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Neunzehntes Kapitel

Die Skrupel des Meister Gratian

Nachdem Meister Gratian Favre also erzählt hatte, schwiegen wir beide eine geraume Weile. Der Kanzler hatte sich, wie fröstelnd, den schwarzen Talar enger um die mageren Glieder geschlagen und stierte aus seinen geröteten Augen wie in schweren Gedanken vor sich hin, und seine brauenlose Stirn über dem rotbebarteten Gesicht schien mir noch tiefer gefurcht als gewöhnlich.

»Mann der Kutte,« sprach er dann plötzlich, »warum haben wir nie davon gesprochen?«

Ich verstand, was Meister Gratian meinte, aber ich wußte nicht, was ich darauf antworten sollte.

»Ich kenne natürlich Eure Gedanken ohnedies, Ihr braucht nicht erst zu reden,« beantwortete der Kanzler mein Schweigen, »und wenn meine Gedanken auch eine andere Farbe tragen als die Euren, so laufen sie doch auf dasselbe hinaus: Es ist eine heillose Sache.«

»Eine gottlose Sache,« versetzte ich.

Wieder entstand ein peinliches Schweigen.

»Wenn er nur wenigstens das eine nicht getan hätte,« meinte darauf der Kanzler, »diese förmliche Vermählung. Ich habe ihm das Gefährliche dieses Schrittes eindringlich genug vorgehalten, aber ganz vergeblich. Mit zorniger Entrüstung fiel er mich an. Wessen ich mich unterfange, ihm zu raten, die Schwester in Unehren zu halten ihr Leben lang. ›Soll ich mir vorwerfen lassen, die zur Hure gemacht und für immer mit Schande überhäuft zu haben, die mir die nächste im Blute ist?‹ rief er in wilder Erregtheit.

»Vor seinem Zorn mußte ich mich beugen. Gebilligt habe ich den Schritt nie, ich fürchtete schlimme Folgen. Es ist wahr, die heimliche Schande war geschehen und war auch längst ruchbar geworden in Stadt und Grafschaft. Aber das war eine uneingestandene Sache. Dem Grafen durfte niemand davon reden. Niemand durfte die heimliche Schande laut mit Namen nennen. Die Vasallen des Grafen konnten die Augen zudrücken vor dem Namenlosen. Oh, sie waren alle auch keine Engel. Es war da nicht einer, der in der Zügellosigkeit dieser Tage nicht irgendwie sich mit heimlicher Schuld beladen hätte. Einer unter ihnen, ich will ihn nicht nennen, hatte die Tochter seiner Frau aus der vorigen Ehe geschändet und lebte mit ihr. Als aber die Tat offenbar zu werden drohte und ein Gemurmel sich erhob, da verschwand das Fräulein in einem Kloster. Nun redete kein Mensch mehr davon, es ist bald Gras darüber gewachsen, und heut ist die Geschändete eine hochgeehrte Äbtissin in einem illustren Haus, das ich nennen könnte, und steht im Geruch der Heiligkeit wegen der Strenge ihrer Sitten wie ihres Regiments.

»Ein anderer, ein Nachbar des ersten, hat aus dem Kloster der Clarissinnen bei Nogaro zwei junge Nönnchen entführt, zwei zu gleicher Zeit, die beiden jüngsten und weißesten Täubchen, und hat sie erst nach drei Monaten wieder in ihre heilige Zuflucht zurückgeschickt, wo sie beide später an demselben Tag entbunden wurden, doch niemand konnte ihm die Tat beweisen – die entführten Bräutchen des Herrn Jesus wußten nicht wie und wo – und seine Standesgenossen sprachen darüber unter sich mit mehr Scherz als Ernst. Man ist in diesem Land von großer Nachsicht gegen alle Sünden zwischen Mann und Weib, wenn dabei ein Stückchen Sakrilegium oder ein kleiner Inzest mit durchschlüpft, man kann nicht alles so genau nehmen. Die Menschen hätten heute viel zu tun, wenn sie alle Verbrechen dieser Art aus ihren dunkeln Schlupfwinkeln hervorzerren wollten. Kopfscheu werden sie nur, wenn man von ihnen verlangt, der Sache öffentlich Sanktion zu geben. Ein öffentlicher Heide will keiner sein.«

»Dessen rühmt sich allein der Graf von Armagnac,« bemerkte ich voll Betrübnis.

»Haltet ein,« rief der Kanzler, »sagt nicht zu viel. Ja, er mag sich manchmal rühmen in seinem kecken Mut, wenn es die Stimmung der Stunde so mit sich bringt. Er ist wahrscheinlich kein Christ in seinem Herzen, und er mag die christlichen Priester, wenn es ihm paßt, mißhandeln; aber es würde ihm nicht einfallen, sie abschaffen zu wollen. Nein, das würde ihm nie auch nur von weitem in den Sinn geraten. Es ist das ein Gedanke, den er ganz sicher nie gedacht hat. Auch er rechnet mit den Notwendigkeiten. Nur die Unmöglichkeit seiner Vermählung wollte er nicht einsehen. Sogar eine große öffentliche Hochzeit wollte er machen und alle Vasallen dazu laden. Ihr erinnert Euch jenes Abends nach der Rückkehr des Bischofs von Rom, als Ihr selber das Breve des Papstes vorlesen mußtet. Da gab es finstere Gesichter und mißvergnügte Mienen, und der Graf erkannte, daß er zu viel aufs Spiel setze. Er verriet, die Wenigsten würden der Einladung zu seiner Hochzeit Folge leisten. Und so lenkte er ein. Nachher, zur vollendeten Tatsache, schwiegen sie; aber heimlich grollen sie ihm bis auf diesen Tag.

»Eine heimliche Vermählung, hörte ich neulich einen sagen, schickt sich nicht für einen Armagnac. Die öffentliche feierliche Vermählung wäre ihnen als ein groß Ärgernis erschienen, die heimliche aber ärgerte sie erst recht als eine Art Zugeständnis und feige Rücksicht. Sie sind ihm nicht mehr so rückhaltlos ergeben wie vorher, und ich fürchte, im schwierigen Augenblick wird er ihrer nicht sicher sein, ich fürchte.«

Meister Gratian versank in sorgenvolles Schweigen.

Ich aber, mein Heiland und Erlöser neigte das Haupt in großer Zerknirschtheit. Sogar dieser gräfliche Diener, sagte ich mir in meiner Seele, hat den Mut gefunden, seinem Herrn Vorstellungen zu machen, wo ich feiger Knecht Gottes ganz willenlos wurde vor dem befehlenden Worte eines Sterblichen. Noch nie sah ich meine Feigheit in so scheußlicher Gestalt wie in diesem Augenblick.

»Ich kann mich nicht mehr entsinnen,« sprach der Kanzler nach einer Weile, »welcher alte Autor es war, wo ich einmal den Satz gelesen habe, ungefähr dieses Inhalts:

›Wenn die neidischen Götter ein ruhmreiches Geschlecht verderben wollen, dann verhängen sie über den letzten dieses Geschlechts eine Art Wahnsinn, daß er unerhörte Taten begehen muß, solche Taten, um die ganze Welt wider sich zu empören.‹ Warum aber mußte das unserem stolzen Herrn Johannes begegnen, dem freilich gerade dieser sanfte Name wie zum Spott gegeben scheint.«

Was sollt ich dem Kanzler erwidern? Von Göttern sprach er; wußte er nicht, daß das, was die Heiden ihre Götter nannten, nichts anderes waren als Fürst Satanas und seine Heeresfolge, und hatte dieser Fürst der Auflehnung in dem Gelbgesichtigen nicht greifbar und fühlbar dem Grafen einen seiner Geister zugesellt als verderbensinnenden Lenker und Ratgeber? Aber davon zu dem Kanzler zu reden scheute ich mich, denn er war, wie ich wohl wußte, ein Ungläubiger in diesen Dingen. Auch gingen ihm ganz andere Gedanken durch den Kopf, wie ich bald aus seiner Rede merken sollte.

»Warum hat er auch die Schwester nicht dem Herrn Gaston von St. Leu gegönnt,« sagte er plötzlich unvermittelt nach längerem Schweigen; »der hat sie geliebt mit der ganzen Kraft seiner unschuldigen Jugend und hätte sie behütet wie seinen Augapfel.«

Diese Worte in dem Munde des Geschäftsgewandten verwunderten mich.

»Hätte sie es gewollt?« fragte ich. »Mir ist es aufgefallen, daß sie den Herrn Gaston niemals auch nur eines Blickes gewürdigt hat.«

»Ja, ja, der Graf hatte es ihr angetan von Anfang,« sprach Meister Gratian, und mich wunderte sein ruhiger und natürlicher Ton und daß ihn nicht schauderte bei seinen eigenen Worten.

Da konnte ich doch nicht länger zurückhalten.

»Und das hätte mit natürlichen Dingen zugehen können,« rief ich aus.

»Nichts natürlicher,« versetzte des Grafen Sachwalter in seiner trockenen Art, indem er die gelbgewimperten, geröteten Augen ruhig auf mich gerichtet hielt. »Habt Ihr schon gehört, wie kleine Mädchen phantastische Märchen lesen, etwa die Geschichte vom König Artus und seiner Tafelrunde oder von den vier Haymonskindern, und sich dabei in einen Prinzen und Helden, der in dem Märchen vorkommt, in ihrer Phantasie vernarren und ihn zu lieben glauben, der doch nur das blutlose Geschöpf eines müßigen Fabulierens ist, eine reine Einbildung ohne alle Realität, kurz ein Nichts. Und seht, so ist es Bertrade ergangen, sie hatte den Grafen so viel wie nie gekannt. Sie wußte ihn in der Fremde weilen, in fabelhaften Fernen, und nur aus märchenhaften Erzählungen wußte sie von ihm; er wurde ihr Märchenprinz, und daß es ihr Bruder sei, konnte sie sich gar nicht denken. Sie lebte ja ganz nur in der Phantasie, in der Welt der Poeten, und Ihr selber, frommer Vater, habt ihren Geist mit dieser gefährlichen Nahrung gefüttert.«

Du weißt es, mein Gott und Herr, wie mich dieses Wort des Sprechers hart berührte und wie ich ihm recht geben mußte in der Seele.

»Ja,« meinte der Kanzler wieder, »sie hätte sich vielleicht gesträubt gegen den Ritter von St. Leu; aber hat man je eine Prinzessin bei ihrer Verheiratung viel um ihre Neigung gefragt? Und als man Bertrade noch in der Wiege mit König Heinrich von England verlobt hat, hat man sich da vergewissert, ob sie den König auch liebe? Und war es nicht dasselbe mit dem Grafen Peter von Foix?«

Ich mußte, während Meister Gratian sprach, an den schrecklichen Auftritt denken zwischen dem Grafen von Armagnac und Herrn Gaston von St. Leu, hier in diesem nämlichen Gewölbe, wo wir jetzt zusammen sprachen, und aus diesem Erinnern heraus antwortete ich dem Kanzler.

»War ein jüngerer Sohn mit einer ärmlichen Apanage«, sagte ich, »nicht zu gering für die Jungherrin von Armagnac?«

»Es wäre vielleicht sogar«, erwiderte Meister Gratian, »eine politisch vorteilhafte Sache gewesen. Der Graf von Astarac, der Vater des Herrn Gaston, ist heut der einflußreichste Mann beim König von Frankreich, er hätte leicht unsern Herrn mit Ludwig versöhnt und einen ehrenvollen und günstigen Frieden ausgewirkt.«

Als der Kanzler so sprach, dachte ich, daß eine solche Rede nicht auf große Zuversicht deute in Hinsicht auf die nächste Zukunft, und ich erlaubte mir in diesem Sinn eine ausforschende Bemerkung. Meister Gratian antwortete mir ohne Rückhalt.

»Noch steht alles gut,« sagte er, »wir haben zwar Kundschaft, daß der König seit seinem Frieden mit dem Burgunder gegen seinen Bruder, Herrn Karl von Guyenne, in versteckter Feindseligkeit vorgeht, ja einen Teil seiner Truppen bereits an der Grenze von Guyenne zusammengezogen hat, unter anderem im Süden von Angoumois, wo der Sire von Crusol kommandiert, und zu Niort unter dem Oberbefehl seines Feldhauptmanns Conneguy Duchâtel, während der Sire von Beaujeu, der königliche Eidam, gar schon die Garonne überschritten haben soll. Aber keiner von den dreien ist bis jetzt angriffsweise vorgegangen. Denn noch immer hat der Lutz Grund genug, den Friedfertigen zu spielen. Sein Bruder hat allzu mächtige Verbündete, und wenn es zum offenen Kriege kommt, muß Ludwig gewärtigen, daß ihm Eduard von England auf der einen und Franz der Bretagner auf der andern Seite in den Rücken fällt. Eine ernstliche Gefahr liegt nur in der schlechten Gesundheit des Herrn Karl, dessen Blut sich mehr und mehr verschlechtert. Er hat sich, wie uns gemeldet wurde, von seiner Burg zu Bordeaux nach der Abtei von St. Jean d'Angely tragen lassen. In dieser Abtei aber hat er sich längst sein Grabmal gestiftet, also daß seiner Zuflucht dahin von aller Welt eine fast unheimliche Bedeutung beigelegt wird.«

Eine tiefe Besorgtheit prägte sich in den Zügen des Kanzlers aus, während er dergestalt mit gedämpfter Stimme von diesen ernsten Dingen sprach. Und dann wurde seine Rede von dem Läuten der Glocke auf dem Uhrturm unterbrochen, und wir verfügten uns zur Mittagstafel.


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