Oskar Meding
Zwei Kaiserkronen
Oskar Meding

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebzehntes Kapitel

Das alte Schloß von Fontainebleau, das sonst, umgeben von seinen dunklen schattigen Parkwaldungen, in tiefer Stille und Ruhe daliegt, war erfüllt von Leben und Bewegung, denn die kaiserlichen Majestäten von Frankreich hatten hier ihre Residenz aufgeschlagen.

In dem Hof eilten Lakaien in ihren grün- und goldenen Livréen hin und her; die Hundertgarden schritten auf und nieder; Doppelposten hatten die Eingänge zu jenem historischen Ehrenhof besetzt, in welchem der große Kaiser einst von seiner alten Garde den so schmerzvoll bewegten Abschied nahm; Adjutanten und Ordonnanzoffiziere standen im Gespräch auf dem Vorplatz; Kuriere eilten zwischen der Bahnhofsstation und dem Schloß hin und zurück; in den offenen leichten Wagen fuhren die Damen des Hofes, geleitet von den Kavalieren zu Pferde, durch den Park.

Alles atmete jenes großartig bewegte und doch scheinbar so ruhig und gleichmäßig geordnete Leben der großen Höfe, welche die Blüten des Reichtums und der Eleganz in sich vereinen und zugleich den Mittelpunkt bilden für alle jene tausend Fäden, welche die wichtigsten Interessen eines großen Staates lenken und die Verbindungen mit den übrigen Großmächten Europas herstellen.

Es war die Zeit zwischen dem Frühstück und dem Diner, und das so mannigfach bewegte Treiben des Hofes schien eine Zeitlang zu ruhen, – das Leben hatte sich ins Innere des Schlosses zurückgezogen.

In einem tief schattigen Gang des Parkes ritt der Kaiser Napoleon III. und die Kaiserin Eugenie langsam dem Schlosse zu, während ein Reitknecht in der geschmackvoll einfachen Livrée des Marstalls in ziemlich weiter Entfernung folgte. Der Kaiser trug einen Morgenanzug von dunklem Sommerstoff; die Farbe seines Gesichts war von der frischen Waldluft leicht gerötet; sein weit geöffnetes Auge blickte frischer und freier als sonst in das dunkle Grün der tiefen Waldesschatten, welche rechts und links von dem Wege sich ausbreiteten. Er sah jünger als sonst aus, wie immer, wenn er zu Pferde saß; man erkannte in seiner Haltung noch den gewandten und vortrefflichen Reiter, der er in seiner Jugend gewesen.

Die Kaiserin trug ein dunkelblaues Reitkleid mit einem kleinen schwarzen Hut und blauem Schleier. Die klassische Schönheit ihres Gesichts trat in diesem einfachen kleidsamen Anzug in der Umgebung der frischen und großartigen Natur noch lebhafter hervor, als in der großen Toilette des Salons.

»Ich freue mich,« sagte die Kaiserin, indem sie mit leichtem Zügeldruck ihr unruhig vorstrebendes Pferd zurückhielt, »daß endlich diese Zeit der trägen Ruhe und der dumpfen Vorbereitung zu Ende geht, daß endlich der kaiserliche Adler wieder seine Schwingen entfalten und der Welt zeigen kann, wie seine Fänge noch mächtig und kraftvoll genug sind. – Mich hat der innere Zorn verzehrt, wenn ich sehen mußte, wie man von allen Seiten es wagt, uns zu verhöhnen, wenn ich fortwährend gezwungen war, eine lächelnde Miene zu zeigen, gegen unsere bittersten Feinde freundlich zu sein. Wie weit muß es gekommen sein, wie tief muß das Vertrauen in die Macht des Kaiserreichs erschüttert worden sein, wenn man es hat wagen können, bei der öffentlichen Preisverteilung im Lycée Bonaparte unsern armen kleinen Louis, der doch wahrlich niemanden jemals etwas zuleide getan hat, zu beleidigen und zu verhöhnen!« »Sie legen«, sagte der Kaiser ruhig, »diesem kleinen unbedeutenden Vorfall ein zu großes Gewicht bei. Es war vielleicht keine richtige Maßregel, die Preise für die Schüler durch den Prinzen verteilen zu lassen, der ja selbst noch ein Schüler ist, denn die Jugend ist demokratisch und erkennt keine Rangunterschiede an. In den jugendlichen Herzen lebt noch zu tief das Gefühl der allgemeinen menschlichen Gleichheit, und jeder dieser Knaben, der in seinen stillen Hoffnungen das höchste zu erreichen träumt, mag keine Superiorität der Geburt anerkennen.«

»O, es ist nicht das,« rief die Kaiserin, »es ist nicht dieser natürliche knabenhafte Stolz, welcher die Szene im Lycée hervorgerufen hat, es war eine wohldurchdachte, vorbereitete Demonstration, durch welche man die Probe machen wollte, wie weit man es wagen könne, die kaiserliche Autorität zu beleidigen. Man hat einen Knaben dazu gewählt, den man doch nicht anders strafen kann, als durch Ausschließung aus der Schule.«

»Diese Strafe hat man verhängt«, sagte der Kaiser. – »Aber ich habe sie wieder aufgehoben und habe befohlen, daß der junge Cavaignac sofort wieder in das Lyzeum aufgenommen werden soll.«

»Das haben Sie befohlen, Louis?«! rief die Kaiserin, mit raschem Ruck ihr Pferd parierend und ihren Gemahl halb erzürnt, halb erstaunt anblickend. »Das ist ein Akt der Großmut, der an Schwäche grenzt! Soll unser armer, öffentlich gekränkter und beleidigter Sohn ohne Genugtuung bleiben?«

Der Kaiser, welcher ebenfalls langsam und ruhig sein Pferd angehalten hatte, blickte zu seiner Gemahlin hinüber und sprach, indem er die Spitzen seines Schnurrbarts durch die Finger gleiten ließ:

»Sie werden nicht wollen, daß der Kaiser der Franzosen einen jungen Schüler des Lycée Bonaparte als einen politischen Gegner anerkennen soll. Ich würde diesen Knaben, wenn ich seine Ausschließung billigte, zu einer politischen Größe erheben, und mich selbst tief erniedrigen. – Außerdem«, fügte er hinzu, indem er sinnend auf den Kopf seines Pferdes niedersah, »achte ich das Gefühl des jungen Menschen. Denn wäre ich der Sohn Cavaignacs, ich würde ebenfalls keinen Preis aus der Hand des Sohns Napoleons annehmen. Man muß auch seine Gegner gerecht beurteilen, denn nur dann kann man sie überwinden und vielleicht gewinnen.«

Die Kaiserin schien etwas erwidern zu wollen, doch unterdrückte sie ihre Aufwallung und ritt schweigend neben ihrem Gemahl weiter.

»Seien Sie übrigens ganz ruhig,« sagte der Kaiser nach einer Pause, »meine Vorbereitungen vollenden sich immer mehr, und in nicht langer Zeit werde ich der Welt anders als durch Strafmaßregeln gegen einen unartigen Schüler beweisen, daß meine Kraft noch ungebrochen ist und daß Frankreich den Willen und die Macht hat, seine erste Stellung unter den Mächten Europas aufrecht zu erhalten. Die Königin Isabella kommt nach San Sebastian, wir werden dann in Biarritz sein und eine persönliche Zusammenkunft soll den Vertrag besiegeln, durch welchen ich das treulose Italien im Schach halten will, während die militärische Macht Frankreichs nach anderer Seite hin sich entfalten wird.«

Die Augen der Kaiserin leuchteten auf.

»Sie haben mich früher etwas von Ihren Plänen ahnen lassen,« sagte sie, »und was Sie mir jetzt sagen, macht mich unendlich glücklich, denn es läßt mich das Ziel erkennen, nach welchem meine ganze Seele sich sehnt: die endliche Demütigung dieses übermütigen Preußens, das es gewagt hat, Frankreich zu ignorieren und ohne unsere Zustimmung alle Verhältnisse in Europa umzustürzen.«

»Warten Sie nur noch kurze Zeit«, sagte der Kaiser lächelnd, »und Sie werden zufrieden sein. – Alles fällt dem zu, der zu warten versteht. Und zum Warten gehört Geduld und Verstellung. Lassen Sie daher Ihre Gedanken und Ihre Wünsche ebenso, wie ich es tue, in den innersten Tiefen Ihres Herzens verschlossen bleiben. Lassen Sie auf Ihrer schönen Stirn keine Wolke erscheinen, lassen Sie auch nie das Lächeln von Ihren Lippen verschwinden, denn je mehr Sicherheit und Vertrauen wir unsern Gegnern einflößen, um so fester und vernichtender werden wir sie treffen, wenn der Augenblick des Handelns gekommen ist.«

»Verlassen Sie sich auf mich,« sagte die Kaiserin, »ich werde Ihnen zeigen, daß auch ich zu warten verstehe.«

»Wir wollen den armen Grafen Goltz besuchen«, sagte der Kaiser. »Es soll ihm etwas besser gehen, und es würde mich in der Tat sehr freuen, wenn er von dieser entsetzlichen Krankheit geheilt würde, an der schon sein Vater gestorben ist. Jede Aufmerksamkeit, die wir ihm beweisen, wird ihn äußerst glücklich machen,« fügte er mit einem eigentümlichen Lächeln und einem schnellen Seitenblick auf seine Gemahlin hinzu, – »und außerdem wird man dies in Berlin für einen neuen Beweis unserer freundschaftlichen und friedlichen Gesinnung ansehen.«

Sie waren an das Ende des Parks gekommen; Lakaien eilten ihnen entgegen; der Kaiser stieg vom Pferde, reichte seiner Gemahlin artig die Hand, und während die Reitknechte die Pferde fortführten, gingen die beiden Majestäten nach einem Seiteneingang des Schlosses, durchschritten einen weiten Korridor und traten durch ein Vorzimmer, dessen Tür der diensttuende Huissier ihnen öffnete, in ein ziemlich großes, mit höchster Eleganz und allem möglichen Komfort eingerichtetes Gemach, dessen hohe Fenster halb durch dunkle Vorhänge verhüllt waren.

Auf einem breiten und bequemen Ruhebett neben einem großen mit Büchern und Briefen bedeckten Tisch lag, in einen weiten Hausrock gehüllt, der preußische Botschafter am französischen Hofe, Graf von der Goltz, welcher seit dem vorigen Jahre am Zungenkrebs erkrankt war, und welchen der Kaiser eingeladen hatte, seinen Aufenthalt in der Stille und der gesunden Luft von Fontainebleau zu nehmen. Das scharf markierte Gesicht des Grafen mit dem kurz geschnittenen grauen Haar und dem ebenfalls ergrauten Schnurrbart war bleich und mager und trug den Ausdruck körperlichen Leidens und geistiger Niedergeschlagenheit.

Neben dem Grafen stand sein Arzt, Herr van Schmidt, der seit einigen Monaten seine Behandlung übernommen hatte und der behauptete, während seines mehrjährigen Aufenthalts in Indien von den Brahminen ein unfehlbares Mittel gegen alle Krebskrankheiten erhalten zu haben.

Herr van Schmidt, ein noch junger, blonder, kräftig und schlank gewachsener Mensch, war damit beschäftigt, aus verschiedenen Ingredienzien in einem Kristallglase einen Trank zu mischen, dessen eigentümlich scharfes Aromaden Raum erfüllte.

Beim Eintritt der kaiserlichen Herrschaften überflog eine schnelle Röte das bleiche Gesicht des Botschafters. Seine Augen füllten sich mit lebhaftem, fast fieberhaft schimmerndem Glanz. Er machte eine schnelle Bewegung, um sich von seinem Ruhebette zu erheben, während der Doktor van Schmidt ehrerbietig zur Seite trat.

Rasch schritt der Kaiser auf den Grafen zu und drückte ihn mit einer Bewegung voll freundlicher Herzlichkeit wieder auf sein Lager zurück.

»Sie dürfen sich in keiner Weise derangieren, mein lieber Graf,« sagte Napoleon mit jenem so ungemein sympathisch anklingenden Ton der Stimme, durch welchen er in der Unterhaltung einen unwiderstehlichen Zauber auszuüben verstand – »Sie dürfen sich keinen Augenblick derangieren, wenn alte Freunde Sie besuchen, um sich nach Ihrem Befinden zu erkundigen und um sich selbst zu überzeugen, daß die Nachrichten über das günstige Fortschreiten Ihrer Genesung wirklich begründet sind.«

Die Kaiserin war ebenfalls herangetreten, reichte dem Grafen ihre schlanke weiße Hand und sagte mit anmutig liebenswürdigem Lächeln:

»Ohne zu fragen, sehe ich, daß Ihre Besserung fortschreitet. Sie sind noch angegriffen, aber Ihr Blick ist wieder kräftig und frei. Und wir können Ihrem Arzt nicht dankbar genug sein,« fügte sie mit leichter Neigung des Kopfes sich zu dem Doktor van Schmidt wendend, hinzu, »für das, was er getan hat, um uns einen alten und lieben Freund und Ihrem königlichen Herrn einen so treuen und ausgezeichneten Diener zu erhalten.«

»Wenn etwas meine Genesung beschleunigen kann,« sagte der Graf, indem er abermals einen Versuch machte, sich zu erheben, den der Kaiser dadurch vereitelte, daß er ihn mit den beiden Händen auf sein Lager zurückdrückte, – »wenn etwas meine Genesung befördern kann, so ist es die Gnade und die huldvolle Teilnahme, welche Eure Majestät mir beweisen. Ich habe in der Tat«, fuhr er fort, »wieder einige Hoffnung gefaßt, von diesem entsetzlichen Leiden befreit zu werden und dem Leben erhalten zu bleiben. Die Mittel des Doktors van Schmidt sind von einer vortrefflichen Wirkung, und wenn die Kur so fortschreitet, so wird die Wunde meiner Zunge vielleicht in einigen Monaten vollständig geheilt sein.«

»Ich habe mit höchstem Interesse von Ihrer Kur gehört, mein Herr«, sagte Napoleon, sich an den Doktor van Schmidt wendend. »Es wäre ein Glück für die ganze Menschheit, wenn Ihre Mittel sich bewährten und wenn dieses so schmerzliche Leiden dadurch seines verderblichen und zerstörenden Charakters entkleidet würde.«

»Sire,« sagte der Doktor, bis auf einige Schritte an den Kaiser herantretend, »ich bin von der Sicherheit des Erfolges meiner Mittel vollkommen überzeugt. Man hat bisher den Krebs in Europa für eine unheilbare Krankheit gehalten, weil man denselben nur äußerlich und chirurgisch behandelt hat, ohne auf die Quelle des Leidens, d. h. den Giftstoff im Blut zurückzugehen. Gelingt es, diesen Stoff zu zerstören, so heilt die Wunde wie jede andere, und die Krankheit verliert vollständig ihre gefährliche Natur. Die alten Priester des Brahma in Indien haben in gewissen Kräutern ein Spezifikum gegen den Giftstoff im Blut gefunden, welcher den Krebs erzeugt, ähnlich wie das Chinin das kalte Fieber heilt, und wie man für andere den Organismus zerstörende Krankheiten ebenfalls auf empirischem Wege spezifisch heilende Mittel gefunden hat.«

»Ich werde mit dem höchsten Interesse von den Fortschritten Ihrer Kur Kenntnis nehmen,« sagte Napoleon, artig das Haupt neigend, – »und Sie, mein lieber Graf,« fuhr er, sich zu dem Botschafter wendend, fort, »bitte ich, den Mut nicht aufzugeben, und vor allen Dingen den Humor und die gute Laune nicht zu verlieren, welche ganz besonders nötig ist, um die Heilkräfte der Natur zu unterstützen.«

»Dieser Augenblick,« sagte der Graf von der Goltz mit bewegter Stimme, indem sein Blick mit glückstrahlendem Ausdruck an den edlen und schönen Zügen der Kaiserin hing, »dieser Augenblick erfüllt mich mit so viel Glück und Freude, daß ich auf lange hinaus die Kraft haben werde, die Genesung des kranken Körpers durch die Heiterkeit und Freudigkeit der Seele zu unterstützen.«

»Wenn Sie nach Berlin schreiben,« sagte Napoleon, indem seine Augenlider sich senkten und sein Blick sich verschleierte, »so bitte ich Sie, nicht zu unterlassen, dorthin mitzuteilen, wie innigen Anteil ich an Ihrer Genesung nehme, nicht nur, weil Sie uns ein lieber Freund sind, sondern auch, weil Sie es stets verstanden haben, mit so viel Eifer, Takt und Geschick die aufrichtigen freundschaftlichen Beziehungen zu pflegen, welche mich mit Ihrem Könige verbinden, und welche ich von ganzem Herzen für mich zu erhalten und stets fester zu knüpfen wünsche.«

Er reichte dem Grafen die Hand, die Kaiserin grüßte denselben mit unendlich liebenswürdigem Lächeln, und beide Majestäten verließen das Zimmer, um sich in ihre Gemächer in dem Mittelteile des Schlosses zurückzubegeben.

Als der Kaiser in sein Kabinett eingetreten war, schritt er einige Augenblicke in tiefen Gedanken auf und nieder. Er war heiterer noch hier allein und unbeobachtet in seinem Zimmer, als er es draußen in der freien, sonnig lachenden Natur gewesen war.

Mit rascher Handbewegung kräuselte er den grauen Schnurrbart und freudige Genugtuung leuchtete aus seinen Augen, die er hier, wo niemand zugegen war, frei und offen mit glänzenden phosphoreszierenden Blicken umherschweifen ließ.

»So naht sich endlich die Stunde,« sprach er leise zu sich selber, während er sich behaglich in einen Lehnstuhl niederließ, »in welcher ich mich für die lange Demütigung rächen werde, zu der mich die Untüchtigkeit meiner militärischen Macht gezwungen hat. Die zwei Jahre sind vorüber, welche der Marschall Niel verlangte, um die Armee vollständig schlagfertig und der preußischen ebenbürtig wieder ins Feld stellen zu können. Niel hat sein Wort gehalten. Meine Armee steht mächtig da, meine Festungen sind in kriegstüchtigem Zustande, die Flotte ist kampfbereit und nichts hindert mich mehr, den Handschuh aufzuheben, den man mir nach der Schlacht von Sadowa so vermessen hingeworfen hat. Nur noch eine kleine Frist, um diesen Vertrag mit der Königin Isabella zu unterzeichnen, welcher meine Hand nach Rom hin frei macht – und das Spiel der Waffen mag entscheiden, ob fortan Deutschland oder Frankreich an der Spitze von Europa stehen soll, ob die alte Krone des deutschen Reichs sich mächtig wieder erheben wird, oder ob das Diadem meines Oheims den ersten Platz unter den Kronen Europas einnehmen soll –«

»Traurig, daß es so ist,« sagte er, leicht den Kopf auf die Brust senkend, »ich hasse diese lärmenden, nervenerschütternden Entscheidungen der Schlachtfelder. All das vergossene Blut, alle diese Tränen, all die gebrochenen Herzen erfüllen mich mit tiefem Mitgefühl. – Aber«, rief er, den Blick emporrichtend, »es ist nicht meine Schuld, daß es dahin gekommen ist. Ich habe wieder und wieder die Hand geboten; wenn man aber Frankreich nicht gewähren will, was Frankreich mit Recht verlangen kann, was ich für Frankreich fordern muß, so ist es meine Pflicht, nicht länger das Schwert in der Scheide zu halten, – meine Pflicht gegen mein Land, – gegen den Namen, den ich trage, – gegen den Sohn, dessen Zukunft ich zu sichern habe!«

»Und wunderbare Zuversicht erfüllt mich,« sprach er, indem sein Auge heller aufleuchtete, und wie einer Vision folgend vor sich hinblickend; »meine Feinde glauben, daß mein Stern herabgesunken sei vom Zenith seiner Größe, aber ich sehe ihn vor mir stehen in hellem Schimmer, und noch einmal wird er mir zum Siege voranleuchten. – Dann aber,« fuhr er leise fort, indem er die Hände über der Brust faltete, »wenn ich dies Werk vollbracht habe, wenn ich nach außen hin die Größe meines Landes unanfechtbar wiederhergestellt habe, dann will ich die ganze Kraft, die mir noch übrig bleibt, der Wohlfahrt und dem Glück meines Volkes widmen, damit mein Sohn einst umleuchtet von dem Schimmer des Sieges und des Ruhmes seinen Thron fest begründen könne auf die Liebe und Dankbarkeit der Nation, damit endlich die Dynastie meines Hauses wirklich in die Reihe der legitimen Fürstengeschlechter eintritt, nachdem einmal ruhig und unbestritten der Sohn den Thron des Vaters bestiegen!

– Dazu hilf mir, du ewig unerforschliche Macht, welche das Schicksal der Völker lenkt – und ich werde freudig und dankbar diesen Staub, der meinen zerbrechlichen Körper bildet, der Erde zurückgeben und meinen Geist hinüberströmen lassen in die unbekannten Regionen des ewigen Geheimnisses.

Er blieb längere Zeit in tiefe Gedanken versunken sitzen. – Nach einem kurzen Schlag an die Tür meldete der Kammerdiener, daß der Geheimsekretär Pietri Seiner Majestät zu Befehl stände.

Der Kaiser neigte zustimmend den Kopf, richtete sich wie aus einem Traume erwachend empor, und begrüßte freundlich seinen Vertrauten, der mit einer großen Mappe in der Hand in das Zimmer seines Herrn trat.

»Was bringen Sie neues, Pietri?« fragte er mit jenem anmutigen, herzlichen Lächeln, das er stets für seine Freunde und Vertrauten hatte – »sind der Graf und die Gräfin Girgenti in Paris angekommen?«

»Zu Befehl, Sire,« erwiderte Herr Pietri. »Die Herrschaften sind im Hotel des spanischen Botschafters abgestiegen und haben bereits den Marquis de Moustier empfangen, der darüber an Eure Majestät berichtet hat und äußerst zufrieden mit den Mitteilungen ist, welche Herr Mon ihm bei dieser Gelegenheit gemacht. Der Graf von Girgenti und seine Gemahlin haben den Marquis beauftragt, Eure Majestät zu bitten, daß Sie den Tag bestimmen wollen, an welchem sie Ihnen und der Kaiserin ihre Ehrfurcht in Fontainebleau bezeigen können.«

Der Kaiser rieb sich mit zufriedenem Ausdruck die Hände.

»Setzen Sie«, sprach er, »sofort das Telegramm auf, in welchem ich die Gräfin von Girgenti in Paris bewillkommne und sie und ihren Gemahl bitte, uns morgen die Ehre ihres Besuches hier zu schenken. Zuvor aber berichten Sie mir über die Unterredung des Marquis mit Herrn Mon.«

Pietri zog aus seiner Mappe einen Brief im großen Quartformat und reichte ihn dem Kaiser.

»Befehlen Eure Majestät den Bericht des Marquis zu lesen?«

»Nein, nein,« rief der Kaiser, mit der Hand abwehrend, »ich bin etwas müde und mag nicht lesen. Erzählen Sie mir nur, was darin steht. – Ist der Abschluß des Vertrages gesichert?«

»Es scheint so,« erwiderte Herr Pietri, »der Botschafter hat dem Marquis gesagt, daß die spanische Regierung vollkommen bereit sei, in jedem Augenblick, den Eure Majestät bestimmen würde, eine ausreichende Anzahl der besten Truppen nach Rom zu entsenden, um die Unabhängigkeit des päpstlichen Gebietes gegen jede Unternehmung Italiens zu schützen. Nur scheint es,« fuhr er, in den Brief blickend, fort, »daß Ihre Majestät die Königin Isabella eine Bedingung an diesen Vertrag knüpfen möchte.«

»Eine Bedingung?« fragte der Kaiser, »und welche?«

»Es scheint, daß die Königin wünscht,« fuhr Herr Pietri fort, »daß Eure Majestät eine Garantie übernehmen möchten, um sie und ihre Dynastie gegen die revolutionären Bewegungen zu schützen, welche den inneren Frieden Spaniens fortwährend bedrohen.«

Der Kaiser schüttelte etwas verstimmt den Kopf.

»Wie kann ich das?« rief er, »ich bedürfte ja zwei Drittel der französischen Armee, um die Königin vor einer ernsten Revolution zu beschützen. Und das Beispiel meines Oheims«, fuhr er fort, »lehrt mich hinreichend, wie bedenklich es für Frankreich ist, sich in die Angelegenheiten Spaniens zu mischen –«

»Nein, nein,« fuhr er fort, »eine solche Garantie kann ich Ihrer Majestät wirklich nicht geben! Schreiben Sie an Moustier, ich wolle versprechen, alle spanischen Flüchtlinge in Frankreich aufs strengste überwachen zu lassen. Ich wolle dafür sorgen, daß kein Verkehr mit denselben über die spanische Grenze hinüber stattfindet, – mehr aber vermag ich in der Tat nicht zu tun. Die Königin wird übrigens, wenn sie als Beschützerin des Papstes auftritt, eine mächtige Stütze an dem spanischen Klerus haben –«

»Dann,« fuhr er fort, – »ich möchte ihr wohl einen Rat geben, – den sie aber nicht befolgen wird. Sie könnte sich gegen alle drohenden Gefahren schützen, wenn sie diejenigen Männer, welche die Seele einer Revolution werden könnten, für sich gewinnen und um sich vereinigen wollte. In allen diesen spanischen Bewegungen ist doch immer nur unbefriedigter Ehrgeiz die Triebfeder aller Unruhen – wenn sie sich mit Prim verständigen könnte –«

Er dachte einige Augenblicke nach.

»Doch schreiben Sie darüber nicht an Moustier,« sagte er dann, – »das eignet sich nicht für diplomatische Verhandlungen. Vielleicht kann ich der Gräfin Girgenti einige Worte darüber sagen. – Und«, fuhr er abbrechend fort, »hat man über eine persönliche Begegnung mit der Königin gesprochen?«

»Herr Mon hat dem Marquis de Moustier gesagt,« erwiderte Pietri, »daß es die Königin Isabella unendlich glücklich machen würde, Eure Majestät und die Kaiserin persönlich zu begrüßen. Die Königin wird in kurzer Zeit nach San Sebastian gehen, und es würde sie hoch erfreuen, dort einen Besuch Eurer Majestät und der Kaiserin zu empfangen, den sie dann sogleich in Biarritz erwidern würde.«

Der Kaiser lächelte.

»Eigentlich sollte Spanien Frankreich den ersten Besuch machen,« sagte er – »doch sie ist eine Dame, – mag es darum sein. Ich bin bereit, sie in San Sebastian zu besuchen.«

»Der Marquis de Moustier«, fuhr Herr Pietri fort, »hat noch eine leichte Andeutung darüber gemacht, daß, wenn die spanischen Truppen Rom besetzt hielten, und Italien dennoch eine feindliche Unternehmung wagen sollte, der König Franz II. sich in der Lage befände, einen energischen und kräftig organisierten Aufstand in Neapel zu erregen.«

Das Antlitz des Kaisers verfinsterte sich ein wenig.

»Sie verdienen es nicht besser,« sagte er, – »ich habe mein Wort gelöst, an das sie mich mit Höllenmaschinen und Dolchen gemahnt haben – ich habe dieses Italien frei bis zur Adria gemacht, ich habe ihm seine nationale Selbständigkeit und Größe mit französischem Blut erkämpft. Dafür hassen sie Frankreich und sind stets bereit, sich an die Seite seiner Feinde zu stellen. Sie wollen meine Warnung nicht hören, sie wollen dem Papst Rom nehmen, statt sich mit ihm fest und innig zu verbünden. Sie vergessen, daß die weltliche Herrschaft des Papstes die Bedingung seiner Oberhoheit über die katholische Welt ist, und daß das Papsttum die wesentliche Stütze des Übergewichtes der lateinischen Rasse bildet. – Sie wollen nicht hören, so mögen sie denn wieder zurückfallen in ihre alte Ohnmacht. – Wenn es dem König Franz gelingt, seinen Thron in Neapel aufzurichten, so werde ich nicht zum zweitenmal französische Truppen zur Unterstützung des Königs Viktor Emanuel hinsenden. –«

»Es ist eigentümlich,« sagte er nach einer kurzen Pause, »daß ich mich da mit einem Male als Alliierter der Bourbonen finde. – Bourbon und Bonaparte! – Welche wunderbare Kombination bringt nicht unsere Zeit hervor!

»Doch kann auch dies vielleicht nützlich sein. Ich gäbe viel darum, einen vollständigen und definitiven Frieden mit den Legitimisten Frankreichs zu machen. Durch Chambord ist es nicht möglich! Vielleicht können die Bourbons von Spanien und Neapel mir die Brücke dazu bauen.« –

»Was haben Sie sonst?« fragte er.

»Einen Bericht des Admirals Rigault de Genouilli«, sagte Pietri, indem er das Schreiben des Marquis de Moustier wieder in die Mappe steckte und ein ziemlich ausführliches Schriftstück daraus hervorzog, – »voll genauer Mitteilungen über die Peilungen, welche der in die Gewässer von Delfzyl abgesandte Kriegsdampfer dort vorgenommen hat. Der Admiral ist nach den Angaben der Marineoffiziere der Ansicht, daß es nicht schwer sein würde, in jener Gegend eine Landung auszuführen.«

»Geben Sie,« rief der Kaiser, lebhaft die Hand ausstreckend, »geben Sie, ich will das genau studieren, sobald ich Zeit habe. Die Frage ist äußerst wichtig, eine Landung an der hannöverischen Küste, welche sich auf einen Aufstand in Hannover und auf eine Armeediversion von Holland her stützt, ist ein wichtiges Glied in dem Kriegsplan des Marschall Niel. Es darf nichts aus der Acht gelassen werden, um uns ganz vollständig bis in die kleinsten Details von der Möglichkeit und Ausführbarkeit einer solchen Landung zu vergewissern.«

Er ergriff den Bericht, welchen Pietri ihm reichte, und legte ihn neben sich auf den Tisch.

»Damit zusammen hängen die Berichte der nach Süddeutschland gesandten Generalstabsoffiziere, deren Resultate von dem Kriegsministerium zusammengestellt sind«, fuhr Pietri fort, indem er dem Kaiser ein anderes Papier überreichte. – »Auch diese Berichte sprechen sich sämtlich dahin aus, daß eine Operation von Süddeutschland her gegen Preußen hinauf große Chancen des Erfolges bieten würde. Namentlich wenn zu gleicher Zeit am untern Rhein und an den Küsten Ostpreußens Streitkräfte absorbiert würden.«

Der Kaiser legte den Bericht zu dem ersteren.

»Ich muß das alles mit Niel ausführlich prüfen,« sagte er, »sobald derselbe von Toulouse zurückkommt, – wo er mir«, fügte er hinzu, »eine etwas zu kriegerische Rede gehalten hat. Offiziell muß jetzt der tiefste Frieden in allen Äußerungen der Regierung herrschen. – In der Presse ist es etwas anderes, da kann man schon ein wenig mehr die Stimmung der öffentlichen Meinung vorbereiten.« »In dem Augenblick, als ich zu Eurer Majestät eintreten wollte,« sprach Pietri weiter, »wurde mir ein ziemlich langes chiffriertes Telegramm von Benedetti gebracht, das ich sogleich in das Bureau zum Dechiffrieren gegeben habe.«

»Von Benedetti!« rief der Kaiser. »Ich bin sehr gespannt, was von dort kommt. Sehen Sie, ich bitte Sie, sogleich nach, ob die Depesche entziffert ist.«

Pietri stand auf, ging schnell hinaus und kehrte nach einigen Augenblicken mit etwas erregter Miene zurück.

Er hielt eine Depesche in der Hand, auf welcher noch in dem Augenblick, in welchem er in das Zimmer des Kaisers trat, sein Auge ruhte.

»Sire,« sagte er, »eine eigentümliche und unerwartete Nachricht. Der Graf Bismarck hat auf seinem Landsitz einen schweren Sturz mit dem Pferde getan. Es scheint, wie Benedetti schreibt, daß das Pferd mit dem Vorderfuß in eine Erdhöhle getreten ist und sich überschlagen hat. Der Graf ist vollständig von seinem Pferde bedeckt gewesen und einige Augenblicke bewußtlos und der Sprache beraubt geblieben.«

»Und weiter?« fragte der Kaiser mit der äußersten Spannung.

»Der Unfall scheint keine unmittelbare Gefahr gehabt zu haben. Doch leidet Graf Bismarck, wie Benedetti berichtet, an heftigen Schmerzen in sämtlichen Muskeln des Körpers und ist an jeder ernstlichen Beschäftigung und am Empfang von Besuchen verhindert.«

Ein freudiger Schimmer erhellte das Antlitz des Kaisers.

»Mein Stern leuchtet noch,« sagte er, halb zu sich selbst sprechend, – »ich wünsche wahrlich meinem guten Freunde, dem Herrn von Bismarck,« fügte er lächelnd hinzu, »nichts Böses und gönne ihm vom Herzen die beste Gesundheit und ein hohes Alter. Aber dieser kleine Unfall, der ihn ein wenig arbeitsunfähig macht und an sein Lager in Barzin fesselt, ist in diesem Augenblick für mich von großer Wichtigkeit. – Er hat scharfe Augen, der Graf Bismarck,« fuhr er fort, »viel zu scharfe Augen, und für mich kommt alles darauf an, daß der Schlag, den ich führen will, so plötzlich und unerwartet als möglich kommt. Wenn er krank in Barzin liegt, so wird er ein wenig verhindert sein, zu sehen, was in Europa vorgeht, und ich kann hoffen, ihn zu überraschen, was sonst nicht leicht ist. – Sorgen Sie dafür,« fügte er hinzu, »daß der Marquis de Moustier sich bei dem Grafen Solms in Paris auch in meinem Namen nach dem Befinden des preußischen Ministers erkundigt und ihm meine Teilnahme über seinen Unfall ausspricht. – Ich werde Sie später noch sehen«, fuhr er fort, indem er sich erhob. »Ist Laguéronnière hier?«

»Ich habe gehört, daß der Vicomte angekommen ist«, sagte Pietri. »Er wird zu Eurer Majestät Befehl stehen.« – Er nahm seine Mappe und verließ das Kabinett des Kaisers.

Der Kaiser bewegte die Glocke.

»Der Vicomte von Laguéronnière!« befahl er dem eintretenden Kammerdiener.

Einige Minuten später trat der berühmte und geschmeidigste Publizist des Kaiserreichs, welcher soeben im Begriff stand, nachdem er bereits zur Würde eines Senators erhoben worden war, seine Kräfte der aktiven Diplomatie zu widmen und als Gesandter nach Brüssel zu gehen, in das Kabinett.

Herr von Laguéronnière, eine hohe Gestalt, deren ehemals schlanke Formen etwas breit und voll geworden waren, ohne darum ihre elastische Geschmeidigkeit einzubüßen, war damals fast sechzig Jahre alt. Sein dünn gewordenes Haar war noch wenig ergraut, – seine etwas starken Züge, die große Nase, der breite Mund machten sein Gesicht eher häßlich als schön; doch lag in der geistig belebten Klarheit seines Ausdrucks, in dem scharfen, zuweilen leicht humoristisch boshaften Blick seines klugen Auges etwas ungemein Anziehendes – seine Ausdrucksweise und seine Bewegungen zeigten die ruhige Sicherheit des vornehmen Mannes.

Herr von Laguéronnière, im schwarzen Überrock, die Rosette der Ehrenlegion im Knopfloch, verbeugte sich tief und näherte sich dem Kaiser, der ihm entgegentrat und ihm mit freundschaftlicher Herzlichkeit die Hand reichte.

»Ich habe Sie bitten lassen, zu mir zu kommen, mein lieber Vicomte,« sagte er, »weil ich Ihnen vor dem Antritt Ihres Postens in Brüssel noch meine persönlichen Instruktionen geben wollte. Setzen Sie sich und lassen Sie uns ein wenig plaudern.«

Der Kaiser ließ sich bequem in seinen Lehnstuhl nieder, machte sich aus seinem Seidenpapier und türkischem Tabak, welcher in einer geschnitzten Holzschale auf einem kleinen Tisch stand, eine Zigarette, entzündete dieselbe an der auf demselben Tische brennenden Kerze und blies die bläulichen Wolken des aromatisch duftenden Rauches vor sich hin.

»Ich habe Eurer Majestät«, sagte der Vicomte mit seiner etwas leisen, leicht lispelnden Stimme, – »nochmals meinen Dank auszusprechen für das Vertrauen, welches mir die Ernennung für Brüssel bewiesen hat und welches mir Gelegenheit gibt, auf dem Gebiet der Diplomatie meine Kräfte im Dienste Eurer Majestät zu erproben.«

»Für einen Mann von Ihrem Geiste und Ihrer Geschicklichkeit,« sprach der Kaiser, »für einen Mann, der bereits – und mit so großem Verdienst, die Würde eines Senators bekleidet, könnte der Posten in Brüssel untergeordnet erscheinen – und ich hätte Ihnen gerne einen der bedeutenderen Botschafterposten an einem großen europäischen Hofe übertragen –«

Herr von Laguéronnière verneigte sich mit einer Miene, als teile er vollständig die von dem Kaiser ausgesprochene Ansicht. Auf seinem Gesicht erschien ein leichtes Erstaunen, man konnte in dem beredten Blick seines Auges fast die Frage lesen, warum denn der Kaiser, der doch nur zu wollen habe, nicht seinen Worten gemäß handele.

»Allein«, fuhr Napoleon fort, – »in diesem Augenblick ist der Posten in Brüssel wichtiger und bedeutungsvoller als alle anderen, und gerade dort bedarf ich eines Mannes von treuer und erprobter Ergebenheit, von strenger Diskretion und von einer Geschicklichkeit, welche den schwierigsten und delikatesten Verhältnissen gewachsen ist, – mit einem Wort, einen Mann, der alle die Eigenschaften besitzt, welche Sie in so hohem Grade auszeichnen.«

Herr von Laguéronnière verneigte sich abermals, wie unwillkürlich spielte ein Lächeln befriedigter Eitelkeit um seine Lippen, dann schlug er den fragenden Blick mit dem Ausdruck gespanntester Aufmerksamkeit zum Kaiser auf. Napoleon lehnte sich behaglich in seinen Stuhl zurück und sprach, nachdem er eine dichte Ringelwolke in die Luft geblasen:

»Mein lieber Vicomte, – die lange Zeit der Ruhe, in welcher wir untätig zugesehen haben, wie die Geschicke Europas von andern Händen geleitet wurden, ist vorüber. Ich bin entschlossen, die Stimme Frankreichs ernst und mächtig ertönen zu lassen, und dieser Stimme, wenn es nötig ist, – und ich glaube, es wird nötig sein, – den Nachdruck der Waffen zu geben.«

Herr von Laguéronnière fuhr zusammen. Einen Augenblick sah er wie erschrocken den Kaiser an. Dann erschien der Ausdruck der Befriedigung auf seinem Gesicht und mutiger Stolz leuchtete aus seinen Augen.

»Ich bin immer überzeugt gewesen, Sire,« sagte er, »daß dieser Augenblick kommen würde. Ich habe die Gefühle vollkommen begriffen und mitempfunden, welche Eure Majestät nach der Schlacht von Sadowa haben erfüllen müssen, als Preußen auf der Höhe seiner Siegeserfolge so rücksichtslos jede Verständigung mit Frankreich zurückwies. Ich habe mir gesagt, daß in der Tiefe der Seele Eurer Majestät der Gedanke ruhen müsse, die für Frankreich so verderblichen Konsequenzen jener Ereignisse wiederaufzuheben. Und ich habe,« fuhr er fort, »solange ich die Ehre habe, Eure Majestät zu kennen, wohl gesehen, daß Sie einen Gedanken lange in sich verschließen, seine Ausführung weit hinausschieben können, aber noch niemals habe ich gesehen, daß Sie denselben wieder aufgaben.«

»Es scheint, daß Sie mich scharf beobachtet haben,« sagte der Kaiser lächelnd, »nun wohl, wenn ich damals jenen Gedanken gefaßt habe, den Sie mir zuschreiben, wenn ich die Pläne zu seiner Ausführung lange vorbereitet und in mir getragen habe, so ist jetzt der Moment des Handelns gekommen.«

»Ich bin glücklich,« sagte Herr von Laguéronnière, »dies zu vernehmen, denn ich zweifle nicht, daß, wenn Eure Majestät zur Tat schreiten, die Vorbereitungen vollendet sind und kein Fall übersehen worden ist, der dabei in Frage kommen kann. Ich bin doppelt glücklich«, fuhr er fort, »darüber, daß es mir vergönnt sein soll, an der Ausführung der Gedanken Eurer Majestät tätig mitzuwirken, und werde mit dem größten Eifer bemüht sein, Ihrem Vertrauen zu entsprechen.«

»Sie wissen,« sagte Napoleon, »wie tief ich von der Notwendigkeit überzeugt bin, die Unabhängigkeit des Papstes und dadurch den Einfluß Frankreichs in Italien zu erhalten. Sie werden ebensowenig wie ich daran zweifeln, daß bei jeder Verwicklung Frankreichs Italien gegen Rom vordringen und mich dadurch zwingen würde, meine Kräfte zu teilen. Meine erste Sorge muß daher sein, bei einer Aktion gegen den Rhein mir nach jener Seite hin den Rücken zu decken. Ich habe es versucht, eine Allianz mit Italien zu schließen. Es ist nicht gelungen. Der König Viktor Emanuel war dazu geneigt, aber das Kabinett Ratazzis ist gestürzt, – auf das man sich im Grunde auch wenig verlassen konnte«, schaltete er achselzuckend ein. »Und in diesem Augenblick beherrschen die Gegner Frankreichs die italienische Politik. Ich habe deshalb eine andere Kombination ins Auge gefaßt, und sie ist in diesem Augenblick der Ausführung nahe; im Moment einer französischen Aktion«, fuhr er fort, während Herr von Laguéronnière in höchster Spannung zuhörte, »werden meine Truppen in Rom durch diejenigen der Königin Isabella ersetzt werden, und wenn Italien einen Versuch machen sollte, das Engagement Frankreichs nach anderer Seite hin zu einem Handstreich zu benutzen, so wird es sich der spanischen Macht und vielleicht einer bourbonischen Erhebung in Neapel gegenüber befinden.«

»Ich bewundere die so einfache und doch so großartige Kombination Eurer Majestät,« sagte Herr von Laguéronnière, »durch dieselbe ist in der Tat die wesentlichste Schwierigkeit beseitigt, welche sich einem Kampf Frankreichs gegen die übermächtig gewordenen Sieger von Sadowa entgegenstellt.«

»Doch«, sprach der Kaiser weiter, »es ist ein zweiter Punkt vorhanden, welcher in dem bevorstehenden Entscheidungskampfe von hoher Wichtigkeit ist. Nach dem wohlüberlegten Plan meines Generalstabes muß der Krieg gegen Preußen in drei großen Vorstößen geführt werden. Der eine wird sich von Metz aus auf das Herz Deutschlands zu richten haben; der andere, von Straßburg herausdringend und die Süddeutschen mit sich fortreißend, sich mit jenem ersten zu vereinigen haben; der dritte muß von der holländischen Seite her, durch eine Flottenoperation vom Lande unterstützt, sich geradezu gegen die eigentliche preußische Macht richten. In dieser letzteren Richtung ist nun die Haltung Belgiens von großer Wichtigkeit.

Herr von Laguéronnière neigte den Kopf mit dem Ausdruck des Verständnisses.

»Es kommt darauf an,« sagte der Kaiser, »Belgien dahin zu bringen, daß es im Augenblick der Aktion, und vielleicht«, fügte er hinzu, »scheinbar der Gewalt weichend, seine Neutralität aufgibt, und unsern militärischen Operationen keine Hindernisse in den Weg legt. Ich fürchte,« sprach er weiter, »daß die Regierung in Brüssel kaum gewillt sein wird, einen derartigen Vertrag abzuschließen. Auch halte ich es für sehr bedenklich, darüber nur in Unterhandlungen zu treten. Denn bei den Beziehungen des belgischen Hofes würde schon die Nachricht von der ersten Anbahnung derartiger Verhandlungen entweder direkt oder über London und Koburg nach Berlin dringen und damit die erste Bedingung unseres Aktionsplans, das absolute Geheimnis, aufheben. Nach meiner Idee wird es darauf ankommen, auf die belgische Regierung erst im letzten Augenblick, wenn das Spiel bereits offen engagiert ist, einzuwirken, dagegen aber vorher sich aller Druckmittel zu versichern, die man in jenem letzten, entscheidenden Augenblick auszuüben imstande sein könnte. – Sie kennen die Negoziation, welche in betreff des Ankaufs luxemburgischer Bahnen durch die Ostbahn stattfindet.«

Herr von Laguéronnière verneigte sich zustimmend.

»Hierin liegt«, sagte der Kaiser, »schon ein wesentliches Hilfsmittel. Und Sie werden dieser Angelegenheit Ihre besondere Aufmerksamkeit zu widmen die Güte haben. Doch«, fuhr er fort, »müßten wir in anderer Richtung noch energischer wirken. – Es ist, wie Sie wissen, – und ich werde Ihnen darüber die ausführlichen Akten und Berichte zugehen lassen, – durch geschickte Agenten eifrig dahin gearbeitet worden, die zahlreichen französischen Sympathien, welche in der Bevölkerung Belgiens lebendig sind, zu stärken und einheitlich zu organisieren. Diese Sympathien müssen im entscheidenden Augenblick zu energischen oder auf die Regierung mächtig drückenden Kundgebungen gebracht werden. Aus der französischen Bevölkerung Belgiens heraus muß man den Anschluß an die Politik und Aktion Frankreichs verlangen, so daß die Regierung des Königs Leopold sich der Macht Frankreichs an den Grenzen und dem laut kund gegebenen Willen des eigenen Volkes gegenüber befindet.«

»Ich verstehe, Sire, ich verstehe vollkommen,« sagte Herr von Laguéronnière, »und ich fange an, die hohe Wichtigkeit meiner Mission auf dem Brüsseler Posten zu begreifen. Ich bin stolz auf das Vertrauen Eurer Majestät, welches eine so hochbedeutungsvolle Sache in meine Hände legt.«

»Die Bedeutung der Frage,« sagte der Kaiser sinnend vor sich hinblickend, »erstreckt sich über den Augenblick der Aktion hinaus. Wenn wir siegreich aus dem Kampf hervorgehen, so muß die Wiederkehr solcher Verhältnisse, wie sie das Jahr 1866 geschaffen, für immer ausgeschlossen werden. Ich glaube,« fuhr er fort, »daß das im deutschen Volke einmal zum Bewußtsein gekommene Streben nach nationaler Einigung sich auf die Dauer nicht wird zurückdrängen lassen. Nach den Grundsätzen, welche ich für die moderne Entwicklung des Volkslebens als richtig und maßgebend anerkenne, kann es unsere Aufgabe nicht sein, sich jenem naturgemäßen Streben zu widersetzen. Dagegen müssen wir Garantien gewinnen, welche Frankreich vor den Gefahren schützen, die ihm aus einem militärisch geeinigten Deutschland entstehen müssen. Ich habe bereits nach der Schlacht von Sadowa die Errichtung eines neutralen Rheinstaats vorgeschlagen. Ich dachte damals den Erbprinzen von Hohenzollern dorthin zu setzen. Man hat das alles in Berlin zurückgewiesen. – Nun, wenn wir die Macht gewinnen sollten, unsere Bedingungen zu stellen, so werde ich auf jenen Plan zurückkommen; – ich werde für Frankreich selbst nichts verlangen als die Grenzen von 1814, – dagegen aber auf die Bedingung eines vollkommen neutralisierten, die beiden Nationen von Deutschland und Frankreich militärisch trennenden und ökonomisch wieder verbindenden Staatsgebiets am Rhein bestehen. Ich werde dann«, fuhr er fort, »nicht mehr auf den Prinzen von Hohenzollern zurückkommen, vielmehr möchte diese Kombination dann mit unserem Verhältnis mit Belgien in Verbindung zu bringen sein. Wenn die Manifestationen der belgischen Bevölkerung für Frankreich die nötige Intensivität annehmen, wenn dann am Ende des Feldzuges die militärischen Positionen Belgiens in unseren Händen sich befinden, so möchte vielleicht der Augenblick gekommen sein, die natürlichste Abrundung des französischen Gebiets auszuführen und jenen künstlich geschaffenen Staat Belgien verschwinden zu lassen, indem man seine französischen Bestandteile Frankreich wiedergibt und seine flämischen Gebiete den Holländern überläßt. – Eine wesentliche Schwierigkeit«, fuhr er fort, »würde hierbei die dynastische Frage bilden. Die belgische Familie ist zwar nur eine dem künstlichen Staate willkürlich gegebene Dynastie, doch steht sie in nahen Beziehungen zu den ersten Höfen von Europa, und entthronte Dynastien sind schlimme, unversöhnliche und unendlich schwer anzufassende Feinde. Würde man durch ein neutrales Rheinkönigreich der jetzigen belgischen Dynastie einen neuen Thron bieten können, so würde die ganze Sache sich leichter arrangieren –

Dies also«, fuhr er nach einem augenblicklichen Stillschweigen fort, »ist der Ideengang, nach welchem Sie sofort Ihre eifrigste Tätigkeit in Brüssel werden zu regeln haben. Es faßt sich in wenige Worte zusammen: Zunächst tiefes Geheimnis, kräftige Organisation der französischen Sympathien – gestützt auf dieselben im entscheidenden Moment, starkes und festes Auftreten, das womöglich zu scharfem Riß zwischen der Bevölkerung und dem Könige führt, der sich in einem Augenblick, in welchem die französische Armee an den Grenzen steht, keine Stütze wird schaffen können, denn die uns feindlichen Elemente der Bevölkerung werden in einem solchen Augenblick vorsichtig schweigen, während unsere Freunde um so lauter ihre Stimmen erheben. Dies, mein lieber Vicomte, ist meine persönliche Instruktion. Schriftlich«, fuhr er lächelnd fort. »werden Sie nichts darüber erhalten, und über den letzten Teil derselben, über die Zukunftsperspektive, welche ich Ihnen soeben eröffnet habe, bitte ich Sie, ganz ausschließlich nur mit mir zu sprechen und zu korrespondieren.

Und nun«, sagte er aufstehend, »schicke ich Sie fort, Ihr Besuch hier darf nur den Charakter einer einfachen Verabschiedung haben. Ich wünsche nicht, daß man im Publikum und in den Kabinetten Europas Ihrer Sendung nach Brüssel irgendwelche Wichtigkeit beilegt. Ich werde Sie noch bei Tische sehen. – Heute abend gehen Sie nach Paris zurück und lassen sich Ihre offizielle Instruktion auf dem auswärtigen Ministerium geben. Sie haben mit mir persönlich zu korrespondieren und ich hoffe, daß das oft geschehen wird und daß Ihre Briefe mir erfreuliche Nachrichten bringen werden. Senden Sie mir dieselben durch Kuriere, die sich ohne jede Vermittlung direkt bei Pietri zu melden haben. Ich werde es nicht übelnehmen,« sagte er noch, indem Herr von Laguéronnière sich tiefverneigend verabschiedete, »wenn Sie sich bei vorkommender Gelegenheit ein wenig unzufrieden darüber aussprechen, daß ich Sie auf den unbedeutenden Posten nach Brüssel geschickt habe.«

»Ich werde mir diesen Mangel an Ehrerbietung erlauben, Sire,« erwiderte Herr von Laguéronnière, »und zu gleicher Zeit bestrebt sein, Eurer Majestät zu beweisen, daß Sie mich richtig geschätzt haben, indem Sie mir diesen kleinen und unbedeutenden Posten anvertrauen.«

Er verließ das Kabinett.

Der Kaiser blickte ihm einen Augenblick schweigend nach.

»Er ist eifrig und geschickt,« sagte er, »er ist mir und dem Kaiserreich treu ergeben – auch würde er kaum in andern Verhältnissen mehr die Wurzeln einer neuen Existenz schlagen können. Er wird alle Kraft an die Erfüllung seiner Mission setzen und wird reüssieren. – Meine Vorbereitungen vollenden sich immer mehr und mehr. – Jetzt einen Wink an die öffentliche Meinung, einen ersten Alarmschuß, um die nationalen Gefühle des französischen Volkes zu erwecken.«

Er bewegte die Glocke.

»Herr Paul von Cassagnac!« befahl er dem eintretenden Kammerdiener. »Er soll mich in den Garten begleiten.«

Nach einigen Augenblicken trat die athletische Gestalt des jungen Publizisten, welcher eine so scharfe Feder führte und soeben in seinem Zweikampf mit Lissagaray bewiesen hatte, daß die Spitze seines Degens ebenso scharf sei als seine Feder, in das Kabinett. Das kräftig geschnittene, jugendlich blühende Gesicht des Herrn von Cassagnac, welcher damals etwa achtundzwanzig Jahre alt sein mochte, trug den Ausdruck einer gewissen harmlosen Gutmütigkeit, welche aber in der Unterhaltung oft einer heftigen, nervösen Erregung Platz machte. Seine großen dunklen Augen blickten mit aufrichtiger Liebe und Verehrung auf den Kaiser, der ihn freundlich, mit fast väterlicher Herzlichkeit begrüßte.

»Gestatten Eure Majestät,« sagte Herr von Cassagnac mit seiner kräftigen, volltönenden Stimme, »daß ich zunächst nochmals persönlich meinen untertänigsten Dank für die Verleihung des edlen Zeichens ausdrücke, das ich durch meine Treue und Ergebenheit mehr verdient habe, als durch die Tat.«

Er deutete mit der Hand auf das rote Band der Ehrenlegion, welches er im Knopfloch seines schwarzen Überrocks trug.

»Gesinnungen, wie die Ihrigen, mein lieber Freund,« sagte der Kaiser, »wiegen oft schwerer als Taten. Wenn sich die Gelegenheit bieten wird, bin ich überzeugt, daß alle Ihre Handlungen den Gesinnungen entsprechen werden. Ich will einen kleinen Gang im Park machen,« sagte er, »Sie sollen mich begleiten und mir ein wenig berichten, was die öffentliche Meinung in meiner guten Stadt Paris macht.«

»Die öffentliche Meinung, Sire,« erwiderte Herr von Cassagnac lebhaft, »schläft in diesem Augenblick. Man spricht von allen möglichen Dingen, nur nicht von dem einzigen, das nach meiner Überzeugung jetzt jedes französische Herz erfüllen sollte: von der Notwendigkeit, den sinkenden Ruhm und die abnehmende Macht Frankreichs wiederherzustellen und Europa, vor allem aber diesem hochmütigen Preußen, zu beweisen, daß der Degen Frankreichs noch scharf geschliffen ist.« »Sie sind noch immer der alte Heißsporn,« erwiderte der Kaiser, ihm freundlich auf die Schulter klopfend, »der nicht begreifen will, daß man heute nicht mehr wie zu Bayards Zeiten so ohne alle weiteren Hilfsmittel in den Kampf zieht als sein Schwert und die Devise seiner Dame.«

»Eure Majestät tun mir unrecht,« sagte Paul von Cassagnac, – »wenn ich der französischen Politik das Herz Bayards wünsche, so wünsche ich ihr doch dabei einen sehr kalten, klaren und ruhig überlegenden Kopf. Doch,« fuhr er fort, »ich sehe in der Tat nicht ein, was jetzt noch zu überlegen wäre. Die Organisation der Armee ist durch den geistvollen und energischen Marschall Niel vollendet! Alles ist bereit! Die Gründe zum Handeln liegen überall vor! Die Verträge sind überall verletzt, oder nicht ausgeführt! Die Unzufriedenheit in Deutschland wächst täglich! Die Sympathien der Unterdrückten in jenem Lande wenden sich zu uns! Unsere Finanzen sind blühend! Alles, alles ist in diesem Augenblick uns günstig! Worauf warten wir noch?«

»Worauf warten wir noch?« wiederholte der Kaiser halb leise. »Es scheint mir,« sagte er dann, indem er den Blick mit einem eigentümlichen Ausdruck auf den jungen Mann richtete, »daß Sie diese Frage nicht am richtigen Ort stellen.«

»Ich bitte Eure Majestät um Verzeihung wegen meiner Kühnheit,« sagte Herr von Cassagnac etwas betroffen, »aber Sie wissen, Sire, es wird mir schwer, das zu verschweigen, was mein Herz erfüllt, am schwersten Eurer Majestät gegenüber, da Ihnen mein ganzes Vertrauen und meine ganze Hingebung gehört.«

»Sie haben meine Worte mißverstanden«, sagte der Kaiser lächelnd. »Ich meine, jene Frage, die Sie soeben aussprachen, sollten Sie nicht an mich, hier in der Stille meines Kabinetts richten, Sie sollten sie mir laut vorlegen, vor der Nation, vor der öffentlichen Meinung von Frankreich.«

Ganz erstaunt blickte Herr von Cassagnac mit großen Augen den Kaiser an.

»Wenn Sie diese Frage aufwerfen,« sagte Napoleon, »wenn Sie diskutieren mit Ihrem Talent, mit Ihrer Schärfe, mit Ihrem Feuer und Ihrer Begeisterung, so zweifle ich nicht, daß in nicht langer Zeit ganz Frankreich laut und vernehmlich jene Frage wiederholen wird. Und dann,« sagte er, – »Sie wissen, daß ich nur der Erwählte und der Vertreter der Nation bin, dann werde ich wohl endlich auch fragen müssen: worauf soll ich noch warten?«

»Sire,« rief Paul von Cassagnac, indem sein Auge leuchtete und sein Gesicht in nervöser Erregung zitterte, »Sire, um Gottes willen, welche Perspektive eröffnen Eure Majestät mir!«

Der Kaiser bewegte schnell die Glocke und legte lächelnd den Finger auf den Mund.

Der Kammerdiener trat ein. Herr von Cassagnac schwieg, ohne indessen seine Ruhe und Fassung wieder gewinnen zu können.

»Wie geht es meinem armen Nero? Kann er mich begleiten?«

»Nero ist sehr schwach, Sire,« sagte der Kammerdiener. »Doch, wenn Eure Majestät nicht lange gehen, so wird ihm die frische Luft und etwas Bewegung gewiß gut tun.«

»So lassen Sie ihn kommen«, sagte Napoleon, indem ein schmerzlicher Ausdruck in seinem Gesicht erschien.

Der Kammerdiener führte nach wenigen Augenblicken einen mächtigen, großen Neufundländerhund in das Zimmer. Aber nicht wie sonst näherte sich das treue Tier dem Kaiser mit mächtigem Satz, nicht wie sonst legte er seine Tatzen auf die Schulter seines Herrn und schmiegte seinen großen langhaarigen Kopf an dessen Gesicht. Er näherte sich langsam mit etwas schwankendem Gang dem Kaiser, legte sich zu dessen Füßen nieder und blickte aus seinen großen Augen, wie fragend und hilfesuchend, traurig empor.

Der Kaiser beugte sich nieder und fuhr sanft mit der Hand über den Kopf des Hundes.

»Du bist krank, mein armer Nero,« sagte er mit unendlich weicher Stimme, »aber es wird vorübergehen. Du wirst wieder gesund werden; sicherer vielleicht«, fügte er seufzend hinzu, »als ich; – die Tage der Jugend sind dahin! – Ich habe so viele Freunde verloren unter den Menschen, sollte ich auch dich noch verlieren, – dich, vielleicht das treueste Herz, das je für mich geschlagen?«

Der Hund spitzte die Ohren und blickte mit verständnisvollem Blick zum Kaiser empor.

»Stehe auf«, sagte Napoleon, indem ein feuchter Schimmer seinen Blick verdunkelte, »wir wollen ausgehen!«

Nero erhob sich, wedelte ein wenig mit dem Schwanz und schien den Versuch machen zu wollen, wie früher dem Kaiser voraus zu springen. Doch die Kraft versagte ihm, traurig schüttelte er den Kopf und schritt langsam und schleppend hinter seinem Herrn her, welcher, leicht auf den Arm des jungen Herrn von Cassagnac gestützt, in den Park hinausging.


 << zurück weiter >>