Oskar Meding
Zwei Kaiserkronen
Oskar Meding

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Fünfundzwanzigstes Kapitel

Trübe und traurige Tage waren dahingezogen über dem Pfarrhause in Blechow, auch die herbstlichen Astern und Sonnenblumen in dem kleinen Garten fingen allmählich an zu verblühen; immer gelber färbten sich die Blätter der Bäume, und immer kälter und schärfer wehte die Herbstluft über die Wiesen hin.

Und auch im Innern des Hauses senkten die Blüten des Glücks und der Hoffnung immer mehr ihre Häupter.

Helene hatte sich von ihrem heftigen Anfall zwar langsam wieder erholt, sie war sogar wieder aufgestanden und brachte den größten Teil des Tages in dem Wohnzimmer zu, am Fenster sitzend und trüben, starren Blickes in die Landschaft hinausschauend. Aber ihre ganze Erscheinung war eine andere geworden, das tiefe Leiden, welches solange schon an ihrem Organismus zehrte, hatte nunmehr mit vernichtender Gewalt ihr seinen Stempel aufgedrückt, den Stempel der Zerstörung und Auflösung; fast geisterhaft blickten ihre fieberglänzenden, weit vergrößert erscheinenden Augen aus dem bleichen, durchsichtigen und entsetzlich magern Gesicht hervor, das nur auf der Spitze der Backenknochen eine scharf abgegrenzte Röte zeigte. Ihre Gestalt war vollständig gebrochen, und in kraftloser Haltung saß sie in ihrem Lehnstuhl, während in schweren Atemzügen ihre Brust sich hob und senkte. Ein Ausdruck tiefer Traurigkeit lag auf ihrem Gesicht und oft, wenn sie so dasaß, die Hände in dem Schoß gefaltet und den Kopf an die Rücklehne ihres Sessels gestützt, brach sie plötzlich in krampfhaftes Schluchzen aus und heiße Tränen strömten aus ihren Augen.

Dennoch hatte sie für ihren Vater immer ein freundliches Lächeln, mit übermächtiger Anstrengung unterdrückte sie in seiner Gegenwart jeden Ausbruch ihrer inneren Schmerzen, und rührend war es, wie sie versuchte, selbst das körperliche Leiden, welches ihr ganzes Wesen zerstörte, so gut es anging, vor seinen Augen zu verbergen, wie sie mit zitternden Händen ihm wie in alter Zeit die Pfeife stopfte und den brennenden Fidibus brachte, wie sie dann unter irgendeinem Vorwand das Zimmer verließ, um ihn nicht merken zu lassen, daß der Rauch des Tabaks ihr krampfhafte Hustenanfälle verursachte.

Der alte Herr aber merkte dies alles doch. Es war auch unmöglich, daß seinen Augen der Zustand seiner Tochter sich entzogen hätte – auch hatte der Arzt aus Blechow ihm erklärt, daß das Leiden Helenens äußerst gefährlich, und daß kaum durch ein Wunder Genesung zu hoffen sei. Er hatte eine klimatische Kur im südlichen Frankreich verordnet, weil nur eine solche imstande sei, dem mit rapider Geschwindigkeit vorschreitenden Leiden Einhalt zu tun.

Allein Helene hatte sich mit der äußersten Entschiedenheit dieser Reise widersetzt, sie hatte ihrem Vater erklärt, daß sie die feste Überzeugung habe, in ihrem gegenwärtigen Zustande keine Reise ertragen zu können, und daß sie gewiß sterben würde, wenn man sie zu einer solchen zwingen wollte.

Frau von Wendenstein war von Hannover gekommen, und im Verein mit dem Pastor hatte sie alles aufgeboten, um das leidende junge Mädchen zu der vom Arzt vorgeschriebenen Reise zu bestimmen. Aber alles war vergeblich gewesen.

»Laßt mich hier,« hatte Helene gesagt, »wenn ich überhaupt wieder gesund werden kann, so kann ich es nur hier in der Heimat werden, wo jeder Gegenstand, jeder Baum, jede Blume, wo der Himmel selbst mich vertraut und freundlich grüßt; und wenn ich sterben soll, so möchte ich auch hier in der Heimat sterben, das würde mir die letzten Augenblicke tröstlicher und freundlicher gestalten.«

Bei jedem dringenden Zureden hatte sie eine so heftige Nervenerregung ergriffen, sie hatte eine solche Angst und Unruhe gezeigt, daß der Arzt zuletzt selbst den Rat erteilt hatte, lieber nicht weiter in sie zu dringen, da oft der Instinkt der Natur in den Kranken am richtigsten anzeige, was ihnen zuträglich oder schädlich sei, und die Aufregung einer widerwillig erzwungenen Reise jedenfalls mehr schaden würde, als das warme Klima nützen könne.

Ebenso hatte Helene mit größter Entschiedenheit das Versprechen ihres Vaters und der Frau von Wendenstein verlangt, ihrem Verlobten nichts von ihrer Krankheit und von der Gefahr, in welcher ihr Leben schwebte, mitzuteilen, und beide hatten ihr auch dies Versprechen gegeben und es gehalten in der Überzeugung, daß der Leutnant von Wendenstein ja doch in diesem Augenblick nicht kommen könne, und daß es besser sei, ihn erst dann zu benachrichtigen, wenn wirklich ein unglücklicher Ausgang der Krankheit unmittelbar zu besorgen sein sollte.

Es waren auch einzelne Briefe von Paris gekommen. Helene hatte sie mit einem tief schmerzlichen Lächeln in Empfang genommen und mit leisem Kopfschütteln gelesen, ohne sie zu beantworten, – sie sei jetzt noch zu schwach dazu, hatte sie ablehnend gesagt, wenn ihr Vater sie daran erinnerte.

So hatte man endlich den Plan der Reise vorläufig aufgegeben, und Frau von Wendenstein war wieder, das Herz von schweren Sorgen erfüllt, nach Hannover zurückgereist.

Der Kandidat war ruhig und still seinen Berufsgeschäften nachgegangen, er war außer bei Tische wenig im Kreise seiner Familie erschienen. Er hatte jeden Tag in freundlich wohlgesetzten Worten seiner Cousine seine Teilnahme an ihrem Leiden ausgesprochen und war erst am späten Abend, wenn sie sich in ihr Zimmer zurückgezogen und zu Bett gelegt hatte, im Wohnzimmer erschienen, um mit seinem Oheim über die Vorgänge in der Pfarrgemeinde zu sprechen und ihm Zeitungen und Broschüren vorzulesen.

An einem schönen, hellen Nachmittage, als der alte Pastor Berger von einem Gang in die Gemeinde zurückkehrte, fand er seine Tochter auf ihrem gewöhnlichen Platz im Wohnzimmer sitzen. Sie sah ein wenig kräftiger aus als gewöhnlich, eine gewisse ruhige Heiterkeit, der Ausdruck eines festen klaren Entschlusses lag auf ihren Zügen, als sie mit freundlichem Lächeln ihren Vater begrüßte und sich mit einiger Mühe etwas erhob, um ihm ihre marmorweiße Stirn zum Kuß zu bieten.

»Ich möchte mit dir sprechen, mein Vater«, sagte sie mit jener eigentümlich leisen und ein wenig rauh anklingenden Stimme, welche eine Folge schwerer Brustleiden ist. »Setze dich zu mir und höre mich ruhig an, ich bin überzeugt, du wirst billigen, was bei mir reiflich erwogener und unabänderlicher Entschluß geworden ist.«

Der alte Herr zog einen Stuhl heran, setzte sich neben seine Tochter und ergriff zärtlich ihre magere, von dünnen bläulichen Adern durchzogene Hand, indem er sie aufmerksam und erwartungsvoll ansah.

»Ich habe lange darüber nachgedacht,« sagte Helene, indem sie das Haupt ein wenig zu ihrem Vater hinüberneigte, »daß ich in meinem jetzigen Zustande, welcher mir auch im günstigsten Falle ein langes Siechtum in Aussicht stellt, die Zukunft meines Verlobten nicht an mein gebrochenes Leben fesseln darf. Er steht mitten in schweren Kämpfen, deren Ende noch nicht abzusehen ist, er muß sich vielleicht in ganz neuen Lebenskreisen eine Zukunft begründen und bedarf dazu seiner vollen Kraft und Freiheit. Ich, mein Vater, bin nicht imstande und werde nie wieder imstande sein, seine Wege mit ihm zu gehen – dazu würde die volle Kraft einer festen Gesundheit gehören, und auch wenn sein Lebenslauf in ruhigen und geordneten Bahnen geblieben wäre, würde ich dennoch niemals die Kraft wiederfinden, die Pflichten einer Hausfrau ihm gegenüber erfüllen zu können. Ich muß ihm deshalb seine Freiheit wiedergeben, und ich bin fest entschlossen, es zu tun. Ich habe ihm geschrieben, und ich bitte dich, mein Vater, meinen Brief zu lesen und denselben an ihn gelangen zu lassen mit einem Schreiben von dir, worin du meinen Entschluß billigst und bestätigst.«

Sie zog einen beschriebenen Briefbogen aus einem Schubfach ihres Arbeitstisches hervor und reichte denselben ihrem Vater, der sie ganz bestürzt, mit traurigen schmerzerfüllten Blicken ansah und ihre Hand fest zwischen die seinige drückte.

»Aber, mein liebes Kind,« sagte er, »wozu dieser schnelle und voreilige Entschluß? Du tust ja,« fuhr er mit einem gezwungen heiteren Lächeln fort, »als ob deine Krankheit vollständig unheilbar wäre, als ob jede Hoffnung auf Genesung aufgegeben sei.«

»Wenn mein Leben erhalten werden kann,« sagte sie mit sanfter Resignation, »so kann es nur durch die tiefste gleichmäßige Ruhe, durch die Enthaltung von aller Arbeit, Sorge und Tätigkeit geschehen, und du wirst selbst mir beistimmen, mein Vater, daß ich dem Manne, dem ich meine Hand reiche, keine Last und kein Hemmnis sein darf, und daß es meine Pflicht ist, allein meinen Lebensweg zu gehen und zu vollenden, wenn ich die Überzeugung gewinnen muß, daß ich niemals die Pflichten würde erfüllen können, welche ich meinem Gatten schuldig wäre.«

»Aber ich bitte dich, mein Kind,« sagte der Pastor, »warum denn einen so schnellen Entschluß fassen? – In diesem Augenblick ist das ja gar nicht nötig. Eure Verbindung ist ja, wie die Verhältnisse jetzt liegen, ohnehin unmöglich, und bis sich das alles ändert,« fügte er seufzend hinzu, »wirst du ja hoffentlich wieder frisch und gesund sein.«

Sie schüttelte traurig den Kopf. »Und dann,« sprach ihr Vater, »denke doch an den Schmerz des armen Leutnants, der dort in der Verbannung im fernen Lande allein ist, der noch nichts von dem ahnt, was hier vorgegangen, der nicht hieher kommen kann, da er unter der Anklage des Hochverrats steht, – denke an den tiefen Schmerz, den ihm eine solche Mitteilung bereiten würde.«

Ein bitteres schmerzliches Lächeln zuckte einen Augenblick um die Lippen des jungen Mädchens, dann blickte sie wieder mit ruhiger ergebungsvoller Wehmut auf ihren Vater hin und sagte:

»Wenn ihm diese Mitteilung Schmerz bereitet, so ist ein augenblicklicher Schmerz, den er im bewegten Leben bald überwinden wird, besser für ihn, als wenn er lange Zeit die hemmenden Ketten der Verbindung mit einem kranken hilfsbedürftigen Wesen, das ihm nichts bieten und nichts sein könnte, hinter sich her schleppen müßte. Lies, mein Vater«, sagte sie in dringendem, bittendem Ton, indem sie dem alten Herrn noch einmal den Brief hinreichte.

Dieser ergriff das Papier und las es langsam durch, seine Augen füllten sich mit Tränen, und mehrere Male fuhr er mit der Hand über dieselben, um den feuchten Schleier wegzunehmen, welcher seinen Blick verhüllte. Der Brief seiner Tochter war mit einer rührenden kindlichen Einfachheit geschrieben; sie dankte ihrem Verlobten für die Liebe, die er ihr gegeben, für das Glück, das er ihr bereitet habe; sie sprach mit christlicher Ergebung über ihren Zustand, über die Unmöglichkeit, jemals wieder mit vollen Kräften in das Leben eintreten zu können; sie sprach ihren festen Entschluß aus, sich von ihm zu trennen und ihm seine Freiheit wiederzugeben, was sie für ihre heiligste Pflicht und für einen Beweis ihrer Liebe zu ihm halte, und sie wünschte ihm endlich in treuen und warmen Worten, die fast wie der Gruß einer Sterbenden klangen, allen Segen des Himmels und alles Glück für das zukünftige Leben.

Traurig sah er Helene an, als er geendigt, er wußte nicht, was er auf diese so einfache und so natürliche Sprache erwidern sollte, und in stummer Bewegung schloß er seine Tochter in seine Arme. »Habe ich recht, mein Vater?« fragte Helene sanft, »willst du ihm einen Brief schreiben, durch welchen du den meinigen bestätigst, und willst du die Sendung an ihn gelangen lassen?«

Er stand auf und ging in tiefer Bewegung im Zimmer einige Male auf und nieder.

»Der arme, arme Leutnant,« sagte er vor sich hin, »wie wird er es tragen!«

Helene hörte diese halb leise gesprochenen Worte, und abermals erschien jenes bittere, schmerzliche Lächeln auf ihren Lippen.

Ihr Vater blieb vor ihr stehen.

»Ich will mit mir zu Rate gehen, mein Kind,« sagte er ernst, »ich will meine Gedanken sammeln, um zur Klarheit zu kommen. Es ist ein edler Sinn, der aus deinem Entschluß spricht, – aber man darf auch den Fügungen der Vorsehung nicht vorgreifen, – ich will mit mir zu Rate gehen«, wiederholte er, »und den besten Rat da suchen, von wo alle guten Gedanken und Entschlüsse kommen.«

Er faltete die Hände und blickte einen Augenblick schweigend nach oben, dann drückte er einen innigen Kuß auf die Stirn seiner Tochter und ging hinaus, um sich in sein stilles Studierzimmer zurückzuziehen und dort, wie er in allen wichtigen Augenblicken seines Lebens zu tun gewohnt war, in stillem Gebet und ruhiger Einkehr in sich selbst den richtigen Entschluß zu suchen.

Helene blieb allein.

»Wie er es tragen wird?« flüsterte sie vor sich hin – »o,« sagte sie dann, indem ihr Gesicht schmerzlich zuckte, »er wird diese Mitteilung begrüßen als die Befreiung von einer schweren und lästigen Fessel, – er weiß nicht, wie die Krankheit mich gebrochen hat, und dennoch hat sich sein Herz von mir gewendet, dennoch empfindet er die Verbindung mit mir als eine drückende Last. Ich lese das aus seinen Briefen, und er gibt sich Mühe, mir freundliche liebevolle Worte zu sagen – aber es sind eben Worte, Worte, hinter denen kein Gefühl liegt. Ich habe das längst gefühlt, ehe ich dieses entsetzliche Bild sah, dessen Anblick mir das Herz zerschnitt. Ich habe es gefühlt, daß jener warme Strom der Liebe unsere Seelen nicht mehr verbindet, – und wenn er mich sehen könnte, müßte er nicht schaudern vor einer Zukunft, die ihn an ein Wesen kettet, das, wenn es dem Leben erhalten bleibt, immer nur ein Hemmnis für ihn sein kann, – ein krankes, gebrochenes Wesen, das man unendlich lieben müßte, um es durch das Leben zu führen und zu tragen, – so lieben, wie er mich einst liebte – und wie er jetzt« – sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und stieß einen tiefen röchelnden Seufzer aus.

Nach einiger Zeit richtete sie sich empor.

»Ich muß stark sein,« sagte sie, »ich will die Kraft nicht verlieren, ich muß den Weg meines Lebens allein bis zu Ende gehen.«

Sie öffnete ein kleines Fach ihres Arbeitstisches und zog daraus ein Paket Briefe und jenes Bild hervor, das der Kandidat Behrmann ihr gegeben.

Mit starrem Ausdruck heftete sich ihr Blick auf das Bild, das alle ihre Träume von Liebe und Glück zerstört hatte. Lange sah sie dasselbe an, dann las sie einen der Briefe nach dem andern, und oft schüttelte sie schmerzlich den Kopf.

»Nein,« sagte sie endlich, »er liebt mich nicht mehr, er hat kein Gefühl für mich, keine Erinnerung an mich mehr. Diese Briefe sind kalt wie Eis, sie sind geschrieben, um etwas zu schreiben. Und auch ohne die furchtbare Erklärung, die dieses Bild mir gibt, würde ich keinen Zweifel haben können, daß er für mich verloren ist.«

Trübe und traurig starrte sie zum Fenster hinaus auf die im gelblichen Strahl der sinkenden Sonne daliegende Landschaft, auf die verblühenden Sonnenblumen und Astern in dem kleinen Garten.

Leise öffnete sich die Tür. Helene blickte bei dem Geräusch erschrocken auf und sah die kräftige Gestalt des Fritz Deyke in das Zimmer treten, dessen blühendes offenes Gesicht sie freundlich anlächelte, und dessen gutmütige treuherzige Augen mit dem Ausdruck inniger Teilnahme sich auf sie richteten. Sie streckte mit einer matten Bewegung dem jungen Bauern ihre Hand entgegen, welche dieser, rasch herantretend, mit einer gewissen ängstlichen Vorsicht ergriff, als fürchte er, zwischen seinen derben, arbeitskräftigen Händen diese zarten, durchsichtigen Finger zu zerdrücken.

»Ich freue mich, daß ich Sie hier finde, Fräulein Helene,« sagte er dann, »ich bin nur gekommen, um zu fragen, wie es mit Ihnen geht. Ich habe Sie solange nicht gesehen und habe so viele Sorge um Sie gehabt. Nun Gott sei Dank,« sagte er, »daß Sie wieder auf sind – da wird es ja wohl immer besser gehen. Aber,« fuhr er fort, indem er mit einem traurigen Blick ihre gebrochene Gestalt und ihr blasses Gesicht betrachtete, »mitgenommen hat es Sie tüchtig, Sie sehen wirklich recht elend aus, recht mitgenommen, – doch das ist ja ganz natürlich,« fuhr er fast erschrocken fort, – »nach einem solchen Anfall und einer solchen Krankheit, das wird sich alles schnell wieder geben, wenn Sie nur erst wieder herauskommen und die frische Luft einatmen. Ich habe eine frisch melkende Kuh, meine Frau hat sie ganz besonders zurückgestellt, um immer frische reine Milch für Sie zu haben. Sie müssen jeden Morgen zu uns herunterkommen, – und wenn Sie nicht gehen können, so will ich Sie in einem Rollwagen abholen, ich habe solche Dinge früher in Hannover gesehen, – so einen sollten Sie sich kommen lassen. Sie müßten frisch von der Kuh fort die Milch trinken, meint meine Frau, das würde Sie schon wieder auf die Beine bringen.«

»Wie gut seid ihr alle!« sagte Helene, »wie lernt man doch seine wahren Freunde erst kennen in den Zeiten des Kummers und der Trauer, – so bald«, fügte sie mit schmerzlichem Lächeln hinzu, »werde ich wohl noch nicht zu Erich kommen können, denn ich kann kaum von meinem Zimmer bis hierher gehen. Aber bittet Eure Frau, mich zu besuchen – es wird mich glücklich machen, mit ihr ein wenig zu plaudern. Sie ist so heiter und so fröhlich.«

»Ja,« sagte Fritz Deyke mit glückstrahlendem Ausdruck, »sie ist ein wahrer Schatz, den ich aus jener schweren Zeit heimgeführt habe, welche soviel Blut gekostet und soviele Familien in Trauer gestürzt hat, – mir hat sie Segen gebracht und Ihnen ja auch, Fräulein Helene, denn damals in Langensalza, wo ich meine Frau fand, haben Sie sich ja auch mit meinem lieben Leutnant zusammengefunden – der jetzt da draußen in der Ferne lebt,« fügte er seufzend hinzu, »und für den ich täglich Gott bitte, daß er ihn bald wieder zurückführen möge, damit Sie endlich auch eine so schöne, liebe Häuslichkeit gründen können, wie ich sie bei mir habe. Wie geht es denn mit dem Leutnant?« fragte er, »Sie haben doch gewiß Nachrichten von ihm?«

Helene schwieg einen Augenblick. Ein schwerer Seufzer rang sich aus ihrer Brust empor, und sie war nicht imstande, die Tränen zurückzudrängen, welche ihre Augen erfüllten.

»Mein Gott,« rief Fritz Deyke, schnell zu ihr herantretend, »Sie haben doch keine schlechten Nachrichten erhalten? Dem Leutnant ist doch nichts widerfahren?«

»Nein, nein«, sagte Helene mit fast unhörbarer Stimme, indem sie die Hände auf ihre von Tränen überfließenden Augen drückte, während ihr Kopf matt gegen den Sessel zurücksank.

Fritz Deyke stand ganz erstaunt und befremdet neben ihr. Traurig und verlegen zugleich ruhte sein Blick auf dieser gebrochenen Gestalt, die er einst so frisch und blühend gekannt hatte. Er schien unschlüssig, was er zu tun habe – ob er Hilfe herbeirufen solle, und unwillkürlich streckten sich seine Hände nach der Leidenden aus, als wolle er sie stützen. Da fiel sein Blick auf das Bild, welches mit den Briefen, die sie soeben gelesen, auf dem Tisch vor ihr liegen geblieben war. Groß öffneten sich seine Augen, mit starrem Blick sah er dies Bild an, ein Schauer lief durch seine kräftigen festen Glieder. Dann trat er rasch noch näher zu dem Tisch heran, nahm das Bild in die Hand, blickte es lange unverwandt an und warf es dann, wie zurückschreckend vor seiner Berührung, wieder auf den Tisch hin.

»So also steht es«, sagte er dumpf, mehr zu sich selbst, als zu Helene sprechend, welche bei seinen Worten die Hände niedersinken ließ und ihn mit einem matten, traurigen Blick ansah, der ihm mehr sagte, als alle Erklärungen vermocht hätten.

»Ihr seht, mein guter Fritz,« sagte Helene mit leisem Ton, »daß das Glück, welches mir wie auch Euch in jenen schmerzlichen Tagen von Langensalza erblüht war, in meinem Leben keine festen Wurzeln geschlagen, die Hoffnungen von damals,« sagte sie, die Hand auf ihre Brust pressend, wie um einen körperlichen stechenden Schmerz zu unterdrücken, »sind für mich zu Ende.«

»O,« rief Fritz Deyke zornig, die geballte Hand erhebend, – »das ist schlecht, das ist nicht gut, das hätte ich von meinem Leutnant nicht erwartet!«

Und abermals ergriff er das verhängnisvolle Bild und blickte es lange an, fortwährend gebrochene Worte vor sich hinmurmelnd, welche in einfacher, kräftiger Weise seiner Entrüstung über das, was er sah, Ausdruck gaben.

»Es hat so kommen müssen,« sagte Helene sanft, – »es ist vielleicht ein Glück, daß es so gekommen ist,« fügte sie mit einem weichen, in schwärmerischer Verklärung strahlenden Blick zu, – »was hätte ich ihm sein können in meiner Krankheit und Hilflosigkeit, selbst wenn der Tod noch einige Zeit an mir vorübergeht, – auch wenn dies nicht geschehen wäre,« sagte sie, ohne aufzublicken, mit der Hand auf das Bild deutend, »ich hätte ihm doch seine Freiheit wieder geben müssen, ich hätte niemals eine hoffnungsreiche Zukunft an mein gebrochenes Leben knüpfen dürfen.«

»Weiß der Leutnant?« fragte Fritz Deyke, seine Lippen zornig aufeinander pressend, »wie krank Sie gewesen sind, wie sehr Sie jetzt noch leiden?«

»Nein,« erwiderte Helene immer in demselben sanften Ton, »aber er wird es nun erfahren, indem ich ihm zugleich sein Wort zurückgebe und das Band löse, das ihn an mich fesselt.«

Fritz Deyke ging einige Augenblicke aufgerichtet in heftiger innerer Bewegung im Zimmer auf und nieder, fortwährend einzelne unverständliche Worte leise vor sich hinsprechend.

»Das darf so nicht weiter gehen,« sagte er endlich mit entschlossenem Ton vor Helene stehenbleibend. »Wissen Sie, Fräulein Helene, wie das zusammenhängt, wie das gekommen ist?« fragte er, mit der Hand auf das Bild deutend, – »wer hat Ihnen das gegeben?«

»Ich weiß nichts näheres«, erwiderte Helene, »und will auch nichts wissen«, fuhr sie mit einer abwehrenden Bewegung der Hand fort. »Was ich weiß, ist mir genug – mein Vetter, der in Paris war und ihn dort gesehen hat, brachte mir sie mit – und ich bin ihm dankbar dafür, denn es hat mir diesen Entschluß leichter gemacht, den ich ohnehin hätte fassen müssen.«

»O,« rief Fritz Deyke, heftig mit dem Fuß auf den Boden tretend, »so ist also wieder dieser Kandidat im Spiel, der fortwährend von der Nächstenliebe predigt und Gottes Wort auf den Lippen führt und der überall Unheil stiftet, wohin er seine Hand legt! Wer weiß,« rief er, indem einen Augenblick ein freudiger Schimmer über sein Gesicht flog – »wer weiß, ob da nicht irgendein Mißverständnis, eine Täuschung – eine boshafte Absicht zugrunde liegt –«

Helene schüttelte traurig den Kopf.

»Doch Licht muß darin werden,« fuhr er fort – »das alles darf nicht so enden. Ich muß wissen, wie das zusammenhängt. Ich bin nur ein einfacher Mensch und verstehe meine Worte nicht zu setzen, wie der Herr Kandidat, aber das weiß ich doch, daß es nicht recht ist, Ihnen so etwas zu bringen, ohne daß er versucht hat, dem Ding auf den Grund zu gehen, ohne daß er, der die Worte doch so gut zu setzen versteht, es unternommen hat, den Leutnant, wenn er wirklich auf falsche Wege verirrte, wieder zurückzuführen – ich, Fräulein Helene, ich liebe meinen Leutnant von Jugend auf, und ich kann nicht glauben, daß sein Herz wirklich schlecht sei, und daß er alles vergessen haben sollte, was früher sein schönstes und heiligstes Glück war – ich habe ihn, als er zum Tode verwundet unter den Leichenhaufen auf dem Schlachtfelde von Langensalza lag, hervorgezogen und in meinen Armen fortgetragen, um ihn zu retten; wenn jetzt seine Seele krank und verwundet ist – wenn sein Herz umgarnt ist von höllischen Künsten – ich will ihn nicht da lassen, ich will ihn auch jetzt retten und zurückführen. Seien Sie ruhig,« sagte er im Ton festen Entschlusses, »ich werde das alles aufklären, ich werde vor ihn hintreten und ihn fragen, und mir wird er die Wahrheit nicht verbergen, und ich werde ihn Ihnen zurückbringen und sollte ich ihn auf meinen Armen hierhertragen. Leben Sie wohl, Fräulein Helene, seien Sie mutig und getrost, Sie werden von mir hören.«

Er wollte sich rasch zur Tür wenden.

»Halt, Fritz, halt,« rief Helene, sich mit mühsamer Anstrengung aufrichtend, »was wollt Ihr tun? Ich bitte, ich beschwöre Euch, laßt alles, wie es ist, ich bin ergeben in mein Schicksal, ich bin gefaßt, alles zu tragen, was Gott über mich verhängt hat.«

»Das weiß ich,« sagte Fritz mit leiser Stimme, indem er wieder zu ihr zurücktrat, – »Sie sind ja so gut und so sanft wie die Engel des Himmels – aber es ist nicht bloß um Ihretwillen,« fuhr er fort, indem sein ehrliches, offenes Gesicht von mächtiger Rührung zuckte, »wenn Sie auch alles über sich ergehen lassen und alles ertragen wollten, es handelt sich auch um das Glück und um die ganze Zukunft meines Leutnants. Denn glücklich kann er doch nicht sein, wenn er sich von Ihnen wendet, ich kenne ihn, ich weiß es, daß er im Grunde seines Herzens Sie noch lieben muß wie früher. Ich weiß, daß er so nicht an allem untreu werden kann, was ihm heilig war. Ich darf ihn nicht versinken und zugrunde gehen lassen, er soll erkennen, daß er keinen treuem Freund hat als mich.«

In rascher Bewegung ergriff er die Hand des jungen Mädchens, drückte dieselbe so kräftig, daß sie fast schmerzhaft zusammenzuckte, und eilte dann schnell hinaus, indem er sagte:

»Gott befohlen, Fräulein Helene, Sie sollen bald von mir hören, – aber verraten Sie mich nicht,« fügte er, noch in der Tür sich umwendend, hinzu, »man könnte meine Reise mißdeuten und mir Hindernisse in den Weg legen.«

Helene machte eine Bewegung, als wolle sie aufspringen und ihn zurückhalten, aber kraftlos sank sie wieder auf ihren Sessel nieder, und schon hörte sie seinen raschen Schritt, der sich schnell nach dem Dorfe hin entfernte.

Eine Zeitlang saß sie schweigend und erschöpft da.

»Mein Gott,« sagte sie dann, den fast vorwurfsvollen Blick aufwärts richtend, »ich war so ruhig und ergebend, ich hatte mit mir selbst abgeschlossen, und nun sollen neue Kämpfe mein Herz zerreißen, neue Hoffnungen, die ich in meinem törichten Sinn doch nicht ganz unterdrücken kann, vielleicht von neuem geknickt werden, – und ich bin so schwach – so müde und kraftlos – ich bin nicht fähig, noch mehr zu leiden.«

»Aber,« fuhr sie nach einigen Augenblicken fort, »wie kann ich ihn zurückhalten, ohne meinem Vater alles zu sagen, – er leidet schon genug um meine Krankheit, soll ich seinem guten, treuen, vertrauensvollen Herzen auch diesen Schmerz bereiten?«

Sie faltete die Hände und sann lange schweigend nach.

»Ich kann nichts tun,« sagte sie dann mit dem Ausdruck ruhiger Ergebung, »ich muß die Dinge gehen lassen, wie Gott sie führen will, und die Kraft zu finden suchen, um zu tragen, was er über nach verhängt – Herr, nicht mein, sondern dein Wille geschehe«, flüsterte sie mit sanftem, stillem Lächeln.

Dann schloß sie die Briefe und das unglückliche Bild wieder in ihren Tisch ein, lehnte sich in ihren Stuhl zurück und versank tief erschöpft in einen leichten Schlummer.


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