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Drittes Kapitel

Ein anderer Fall

Nachdem ich fünf oder sechs Monate auf Schloß Sillery zugebracht hatte, mußte ich in mein Kloster zurückkehren. Man nahm mir das Versprechen ab, im nächsten Jahre wiederzukommen, und die Marquise von Sillery drängte mich um so mehr dazu, als sie für den folgenden Sommer ihren Sohn erwartete und durch eine geeignete Gesellschaft hoffte, ihm den Aufenthalt auf dem Lande erträglicher zu machen.

Der junge Herr von Sillery war unter der Zahl der Gefangenen von Hochstädt gewesen und nach England überführt worden. Von der dortigen feuchten Luft hatte er sich eine Brustkrankheit zugezogen und die Erlaubnis erhalten, auf sein Ehrenwort hin in sein Vaterland zurückkehren zu dürfen.

Herr von Sillery hatte sein Leben in der großen Welt und in den angenehmsten Verhältnissen zugebracht. Man hatte mir so viel von ihm gesprochen, daß ich sehr neugierig war, ihn kennenzulernen.

Mit Ungeduld erwartete ich darum die Zeit, um nach Schloß Sillery zurückkehren zu können, obgleich meine heftige Hinneigung zu meiner alten Freundin seit dem peinlichen Ereignis vom vorigen Jahre etwas weniger lebhaft geworden war.

Endlich erschien der Zeitpunkt meiner Reise. Als ich auf Schloß Sillery ankam, erwartete man gerade den Sohn des Hauses, alles fühlte sich schon erfüllt von ihm.

Er kam an. Jedermann eilte zu seinem Empfang an den Wagen, auch ich ging wie die anderen hin, aber ein wenig langsamer, und als ich die übrige Gesellschaft erreichte, stieg er schon in der weiß-roten Uniform seines Regiments die Stufen der breiten Vortreppe hinauf, um sich in sein Zimmer zu begeben. Als er sich umwendete, um zu danken, wurde ich von seiner Stimme angenehm berührt, wie auch von seiner edlen Haltung, die sich von allem, was ich bis jetzt kennengelernt, durchaus unterschied. Nur eine gewisse Steifheit in seiner hohen Gestalt, die er vom Vater ererbt haben mochte, beeinträchtigte ein wenig den sonst überaus günstigen Eindruck.

Er empfing niemanden bei sich und zeigte sich zuerst wenig mitteilsam. Die Bücher, die er mitgebracht hatte, bildeten seine einzige Gesellschaft. Meist blieb er auf seinem Zimmer oder ging allein spazieren, und außer den Mahlzeiten sah man ihn nie. Aber trotzdem er sich kaum die Mühe nahm zu sprechen, so sprach er doch so gut und mit soviel Anmut, daß sein Geist sich bemerkbar machte, ohne daß er daran dachte, ihn zu zeigen.

Seine Anziehungskraft und seine Verachtung reizten mich gleicherweise. Auch seine Schwester, die ihn schon umgänglicher gekannt hatte, fühlte sich gekränkt. Unsere Unterhaltungen drehten sich meist um ihn.

Eines Tages, als wir innerhalb des weiten Schloßparkes in einem Wäldchen spazierengingen, wo wir allein zu sein glaubten, machten wir unserem Unwillen gegen ihn Luft. Er befand sich aber ganz in unserer Nähe, ohne daß wir ihn bemerkt hatten, und als er hörte, daß von ihm die Rede war, blieb er stehen, um uns zuzuhören. Wir hatten uns gesetzt und er verbarg sich hinter einigen Bäumen, wo ihm nichts von unserem Gespräch entging, das er trotz allem seiner Aufmerksamkeit für würdig hielt; auch fühlte er, daß wir recht hatten, uns über eine Nichtachtung zu beklagen, die wir nicht verdienten. Er zeigte sich nicht, aber als wir in das Schloß zurückgekehrt waren, sagte er uns: er habe über sich reden hören, und zwar viel Schlechtes und sehr im Ernst.

»Man ist nicht zum Lachen aufgelegt,« antwortete ich, »wenn man sich über Euch beklagt.«

Diese naive Antwort gefiel ihm.

»Ich erwartete nicht,« versetzte er darauf, indem er mich betrachtete, »in dem Tale von Auge das zu finden, was ich gefunden habe.«

Und dann gestand er uns, daß er unsere für ihn wenig schmeichelhafte Unterhaltung doch mit großem Vergnügen angehört habe.

Von diesem Augenblick an hielt er uns seiner würdig und wir blieben nun unzertrennlich. Die Spaziergänge, die Lektüre, alles vollzog sich gemeinschaftlich.

So brachte ich denn ganze Tage mit einem jungen Kavalier hin, der mir ungemein gefiel, und dem ich doch nicht dachte gefallen zu wollen. Denn es schien mir unmöglich, daß ein Mann, der an den Umgang mit den liebenswürdigsten Frauen an dem glänzenden Hof von Versailles gewöhnt und von ihnen geliebt worden war, die geringste Aufmerksamkeit für ein Geschöpf haben könnte, das weder Schönheit noch die sonstigen angenehmen Eigenschaften besaß, die nur der Verkehr in der großen Welt zu geben vermag. Ich machte Verse, die ich niemandem zeigte, die aber meine Gemütsverfassung deutlich ausdrückten; sie schlossen: Ach, ich würde ihn lieben, wenn ich selber liebenswürdiger wäre.

Indessen genoß ich das Glück, den Menschen, dessen bloße Gegenwart mich schon selig machte, täglich zu sehen. Ich gewann seine Teilnahme, ja sogar seinen Beifall, und dieser äußerte sich auf eine so zartfühlende Weise, daß er der Eitelkeit schmeichelte, ohne die Bescheidenheit zu verletzen. Diese Kunst habe ich später, als ich die Welt kennenlernte, bei keinem Menschen sonst wieder in dem Maße gefunden.

Es gehörte zum guten Ton des Hauses, daß jedermann sich mit ihm beschäftigte, und so konnte auch ich mich dieser Neigung hingeben, ohne daß es besonders auffiel. Trotzdem geschah es mir manchmal, daß ich mich hinreißen und meine Gefühle nur allzu deutlich merken ließ, so daß niemand darüber im unklaren sein konnte.

Unter anderem hatte ich mir einmal eine gestickte Geldbörse aus dem Kloster schicken lassen, und als ich sie ihm gab, warf er die seinige einer Kammerfrau seiner Mutter zu, aber ehe die Börse in die Hände der Kammerfrau fiel, fing ich sie in der Luft auf, um sie selber zu behalten und dies in Gegenwart der Marquise von Sillery, einer der strengsten und ernstesten Frauen, die ich in meinem Leben kennengelernt habe.

Natürlich wollte ich ihm nichts von meinen Gefühlen in Worten aussprechen, suchte aber dennoch mit Leidenschaft ein Zusammentreffen unter vier Augen, das er mit Sorgfalt zu vermeiden schien. Als ich den Grund seiner Vorsicht glaubte erraten zu haben, wünschte ich noch heftiger eine besondere Unterredung mit ihm, die ihm zeigen sollte, wie weit ich davon entfernt sei zu vergessen, was ich mir selbst schuldig war.

Endlich sollte ich diese Befriedigung haben. Wir wollten eines Tages unseren gewöhnlichen Spaziergang machen. Fräulein von Sillery fühlte sich aber nicht wohl und ließ sich entschuldigen. Die Mutter, die nur an die Unterhaltung ihres Sohnes dachte, hieß mich allein mit ihm gehen. Es gab keine Möglichkeit, dies auszuschlagen, und wir wandelten zusammen erst durch den alten Park und dann weit hinaus über die Wiesen an dem weidenbestandenen Bach entlang, den man die Auge nennt. Er ging, ohne ein Wort zu sprechen, neben mir her, mehr in Verlegenheit als ich selber.

Dieser kleine Triumph gab mir den Mut zu reden.

Zuerst verbreitete ich mich über die Schönheit der Wiesen und der Landschaft, aber dies schien mir noch nicht weit genug von dem Thema abzuliegen, das ich vermeiden wollte, und so stieg ich in meiner Rede von der Erde zum Himmel, bis in den Weltenraum hinein. In dieser hohen Region blieb ich schweben.

Herr von Sillery, froh, aus seiner Verlegenheit herauszukommen, ging gern auf mein Gespräch ein, dessen ernsten Stoff wir in Wahrheit wenig ernst behandelten. Ich aber zog den Vorteil aus unserer Unterhaltung, daß Herr von Sillery erkannte, ich wisse sowohl zu schweigen als zu sprechen ... Ich genoß heimlich und in vollen Zügen diese köstliche Freude, die denjenigen unbekannt ist, die den Regungen ihres Herzens zu widerstehen nicht fähig sind.

Von da an wich Herr von Sillery mir nicht mehr aus, und da ich ihn nicht floh, so begegneten wir uns oft. Er schien sich gern mit mir zu unterhalten und ließ mich seine Achtung auf die schmeichelhafteste Weise fühlen.

Bald zeigte er das freundschaftlichste Interesse an allem, was mich anging. Den Beweis dafür ersah ich aus kleinen Ratschlägen, die er mir gern erteilte und die einen unfehlbaren Erfolg bei mir hatten. Kurz, ich fand in ihm alles, was ich wünschen konnte, außer der Liebe, die ich nicht wünschte, wie ich mir einredete.

Ich fand es sehr bequem, zu lieben ohne Furcht und Hoffnung und sicher vor Anwandlungen der Schwäche, nur von der einen Sorge erfüllt, meine Gefühle zu verbergen.

Aber, wie ich schon einmal gesagt habe, dies gelang mir schlecht, und ich zweifle heute nicht daran, daß ein in Liebessachen so erfahrener Mann wie der junge Marquis von Sillery wohl Bescheid wußte und vielleicht klarer als ich selbst die wahre Natur meiner Empfindungen für ihn erkannte.

In Wahrheit ließ er mich dies niemals merken, auch dann nicht, als uns in der Folge ein intimes Freundschaftsverhältnis verband. Von seiner Schwester aber habe ich später erfahren, daß er in Versuchung gewesen, sich zärtlicher an mich anzuschließen. In der Voraussicht jedoch, daß ein solches Verhältnis nicht von Dauer sein könne und in dem leidigen Gedanken an das traurige Schicksal, das er mir für die Zukunft bereiten würde, hatte er es sich versagt, seiner Neigung nachzugeben.

Die Wirkungen der Leidenschaft sind sehr verschieden untereinander. Eine weitgehende Liebeständelei des Herrn von Sillery mit einem Fräulein D., die zu Besuch kam, ließ mich fast gleichgültig, ich glaubte mich erhaben über solchen Dingen; aber tief fühlte ich mich verletzt durch die geringste Aufmerksamkeit, die Herr von Sillery irgendeinem anderen erwies. Hier wurde ich ernsthafter berührt, da es sich um etwas handelte, was ich für mich allein haben wollte, nämlich um seine Achtung und sein Vertrauen, indem ich nicht begriff – so eigensüchtig ist die Liebe –, daß doch die anderen vielleicht ein größeres Recht darauf besaßen als ich selber.

Er bekam zu dieser Zeit eine Menge Briefe und Pakete, und hatte dann immer lange Beratungen mit Mutter und Schwester. Daß es sich um eine für ihn wichtige Angelegenheit handelte, merkte ich wohl; und ich empfand es als eine Beleidigung, daß er mir nichts davon sagte. Ich sprach nun kein Wort mehr mit ihm und gab keine Antwort, wenn er mich etwas fragte. Er bemerkte meine Verstimmung, ohne den Grund davon zu ahnen, und da er wirkliche Freundschaft für mich empfand, wollte er sich darüber aufklären und mich begütigen.

Eines Tages, als ich mich in das Zimmer der Marquise begeben wollte, durcheilte ich rasch einen Vorsaal, wo er nachdenklich auf und ab schritt. Ich tat dergleichen, als ob ich ihn nicht bemerkte. Aber er trat mir in den Weg, hielt mich zurück und nötigte mich Platz zu nehmen. Dann setzte er sich zu mir und sagte, er habe mit mir zu reden.

Und nun sprach er mit soviel Anmut und Gefühl, schien so gerührt von meinem Kummer und so geschmeichelt von dessen Ursache, daß ich niemals zufriedener gewesen war und niemals ruhiger über die Macht, die er auf mich ausübte. Es schien in Wahrheit, als ob seine Seele über die meine herrschte, denn er wurde von keiner Empfindung bewegt, die nicht in mir ihren vollkommenen Widerhall gefunden hätte. Sein Frohsinn, seine Traurigkeit, seine Ruhe oder seine Unruhe, alle seine verschiedenen Stimmungen wurden zu den meinigen, nicht durch ein Bemühen meinerseits, mich ihnen anzupassen, sondern durch eine geheime Sympathie, die meine Seele allzeit rein gestimmt sein ließ auf den Ton der seinigen.

Die bewußte Angelegenheit, deren Geheimhaltung seinerseits mir soviel Kummer bereitete, nötigte Herrn von Sillery, früher als er beabsichtigt hatte und auch früher als er es wünschte, an den Hof zu gehen.

Denn trotzdem dort eine Geliebte seiner harrte, in der er alles fand, was einem Mann von Welt ansteht, so langweilte er sich doch keineswegs zu Hause, denn er hatte hier etwas gefunden, was es in der großen Welt nicht gab, nämlich ungekünstelte Gefühle, deren Wahrhaftigkeit er um so deutlicher erkannte, je mehr man sich die Mühe gegeben, sie ihm zu verbergen.

Seine Abreise, die zwar nicht für immer sein sollte, verursachte mir einen heftigen Schmerz, den ich, so gut es ging, nach außen hin verbarg. Fräulein von Sillery war aufgelöst in Tränen, als er uns Lebewohl sagte. Ich wich seinen Blicken aus, in denen mehr Neugier als Rührung zu lesen stand. Aber als er uns entschwunden war, glaubte ich nicht mehr leben zu können. Meine Augen, an seinen Anblick gewöhnt, sahen nichts mehr von der Welt. Ich mochte nicht mehr sprechen, da er mir nicht mehr zuhörte; es schien mir fast, als ob ich nicht mehr denken könne. Einzig sein Bild erfüllte meine Seele. Ich dachte, wie jeder Augenblick ihn weiter von mir entferne, und mein Schmerz wuchs mit jeder Minute, die diese Entfernung zwischen uns vergrößerte.


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