Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel

Wie Bertrade vom Grafen erst nicht erkannt wird

Erst am Freitag in der Heiligen Woche meldete sich am Tor unsrer Burg ein gräflicher Abgeordneter. Es war der Abt von St. Macaire, ein Bastardbruder des Grafen und im Ansehen und Gehaben mehr Kriegsmann als Geistlicher, kurz, einer jener neuzeitlichen Äbte, die nie ihren Fuß über die Schwelle ihrer Abtei gesetzt haben, deren Pfründe sie beziehen. Sein kurzer, schwarzer Krausbart verdeckte kaum die breite Narbe einer Hiebwunde, die sich ihm als roter Streifen von der linken Backe über die Oberlippe zog. Auch zwei Zähne hatte ihn dieser Hieb gekostet, so daß nun die stehengebliebenen zwei Vorderzähne ihm wie Zähne eines Raubtiers über der vernarbten Oberlippe hervorragten. Mit einem stattlichen Gefolge von Edelleuten und Knechten erschien er, durch den der Graf unsere Herrin auffordern ließ, sich unverweilt nach Lectoure zu ihrem Gemahl zu verfügen.

Während die Gräfin dem Abt von St. Macaire kurz Antwort gab, fühlte ich plötzlich ein leises Zupfen am Ärmel meiner Kutte. Ich sah mich um und blickte Bertrade ins Gesicht. Ihre großen Augen unter den kohlschwarzen Bogen schienen mir noch dunkler als gewöhnlich und ihre Stirn und Wangen leuchteten nicht wie sonst im matten Ton des jungen Elfenbein, sondern in der Blässe des frischen Marmelsteins.

»Seht Ihr,« flüsterte sie, »von mir ist nicht die Rede. Er hat vergessen, daß er eine Schwester besitzt.«

Dieser Tag ging mit Zurüstungen zur Reise hin, ich selber machte einen Besuch in unserem Kloster, um mich von unserm Vater Prior und den Brüdern unter Tränen zu verabschieden.

Oh, hätte es doch Gott gewollt, daß ich damals unter ihnen zurückbleiben durfte! Er hatte es anders bestimmt, und am nächsten Morgen mit Aufgang der Sonne stiegen wir alle, an die hundert Personen, das Gefolge des Herrn von St. Macaire mit eingerechnet, die einen auf ihre Pferde, die andern auf Maultiere und gelbüberspannte Karren. Und dann setzte sich, aber viel ruhiger und stiller als sonst, wenn es zur Jagd ging, der Zug in Bewegung, durch das innere und äußere Tor, und über die niedergelassene schwindelnde Hängebrücke die holprige Stadtgasse hinunter, hart vorbei an der Pforte unseres Klosters, wo die Brüder gerade die Metten sangen; und dann durch das dunkel überdachte Sparrenwerk des Brückenstegs hinaus in das morgengraue Tal mit seinen Pappeln längs des gewundenen Flusses, auf denen so oft meine Augen betrachtend verweilt, aus dem Fenster meiner stillen Klosterzelle lange Zeit und dann, seit vier Monaten, von meinem hohen Turmgemach her, das mir allmählich lieb und vertraut geworden war, trotz so vieler Stunden voll Bangigkeit und quälender Zweifel. Und blickte sehnsüchtig zurück zu unserm Klösterlein, wo die Glocke das Ave läutete, nicht ahnend, unter welchen Verwirrungen und Nöten, äußeren und innerlichen, ich eines Tages darin von neuem Zuflucht finden sollte.

Weiter dann ging's im Tal der Gionne abwärts und später nahmen wir den Weg links über die Weinhügel auf die Stadt Mauvezin. Diese Stadt und Burg, die erste in der Grafschaft Armagnac, erreichten wir gegen die zehnte Stunde des Vormittags. Wir fanden den Ort wie ausgestorben. Niemand zeigte sich in den Gassen, und der Abt von St. Macaire verfehlte nicht, bei dieser Gelegenheit fürchterliche Drohungen gegen die Einwohner auszustoßen. Nur die Einsprache unserer Herrin hinderte ihn für den Augenblick an rohen Gewalttätigkeiten. Die Jungherrin von Armagnac aber hätte ihn am liebsten noch dazu ermutigt. Ich ritt in ihrer Nähe und konnte sie beobachten. Ihr zarter, schlanker Körper bebte vor Zorn. Dieses Hundepack! hörte ich sie mehreremal dem Abt von St. Macaire zurufen.

Hier wurde es sichtbar, wie sehr die allerchristlichste Majestät des Königs während der wenigen Jahre ihrer Herrschaft im Lande die Herzen des Volkes für sich gewonnen hatte, daß alles in Furcht und Schrecken dem drohenden Neuen entgegensah.

Denn der fromme König, unser Herr Ludwig, ein rechter Abscheu der großen und eigenmächtigen Vasallen, war geliebt von allem kleinen Volk, nicht nur weil er die geringen Leute schützte vor den Gewalttaten der Mächtigen, sondern, wie ich glaube, noch mehr wegen seiner aufrichtigen und kindlichen Frömmigkeit, die jedermann von je an ihm beobachten konnte, wenn er, demütig gekleidet, im braunen Mäntelchen mit Muscheln beheftet, dem ärmsten Pilger gleich, die heiligen Orte besuchte, wie das Haus Unserer Frau von Embrun, zu der er eine absonderliche Verehrung trug, oder die Kapelle Unserer lieben Frau von Clery, deren Kanonikus er geworden war, oder das Schwarze Bild zu Pay in den felsigen Bergen des Jura, oder die Muttergottes vom Schnee zu St. Claude im Gebirge Chantal, und andere Stätten der Frömmigkeit und göttlichen Gnade.

Und ist gar nicht zu begreifen, wie der König zu so vielen frommen Fahrten die Zeit erübrigt, da man doch meinen sollte, daß seine vielen Feldzüge, bald gegen den übermütigen Burgunder, bald gegen den König von England und den Herzog von der Bretagne, bald gegen den eigenen Bruder, den Herrn Karl von Guyenne, schon alle seine Tage und Stunden in Anspruch nehmen mußten.

Daran mußte ich lebhaft denken, wie ich so auf meinem Eselein unter dem Volk der Reisigen mit dahin ritt.

Denn ich hatte kurz zuvor Unsern Herrn Ludwig, den König, selber von Angesicht zu Angesicht gesehen. Nur fünfzehn Monate war es her. Der König machte damals eine Pilgerfahrt nach Heilig Geist bei Bajeux, nicht wie sonst von bewaffnetem Kriegsvolk begleitet, sondern heimlich und unerkannt, in armer Gestalt, der Feinde wegen, die von allen Seiten auf ihn lauerten. Und in unserm Klösterlein nahm er eines Abends Herberge. Da sah ich ihn am Morgen bei der Mette vor dem Altar der Jungfrau Maria knien, zwei lange Stunden auf kaltem Stein. Sein Mäntelchen war von ganz gemeinem groben Barchent, an der Schulter waren Muscheln aufgeheftet. Über seinen gefalteten Händen hielt er ein altes Hütchen aus gefilztem Haar vor sich mit einem bleiernen Bildchen der Jungfrau, wie das fahrende Volk sie den armen Landleuten zu verkaufen pflegt, und alle Paternosterlänge küßte er das Bildchen mit heißer Inbrunst. Und noch viele andere Bleifigürchen, verschiedene Heilige darstellend, die er sich zu seinen besonderen Patronen erkoren, waren um das Rund des Hütchens angebracht, und alle adorierte der König und küßte sie. Man hätte ihn für einen frommen Bettler halten mögen, obwohl jeder, den er ansah, unwillkürlich zusammenfuhr und bescheiden die Blicke zu Boden richtete, so durchdringend, ja erschreckend war der Strahl seines Auges.

Unserem Vater Prior hatte er sich geoffenbart, und ehe er seiner Straße weiterzog mit seinen sechs Begleitern – sie waren alle anzusehn wie arme Pilgrime – da hinterließ er dem Dominus Guilbertus, unserm Vater Prior, eine Verschreibung auf dreiunddreißigtausend Taler in Gold für die Kirche des Klosters und dreihundert Taler zur Austeilung unter die Armen, und ist hernach unserm Vater Prior von dem Schatzmeister des Herrn Ludwig in dessen Stadt zu Tours alles auf Heller und Pfennig ausbezahlt worden.

Als aber an dem gedachten Abend der Herr König unerkannt bei uns eintrat, trug er einen Sack über der Schulter mit einem Inhalt von schwerem Gewicht, und denselben Sack mir dem zerrenden Gewicht trug er wieder auf dem Rücken, als er am andern Morgen durch die Klosterpforte seines Weges zog. Was aber der Sack zu bedeuten harte, das erzählte uns unser Vater Prior nach dem Mittagsmahl im Refektorium.

Nämlich also erzählte er:

Vor vielen Jahren, als Herr Ludwig, nach dem Tode unseres Herrn Karl, seines Vaters, nach Reims kam, zusammen mit seinem Ohm Johann von Burgund und vielen andern Großen seines Reiches, um zum König gesalbt zu werden, da war, wie immer bei solchen Gelegenheiten, ein groß Zusammenlaufen in der Stadt, denn alles trachtete danach, den neuen König von Angesicht zu Angesicht zu schauen. Und war da auch, unfern vom Tor, wo der König einzog, ein leichtfertiger Page mit seinem Mädchen auf ein Dach geklettert, und gerade als unten in der Gasse der Herr Ludwig vorüberschritt an der Seite seines Oheims von Burgund, die Pferde wurden ihm voraufgeführt, weil es vor dem Ritterschlag des Königs war, da stieß der Page oben, den sein Mädchen neckte, unvorsichtig an einen großen Stein am Rand des Daches. Und siehe, der Stein verlor seinen Halt und schlug nieder aus der Höhe und streifte dergestalt die Person unseres Herrn Ludwig, daß er ihm den hängenden Ärmel vom Wamse riß und hart an seiner großen Zehe zu Boden fiel. Einen Augenblick stand Herr Ludwig erschrocken und blickte wild um sich, denn man weiß, wie bös er blicken kann. Aber dann sank er plötzlich nieder auf die Knie und küßte den Stein und sprach ein inniges Dankgebet. Unterdessen hatte man den Pagen ergriffen, und als der König sich erhob, stand der Arme, an allen Gliedern zitternd, von zwei Schergen festgehalten, ihm vor den Augen. Doch Herr Ludwig sah ihn freundlich an. Gebt den Cherubim frei, sagte er, der allmächtige Gott hat sich seiner bedient, um allem Volke kund zu tun, daß die Person des Königs, und sei es selbst vor der heiligen Salbung, unverletzlich ist. Den Stein aber ließ Herr Ludwig aufheben und in sein Quartier bringen und gelobte dann diese Pilgerfahrt nach Heiliggeist bei Bajeux, wohin es unter allen Orten des Königsreichs am weitesten ist von der Stadt Tours aus, wo der König seine Residenz hat.

Und also, meine Söhne, endete Dominus Guilbertus seine Erzählung, erratet ihr nun den Inhalt des Sackes auf dem königlichen Rücken? Es ist jener Stein von Reims und der König auf dem Weg, sein lang verschobenes Gelübde einzulösen.

Da bewunderten wir noch mehr als am Morgen die Frömmigkeit des Herrn Ludwig, die nur, so urteilten wir, von seiner Freigebigkeit gegen Gottes Diener übertroffen wird.

Und darum liebte das Volk den Herrn Ludwig, der vor aller Augen in unscheinbarer Gestalt und Demut wandelte und die eingezogenen Güter der Rebellen nicht für sich behielt, sondern die Kirchen Gottes und die Häuser der gottseligen Orden damit begabte. Wie er denn solche überall neu begründete und ihre Kapellen nicht nur mit großem Reichtum ausstattete, sondern auch alle mit Gebeinen der heiligen Märtyrer versorgte, als welche er, da er eine große Ehrfurcht für sie hegte, in edelsteingeschmückten goldenen Schreinen verehren ließ, indessen an seiner eigenen Person, sogar bei feierlichen Anlässen, weder Gold noch kostbare Seide, noch edel Gestein je gesehen worden ist.

Solches bei mir im Herzen betrachtend und mit einem dunkeln Vorgefühl in der Seele – nicht des Kommenden, denn dieses Furchtbare lag außer allem menschlichen Ahnungsvermögen – einem Vorgefühl schwerer und verworrener Tage nur – ritt ich wie gesagt auf meinem Maulesel mit dahin in dem reisigen Schwarm, über Burg Mauvezin hinaus gegen die Stadt Montestrue. Hier war bereits ein gräflicher Hauptmann oder Major Domus gesetzt, und alle Einwohner waren aufgeboten, unsere Herrin zu empfangen; der Major Domus, ein Sire von Hauprefaut, bot ihr vor dem Tor der Burg den Willkommenstrunk.

Von der Stadt Montestrue ging es weiter das Tal des Gers hinunter über Flourence auf die Stadt Lectoure, wo bei unserem Eintritt der Tag bereits dämmerte, also daß das Tor dieser Stadt mit seinen dicken bauchigen Türmen zur Seite und die tiefen Wassergräben und gezackten Mauern aus gequaderten Steinen sich um so erschröcklicher ausnahmen, und ich im Stillen bei mir denken mußte, wie in also gefesteter Burg Einer wohl dem Hochmut Raum geben mag, der ganzen Welt und unserm Herrn König selber zu trotzen. Und das war dennoch nur der Eingang zur Unterstadt, und ich wußte noch nicht, daß oben hinter St. Stephans Münster das Kastell, die eigentliche gräfliche Burg, von noch tieferen Gräben und dickeren Mauern beschirmt und behütet war. Aber nicht Gräben und Wälle, noch Mauern und Türme und eherne Tore frommen dem, der wider Gott streitet und sein Gesetz.

Der Abt von St. Macaire hatte den Grafen durch eine Staffette von der Annäherung unserer Herrin benachrichtigt, und als wir vor dem untern Tor anlangten, das zu dem steilen Burgweg führt – die Stadt liegt, wie man weiß, auf einem gähen Felsen über dem Fluß und dem Wiesengrund: da erschien von innen her im gleichen Augenblick der Herr Graf mit seinem Gefolge auf der niedergegangenen Brücke. Er schwenkte seinen Zederhut zum Gruß, aber mit strengem Ton sprach er:

»Ihr habt Euch nicht sehr beeilt, mich zu begrüßen, Fraue.« –

Unsere gnädige Gräfin antwortete:

»Herr, ich war Eures Befehles gewärtig.«

»Es ist gut,« rief der Graf; »ich heiße Euch willkommen in meiner Stadt und in meinem Hause.«

Nach diesen Worten wollte der Graf sein Pferd herumreißen, als plötzlich sein Blick auf Bertrade fiel, weil er bemerkt hatte, daß seine gelbgescheckte Lieblingsrüde den Kopf schnobernd zu deren Knien erhoben hatte. Die Jungherrin von Armagnac hielt auf ihrem Zelter zur Linken der Gräfin und war überaus lieblich anzusehen in ihrer Tunika von violenfarbenem Samt und silbergewirkten Schleiern, die von der hohen Spitzhaube hernieder ihr um Gesicht und Schulter wallten. Wie eine Leuchte verbreitete es sich über das strenge Gesicht des Grafen.

»Habt Ihr mir ein Geschenk mitgebracht, aufmerksame Herrin,« wandte er sich scherzend an sein Gemahl, »ein artiges, und von Fleisch und Blut, wie man Königen in alten Zeiten darzubringen pflegte, als noch die Sitten nicht eng und karg waren. Sogar in Euern Büchern, die Ihr die heiligen nennt, haben es edle Königinnen gegen ihren Gemahl also gehalten.«

»Es ist Eure Schwester Bertrade, Herr,« antwortete die Gräfin.

Ihr langes Gesicht hatte sich noch dunkler gefärbt.

Jetzt lachte unser gnädiger Herr.

»Richtig, das kleine Kind von ehedem war mir aus dem Gedächtnis gekommen. Aber mit Fug und Recht, fuhr er ernster fort, denn hier sehe ich es nicht, ich sehe statt seiner eine erwachsene Jungfrau voll Schönheit und Liebreiz. Seid willkommen, schöne Schwester.«

Er drückte sein Pferd an ihre Seite und küßte mit einem langen Ruß auf die Stirn die junge Bertrade, deren Gesicht sich wie mit Feuerschein überlohte, als man es nie zuvor an ihr gesehen hatte.

Das alles berichte ich, wie es rings um mich erzählt wurde; denn von meinem Platz aus konnte ich davon nichts sehen noch hören und muß von nun an noch anderes, wovon ich nicht selber Augenzeuge war, so in die Feder gehen lassen, wie es mir zu Ohren gekommen ist von Leuten, die es mit angesehen und angehört haben.


 << zurück weiter >>