bei dem Regiment des Herzogs von Burgund zu Angers.

Als er wiederkam und ich ihn mehr sprechen hörte, verschwand der Geist, den ich ihm so gern zugeschrieben hätte, und es blieb nur ein angenehmer Tonfall der Stimme übrig, ein wenig mehr weltmännische Umgangsformen als bei den Leuten, die ich zu sehen gewohnt war, und außerdem freilich auch die munteren blauen Augen, das flaumige Blondbärtchen über den frischen Lippen und eine schlanke und äußerst graziöse Gestalt.

Er kam nun oft, ohne eingeladen zu werden und blieb lang, ohne daß man sich Mühe gab, ihn zurückzuhalten, woraus wir beide, Fräulein von Sillery und ich, schlossen, daß eine von uns auf ihn Eindruck gemacht haben müsse. Auf wen aber seine Wahl gefallen sei, wagten wir nicht zu entscheiden. Ich behauptete auf sie, sie behauptete auf mich, und es wurde eine wichtige Sache für uns, herauszubringen, wem diese Eroberung galt.

Dieser Wettstreit zwischen uns schien nur ein Scherz, und die Beobachtungen, die wir uns pünktlich einander mitteilten, wurden uns eben in unserem Müßiggang zur willkommenen Beschäftigung. Wenigstens glaubte ich es nicht anders. Als ich aber erfuhr, daß er sich erklärt hatte und nicht für mich, empfand ich einen mir bis dahin unbekannten Groll. Eine heftige Gemütsbewegung verursachte mir eine Art von Angstgefühl, wie man es empfindet, wenn man in einen bodenlosen Abgrund zu versinken glaubt. Es war die Eifersucht mit allen ihren Begleiterscheinungen; und doch konnte ich damals nicht ahnen, welche schmerzliche Bedeutung der junge Mann in meinem Leben noch gewinnen sollte. Einstweilen aber fand der blonde Chevalier nur allzubald einen gefährlichen Rivalen.


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