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Fünftes Kapitel

In Not und Verlegenheit

Meine gute Aebtissin wurde nämlich plötzlich so gefährlich krank, daß ich wohl sah, ich würde sie verlieren. Kein Kummer konnte größer und berechtigter sein als der meine. Ich hatte ihr alles zu verdanken und blieb nach ihrem Tode ohne jede Hilfsquelle, da ihr Stand als Nonne ihr auf keine Weise gestattete, etwas für mich zu tun. Während ihrer Krankheit, die nur vierzehn Tage dauerte, dachte ich einzig an sie, aber als man sie nun in der Kapelle mit großem Gepränge zur letzten Ruhe bestattete, da sah ich erst den Abgrund, in den ich gefallen war.

Ihre Nonnen klagten nun um sie, so sehr sie sie im Leben verfolgt hatten. Und in Wahrheit, ihr Verlust traf das ganze Kloster. Besonders ihre Schwester, Frau von Grieu, die sie zärtlich geliebt und seit ihrer ersten Kindheit nie verlassen hatte, geriet in eine Verzweiflung, die die meinige noch vergrößerte. Sie hätte nun Aebtissin werden sollen, aber die früheren Kabalen erhoben sich aufs neue und die Würde der Aebtissin wurde gerade derjenigen übertragen, die immer an der Spitze der Unzufriedenen gestanden.

Unter diesen Umständen gab es keine Möglichkeit, daß wir in St. Ludwig blieben. Ich wäre ohnedies von nun an genötigt gewesen, eine Pension zu zahlen. Die, welche Frau von Grieu von ihrer Familie bezog, genügte nicht für sie und mich, die ich keinen Pfennig besaß. Wir wußten also nicht, was aus uns werden sollte. Frau von Grieu hatte wohl eine gesicherte Zukunft in der Abtei von Jouarre, ihrem ursprünglichen Kloster, aber sie konnte sich nicht entschließen zur Trennung von mir und einer jungen Nichte, die sie ebenso innig liebte.

So meinte sie, es sei uns vorteilhafter, mit ihr in ein Kloster von Paris zu gehen, von wo aus ich eine Stellung finden könne.

In diesen beunruhigenden Zeitumständen erhielt ich einen Brief von dem Pater Maillard, einem meiner Freunde, der ehemals dem berühmten Pater La Chaise, dem langjährigen Beichtvater des Königs, zur Seite gestanden, dann aber nach Rouen verbannt worden war, weil er sich einen größeren Anhang als sein Meister erworben hatte.

Dieser Pater Maillard schrieb mir also, er habe einen Wechsel erhalten, um ein Vierteljahr meiner Pension im Kloster zu bezahlen, zu gleicher Zeit mit dem Auftrag, mir mitzuteilen, daß meine Pension, falls ich Lust hätte, im Kloster zu bleiben, regelmäßig bezahlt werden solle, ohne daß ich mir die Mühe zu geben brauchte, zu erfahren von wem. Der Brief sei nicht unterzeichnet gewesen und er wisse nicht, von wem er herrühre. Aber so groß dieses unverhoffte Glück auch scheinen mochte, es bestärkte mich nur in meinem Entschluß, mir selbst zu helfen. Ich wollte von keinen zweideutigen Hilfsquellen etwas wissen.

Seitdem habe ich erfahren, daß der großmütige Unbekannte der Marquis von Sillery gewesen war.

Ich befand mich nun im schwierigsten Augenblick meines Lebens und ich wurde mir klar darüber, daß ich meine Handlungsweise nach unerschütterlichen Grundsätzen einrichten müsse. So entschloß ich mich dazu, eher die Not zu ertragen und die Dienstbarkeit zu suchen, als meinem Charakter untreu zu werden; denn ich lebte der Ueberzeugung, daß nur unsere eigenen Handlungen uns erniedrigen können. Die Probe fiel hart aus für mich, aber ich würde mich und meine Kraft nie richtig kennengelernt haben ohne sie; sie hat mich gelehrt, daß wir der Not weniger darum unterliegen, weil sie stark ist, als weil wir schwach sind.

Als wir nun vor der Abreise standen, wurde Frau von Grieu von einem ihrer Brüder, der in der Normandie ein Landgut besaß, eingeladen, sich auf ihrem Wege nach Paris mit ihrer Nichte, der Tochter dieses Bruders, bei ihm aufzuhalten. Er machte ihr aber keinen Vorschlag, mich mitzubringen, was sie sehr betrübte. In dieser Verlegenheit eröffnete mir ein Fräulein von Neuville, eine Pensionärin unseres Klosters, sie stehe im Begriff nach Paris zu gehen und biete mir an, mich mitzunehmen. Wir reisten also zusammen und stiegen in dem kleinen Hotel von Chatillon am Quai der Augustiner ab, wo sie mir eine Wohnung vermittelte.

So befand ich mich denn also in Paris, ohne zu wissen, was aus mir werden sollte. Ich stellte mich bei verschiedenen Personen vor, an die ich Empfehlungsbriefe hatte, damit sie mir behilflich wären, eine »Stellung« zu finden. Meine kühnsten Hoffnungen gingen übrigens kaum weiter, als einen Platz als Kinderfräulein in einem vornehmen Hause zu bekommen. Glücklicherweise fühlte ich große Lust zu dieser Beschäftigung und ich glaubte, dies sei auch ein Beweis von Talent. Es bedeutete ein seltsames Herabsteigen für jemanden, der wie ich erzogen worden, von Tür zu Tür um die Protektion von Leuten bitten zu müssen, die mich nicht kannten, und ihr Examen und ihre kalte Verachtung zu erdulden. Auch blühte mir auf diesem mühevollen Wege keinerlei Erfolg und ich unterließ es bald, weitere Versuche anzustellen.

Aber wie in meinem ganzen Leben Hohes und Niedriges sich immer wieder berührten, so geschah es mir auch jetzt. Einige Tage nach meiner Ankunft in Paris machte der bereits von mir erwähnte Herr Brünel von Rouen, ein intimer Freund der verstorbenen Aebtissin, ebenfalls eine Reise in die Hauptstadt und besuchte mich auf meinem ärmlichen Gasthauszimmerchen. Er brachte sogar den Herrn von Fontenelle mit, dessen Ruhm in der ganzen Welt damals auf seinem höchsten Gipfel stand.

Herr Brünel kam von Zeit zu Zeit nach Paris, um Herrn von Fontenelle zu besuchen, und hatte diesem öfter von mir gesprochen. Ich selber kannte ihn aus seinen Werken, die er seinem Freunde jedes Jahr zuschickte, der nicht verfehlte, mich daran teilnehmen zu lassen. Und wenn ich nun auch nicht wenig erstaunte, den großen Philosophen und Schriftsteller in Gestalt eines putzigen alten Männleins vor mir zu sehen, so gereichte es mir doch zur großen Freude, in meiner Armut und Erniedrigung eine derartige Berühmtheit kennenzulernen und von ihr gekannt zu sein. Auch übersah ich nicht, daß Herr von Fontenelle mir bei Gelegenheit mit seinem schwerwiegenden Zeugnis von großer Hilfe sein konnte.

Fünf Tage wohnte ich in meinem möblierten Gasthaus, als ich einen Brief von dem Marquis von Sillery erhielt. Er hatte mir vorher ein paar einfache Worte über meinen erlittenen Verlust geschrieben, und dieser neue Brief enthielt eine Menge weiser Ratschläge. Er schrieb unter anderem dieses:

»Ich möchte Euch wünschen, daß Ihr Euch mehr um die Ausbildung Eures natürlichen Urteils als um glänzenden Witz bemüht. Bedient Euch in Rede und Schrift der einfachsten Ausdrucksweise und machet keinen Gebrauch von gelehrten Wendungen und Anspielungen, wenn sie auch die Sache besser ausdrücken; ich bitte Euch darum, erlieget nie der Versuchung, solche Ausdrücke zu gebrauchen. Möchtet Ihr Euch erst einen fest begründeten Ruf verschafft haben, ehe Ihr daran denket, durch Eure Talente und Fähigkeiten gefallen zu wollen. Ich fürchte aber, dieser letztere Grundsatz wird der Natur zuwider gehen, denn das Bedürfnis zu gefallen, ist Eurem Geschlechte angeboren; suchet aber wenigstens durch Einfachheit zu gefallen, vermeidet das allzu Gewählte in Euren Worten und Manieren.«

Dieser Brief ließ zur Genüge erkennen, welche Art von Gefühl Herr von Sillery für mich hegte. Von seiner Freundschaft und seinem aufrichtigen Interesse an mir fühlte ich mich gerührt, aber seine Vermutung, ich sei gefallsüchtig, kränkte mich, da er meine Bemühung, ihm gefallen zu wollen, für eine Eigenschaft in mir gehalten hatte, die ich gegen jedermann spielen ließe. Meine Antwort auf seinen pedantischen Brief fiel etwas gereizt aus, und daraus entnahm er, daß seine Ratschläge mir mißfallen hätten, was aus dem Brief hervorgeht, den ich einige Tage später erhielt.

Ganz unerwartet besuchte mich plötzlich meine Schwester. Sie war ehemals zu Rouen in Feindseligkeit von mir gegangen; jetzt aber, da sie mich all meines Nimbus entkleidet sah, näherte sie sich mir wieder, erwies mir viel Freundschaft und schenkte mir allerlei Kleinigkeiten, die mir nach und nach zu fehlen begannen. Sie wurde sogar von Tag zu Tag herzlicher gegen mich und zuletzt erhielt ich die wirksame Empfehlung, deren ich bedurfte, weder durch den einflußreichen Hofmann, den Marquis von Sillery, noch durch den weltberühmten Schriftsteller Herrn von Fontenelle, sondern, so komisch es klingt, durch diese arme Schwester, wie man im folgenden Kapitel sehen wird.

Unterdessen kam Frau von Grieu mit ihrer Nichte in Paris an, und wir fanden nach längerem Suchen ein Kloster (es war das der Maria Heimsuchung in der Nähe des alten Temple), wo man uns, Frau und Fräulein von Grieu und mich, für eine mäßige Pension aufnehmen wollte. Es blieb mir gerade so viel übrig, um ein Vierteljahr bezahlen zu können, nach Ablauf desselben sah ich mich ohne jedes Hilfsmittel.

Kurz ehe diese drei Monate zu Ende gingen, wurde ich so gefährlich krank, daß ich zu sterben hoffte. Aber man stirbt nie zur rechten Zeit und ich wurde in meiner Erwartung getäuscht. Damals taten mir die guten Damen von Grieu mehr Liebe an als je und besonders die mir fast gleichaltrige Nichte widmete mir eine Freundschaft, die sie mir auch später, als sie die Gräfin von Réal geworden war, und bis zu ihrem Tod treu bewahrte.

Ich starb also nicht, und als ich mich bereits wieder auf dem Wege der Besserung wußte und der Verzweiflung nahe stand, besuchte mich von neuem meine Schwester und kündigte mir mit großer Freude das Glück an, das ich, wie sie glaubte, zu machen im Begriffe stünde.


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