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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Der Vertrag

Die angeführte lange Unterredung mit dem Kanzler von Armagnac im Gewölbe des Archivs hatte, wie ich es schon sagte, am zweiten Tag im Monat März stattgefunden. Am darauffolgenden Tage, also am dritten des genannten Monats, wurden von beiden kriegführenden Parteien alle Feindseligkeiten eingestellt, und etwa gegen die zehnte Stunde erschien vor dem Tor ein Parlamentierer mit weißem Fähnlein und fand ungesäumt Einlaß. Man führte ihn auf das Kastell vor den Grafen, wonach dieser mit seinen Hauptleuten, seinem Bischof und seinem Kanzler eine mehrstündige Beratung pflegte. Mit einem versiegelten Brief wurde der Parlamentierer später zurückgeleitet.

Am andern Tag aber (am vierten also des Märzen) sah man den Bischof von Lectoure, angetan mit den pontifikalen Gewändern, zusammen mit Meister Gratian Favre, dem Kanzler, dieser im schwarzen Talar, die Stadtgasse zum Tor hinunterreiten, das vor ihnen ohne jede Vorsicht sich öffnete. Und unter dem Vorritt eines gräflichen Herolds mit weißem Fähnlein setzten sie ihre Reise fort, um bald hinter den Palissaden und aufgetürmten Wagenburgen des feindlichen Lagers den Augen der Bürger und Kriegsleute entrückt zu werden, die ihnen auf den Mauern von Lectoure in Verwunderung nachgeschaut hatten.

Erst gegen die fünfte Stunde des Nachmittags kehrten sie zurück, und auf dem Kastell gab es wieder lange geheime Beratungen den ganzen Abend.

Und den nächsten Tag (dem fünften des genannten Monats) wiederholten sich diese Vorgänge. Nur waren diesmal der Bischof und Kanzler noch von Meister Longinus Courtebras, dem Schreiber, begleitet, und ihre Rückkehr erfolgte schon gegen die dritte Stunde nach dem Mittag.

Bald darauf verließ der Graf das Kastell und zwar nicht allein, sondern in Gesellschaft des Herrn Heinrich von Bourbon, Sire von Beaujeu, des Herrn Heinrich von Albret, Sire von Sainte-Baseilhe und des Herrn Reinard du Lion, Seneschalken von Toulouse. Die Herren ritten auf reichgeschmückten Streitrossen, und die Gefangenen des Grafen waren in voller kriegerischer Rüstung. Nur der Graf selber erschien ungepanzert. Er trug sein Schwert über ein langes seidenes Gewand gegürtet, das war weiß mit goldener Stickerei, und auf dem Haupte trug er einen Hut von schwarzem Samt mit drei wallenden weißen Federn. Er hielt sich in stolzer Haltung zur Rechten des königlichen Eidams und Prinzen von Bourbon, der mit seinem bartlosen, blatternarbigen Gesicht ein wenig gekrümmt auf seinem Gaul saß, daß man ihn fast für eine geringe Dienstperson hätte halten mögen.

Aber der Herr von Armagnac sprach in großer Freundlichkeit zu ihm und seinen Mitgefangenen, wie zu allen Freunden.

Also sah man diese Vier in zwangloser Art und unter lebhaften, heiteren Gesprächen über den Markt bei St. Stephans Münster und darauf die mittlere Stadtgasse hinunter dem Tore zureiten, worüber es aus den Fenstern der Bürgerhäuser ein großes Gaffen und Verwundern gab und auch von vielen Seiten ein erstauntes Kopfschütteln. Denn die Bürger von Lectoure mochten sich das Betragen des Grafen gegen seine Gefangenen anders gedacht haben.

Es waren dieselben aber von Anfang an von dem Herrn von Armagnac nickt wie niedergeworfene Feinde, sondern mit großer Höflichkeit und wie Gäste behandelt worden. Sie hatten täglich den gräflichen Tisch geteilt, woselbst die junge Herrin, als Vertreterin der Gastlichkeit des Hauses, ihnen stets mit aller Freundlichkeit und Aufmunterung entgegengetreten ist. Und der so ungestüme Haß des Hauses Armagnac gegen unsern Herrn Ludwig und seine Anhänger hatte sich in Gegenwart der Königlichen, gelegentliche, leicht geschürzte Scherzreden ausgenommen, ein unverbrüchliches Schweigen auferlegt. So gebot es die Ritterlichkeit gegen Haus- und Tischgenossen.

Und also ritt denn der Graf von Armagnac, festlich gekleidet, mit seinen Gefangenen bis an das Tor, das sich in demselben Augenblick weit auftat, worauf der Graf unter ritterlichen Formen sich von ihnen wie von Freunden verabschiedete.

Bei der Umkehr des Herrn von Armagnac aber lief überall in Haufen das Volk zusammen, ganz voll freudiger Aufregung, und rief dem Grafen von allen Seiten Begrüßungen, Dank und Beglückwünschungen entgegen; denn wie ein Lauffeuer hatte es sich kurz vorher verbreitet, der Friede sei geschlossen und die Stadt in dem Vertrage wohl bedacht worden, sie solle weder gebrandschatzt, noch geplündert, noch irgendwie in ihren Stadtrechten und Privilegien vermindert werden.

Indessen begann auf dem Kastell unter den Anordnungen des gräflichen Hausmeisters und seiner Gehilfen eine aufgeregte Tätigkeit mit verpacken von kostbaren Stoffen und Geräten, Geschirren und Kleinodien, mit Vernieten und Verlöten von Truhen, Schränken und Kästen und tausenderlei ähnlichen hastigen Besorgungen, wie die Abrüstung eines großen Haushaltes sie mit sich bringt, daß es mir ganz schwindlig wurde im Kopf vor all dem Tumult.

Noch größer aber als der Aufruhr außer mir, in den Sälen, Hallen, Gängen und Höfen, war das tolle Durcheinander in meinen Gedanken, in die ich nicht Klarheit noch Ordnung bringen konnte.

Es lief aber das ganze Treiben im Schloß darauf hinaus, daß nach den getroffenen Vereinbarungen die Belagerer am andern Morgen im Namen des Königs von dem Kastell Besitz ergreifen sollten; darum, um seinem Stolz zu genügen und den andern die kleine Enttäuschung zu bereiten, das Nest leer und den Vogel ausgeflogen zu finden, hatte der Graf beschlossen, schon am Vorabend die Räumung seiner Burg ins Werk zu setzen und in einem leerstehenden, weitläufigen Haus am Markt sich für die Nacht eine provisorische Residenz aufzuschlagen.

Diesen Sinn der Sache erfuhr ich aber erst sehr spät in jener Nacht, als ich mich, wohl durch Fügung des Kanzlers, in einer Giebelkammer des gedachten Hauses mit Meister Gratian Favre zur gemeinschaftlichen Nachtruhe zusammengefunden hatte.

Wir dachten beide, so spät es war, nicht an Schlaf, denn ich war tief verängstigt in meiner Seele, und der Kanzler seinerseits fühlte das Bedürfnis, sich im Vertrauen viel Schweres vom Herzen herunter zu reden.

Die Grundlage unserer Aussprache aber bildeten die abgeschlossenen Verhandlungen zwischen dem Grafen und den Königlichen, wie sie ins Werk gesetzt worden einerseits durch die gräflichen Bevollmächtigten, den Bischof von Lectoure und den Kanzler Meister Gratian Favre, andererseits durch Seine Eminenz den Kardinal Godefredi, Erzbischof von Alby, und Meister Düfou, den Geheimschreiber des Königs, nebst dreien königlichen Feldhauptleuten: dem Herrn Karl von Albret, Grafen von Astarac, dem Sire von Balzac, Seneschalk von Beaucaire, und dem Herrn Raimund von Daillon, Sire von Lelüde.

Und dies waren die Hauptpunkte der getroffenen Vereinbarungen, soweit dieselben den Grafen von Armagnac betrafen:

Primo: Die Grafschaft von Armagnac solle an den König zur Belehnung eines ihm genehmen Vasallen anheimfallen, zu dessen Gunsten der bisherige Graf von Armagnac auf alle seine Domänen, Städte und Burgen freiwilligen Verzicht leistet, mit Ausnahme der Herrschaften von Cause, Flourence und Nogaro, die ihm verbleiben sollen, nebst einer Entschädigung von 12 000 Livres jährlicher Rente.

Secundo: Von allem, was der Graf gegen Seine allerchristlichste Majestät verbrochen oder Sträfliches unternommen haben mochte, solle er frei und ledig gesprochen werden und solle ihm ein königlicher Freibrief ausgehändigt werden, um, ungefährdet seiner Person und Freiheit, etwaige Klagen und Beschwerden beim König und dem Parlament vorbringen zu können.

Gemäß dieses Artikels wurde dem Grafen schon jetzt für sich und ein Gefolge von sechshundert Pferden der gedachte, vom König eigenhändig unterschriebene und gesiegelte Freibrief eingehändigt.

Tertio: Das Kriegsvolk, die Edelleute, die Vasallen und Dienerschaft des Grafen sollen frei sein und sich ungehindert überall hin verfügen können nach ihrem Belieben.

Quarto: Die Stadt Lectoure solle (wie es schon gesagt wurde) weder zerstört, noch geplündert, noch in ihren städtischen Privilegien beeinträchtigt werden.

Diese fünf Artikel waren bereits während des abgelaufenen Tags in doppelter Ausfertigung von den oben genannten beiderseitigen Bevollmächtigten unterschrieben und feierlich beschworen worden.

Ich fand diese Bedingungen gegen alles Erwarten günstig und äußerte gegen den Kanzler in diesem Sinn meine Verwunderung.

Meister Gratian, der an dem qualmenden Docht der Öllampe auf dem nackten Tisch vor uns herumgestochert hatte, sah zu mir auf und nickte dann einigemal stumm vor sich hin.

»Diese Bedingungen«, sagte er endlich, »sind der stärkste Beweis für die Richtigkeit meines Urteils, wie ich es vor drei Tagen schon vor Euch ausgesprochen habe. Denn niemals würde der König sich auf so weitgehende Zugeständnisse eingelassen haben, ohne durch die eigene gefahrvolle Lage dazu genötigt zu sein. Ein Kind vermag das einzusehen.«

Ich empfand fast Mitleid mit dem Kanzler. Der traurige Blick aus seinen geröteten Augen drückte eine große Entmutigung aus. Oder war es nur die Gekränktheit des Ratgebers, der seinen Rat verschmäht sah?

»Ein Kind hätte es eingesehen,« wiederholte er. »Der Graf aber hat mich zuletzt barsch abgewiesen, und, was schlimmer ist, hat mich gezwungen, einen Vertrag zu unterzeichnen, der – –«

Meister Gratian redete seinen Satz nicht zu Ende, er versank in trübes Brüten.

»Günstige Bedingungen!« rief er plötzlich in bitterscharfem Ton. »Auf Seiten des Grafen ist es trotz allem eine feige und schmähliche Abdankung. Für einen andern, ja, wäre diese Kapitulation vielleicht ehrenvoll; aber die von Armagnac haben die Welt verwöhnt; seit Jahrhunderten gab es für sie nur dies: sie konnten untergehen, aber keiner konnte leben ohne Größe.«

Mir war es, als ob ich ähnliche Worte schon gehört hätte. Ja, so hatte, nur noch stärker, Bertrade gesprochen auf der Burg zu Nogaro.

»Und was ist«, fragte ich unwillkürlich, »die Meinung der Herrin in dieser Sache?«

»Sie ist ein Weib,« antwortete der Kanzler, »damit ist alles gesagt – ein Weib, das liebt. Ihr ganzes Wesen hat sich in Liebe verwandelt, wie das des Grafen in Besorgnis. Die Stolze, gegen den Grafen kennt sie nur noch Unterwürfigkeit. Ihm vertraut sie blindlings. Er hat sie überredet. Und ach, so leicht ist niemand zu überreden als ein liebendes Weib, von dem, den sie liebt; denn ihr gilt für Verbrechen schon der leiseste Zweifel an der Unfehlbarkeit des Geliebten. Kurz, er brachte sie dahin, auf diesen elenden Vertrag überkühne, überstolze Hoffnungen aufzubauen, wenn das königliche Heer nur erst wieder abgezogen ist, so trug es der Graf ihr vor, werde er mit Hilfe der zu Nogaro vergrabenen Schätze seine Grafschaft zurückerobern und gefürchteter dastehn als je. Und so viel ist richtig, er hat auf der Burg zu Nogaro in unterirdisch heimlichen Gewölben große Reichtümer verborgen, und den königlichen Jahrgehalt hat er sich vor allem darum ausbedungen, daß man ihn für arm halten solle.«

»Was denkt Ihr davon?« fragte ich.

Der Kanzler antwortete nicht darauf, er stocherte wieder mit dem Putzhaken an dem qualmenden Docht unserer trüben Lampe, und trüber noch als diese blickten seine Augen. Wie ein schmerzlicher Seufzer kam es ihm von den Lippen:

»Wenn er nur nicht gar betrogen ist obendrein!«

Und aus seinen geröteten Augen traf mich ein durchdringender Blick.

Ich verstand beides, Blick und Wort.

Der Kanzler traute dem König nicht Treu und Glauben zu, er hatte sich allzu oft schon in diesem Sinn geäußert. Was möchte er mir aber wohl geantwortet haben, wenn es mir für einen Augenblick gegeben worden wäre, das Künftige zu schauen und ich ihm in das Gesicht vorhergesagt hätte, was ihm selber noch vor Ablauf von vierundzwanzig Stunden widerfahren sollte.

An den königlichen Treubruch aber, den der Kanzler zu befürchten vorgab, kann ich trotz der Ereignisse des kommenden Tages noch heute nicht glauben, sondern neige in meinem Denken dahin, daß die Verruchtheiten schlechter Diener nicht dem Herrn und die leidenschaftlichen Ausschreitungen roher und rachsüchtiger Vasallen nicht der geheiligten Majestät zur Last gelegt werden dürfen.

Wie dem aber auch sei, so steht doch außer Zweifel, daß der Graf von Armagnac durch sein Vergreifen am eigenen Blut sich selber außerhalb alles Gesetzes gestellt und letztlich auch den Vertrag mit dem König, wie der Kanzler bestätigte, nur mit dem Hintergedanken geschlossen hatte, ihn zu brechen, sobald ihm dazu die Möglichkeit wurde.


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