Oskar Meding
Zwei Kaiserkronen
Oskar Meding

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Fünftes Kapitel

Es ist ein eigentümliches Land, die alte Provinz Ostpreußen, welche sich an der nördlichsten Grenze von Deutschland dem Strande der Ostsee entlang ausdehnt. Reichbewaldete Bergrücken durchziehen den inneren Teil des Landes und umschließen wunderbar romantisch gelegene Binnenseen. Weiter nach dem Strande der See zu fällt das Land flacher ab in reichen Fruchtfeldern und üppigen Wiesen, die entweder nach der See hin in wellenförmige, seegrasbewachsene Dünen auslaufen oder auch, zu hohen, wiederum waldgekrönten Ufern aufsteigend, in jähem weißsandigen Abhang zu dem schmalen Meeresstrande abfallen.

Die Bevölkerung dieses entlegenen Landes ist im allgemeinen urdeutsch, abstammend von den Kolonien, welche der deutsche Orden einst hierherzog, um die in blutigen Kriegen fast gänzlich ausgerotteten Ureinwohner zu ersetzen. Die Erinnerung an die Ordensherrschaft lebt im Lande fort in tausend Gestalten. Alle größeren Städte lehnen sich an alte Burgen des deutschen Ordens, welche in ihrem massiv gotischen Bau der Verwüstung der Zeit siegreich getrotzt haben und in unveränderter Schönheit heute noch ebenso stolz in das Land blicken, wie zu den glänzenden Zeiten Siegfrieds von Feuchtwangen und Winrichs von Kniprode, wenn sie auch heute nicht mehr die Komtureien der deutschen Herren enthalten, sondern für Kreisgerichte und andere Behörden benutzt werden.

In den kleineren oder größeren Städten, welche sich am Fuße der Burghügel ausdehnen, findet man die Marktplätze und Rathäuser in mehr oder weniger einfacher Miniaturnachahmung nach dem Modell des St. Markusplatzes in Venedig erbaut, von wo der Orden einst nach Preußen kam. Häuser mit Laubengängen fassen die viereckigen Marktplätze ein, und erst in der neuesten Zeit fangen die eigentümlichen Spitzbögen dieser Gänge bei Neubauten allmählig an zu verschwinden. Wie im Äußeren in den Burgen und Städten die Erinnerung an die vergangene Zeit der Ordensherrschaft in das heutige Leben hereinragt, so lebt sie auch fort in den romantischen und von Generation zu Generation sich vererbenden Volkssagen sowie in den städtischen und ländlichen Gemeindeeinrichtungen, in welchen sich die vortrefflichen Gesetze und Verwaltungsgrundsätze der geistlichen Ordensregierung bis auf unsere Tage erhalten haben. Unter der vollkommen deutschen Bevölkerung haben sich aber in einzelnen Gegenden, völlig abgeschlossen in ihren Dörfern und Gemeinden, Überreste jenes merkwürdigen alten Volksstammes der Letten erhalten, welche, hoch und schlank gewachsen, flachsblond und blauäugig, von eigentümlich edler Schönheit der Gesichtszüge, einen ganz besonderen, nirgends sich wiederfindenden Volkstypus zeigen, und unter sich eine Sprache reden, gesangreich und voll Poesie, welche nach den sorgfältigen Forschungen der Gelehrten fast genau mit dem Sanskrit übereinstimmt. Die deutsche wie die vereinzelte lettische Bevölkerung behält unverändert ihre Eigentümlichkeiten und Gebräuche. Denn da bis vor kurzem die Provinz vom Eisenbahnverkehr abgeschlossen war, mithin der erschwerte Absatz der ländlichen Produkte und die fast unmögliche Konkurrenz mit andern Produktionsgebieten den Wert des ländlichen Grundbesitzes auf einer verhältnismäßig sehr geringen Stufe erhielt, so haben sowohl die ritterschaftlichen wie die bäuerlichen Güter im Vergleich zu andern Ländern eine sehr bedeutende räumliche Ausdehnung, und die dünn gesäte Bevölkerung der einzelnen, meist noch durch weit ausgedehnte Forsten getrennten Ortschaften kommt wenig miteinander in Berührung, noch weniger aber dringt in dieselbe ein fremdes Element aus jener Welt da draußen, von welcher man wohl hört und in den Zeitungen liest, in welche aber selten jemand hinauskommt. Die großen ausgedehnten Güter der adeligen Familien des Landes, die meist von den mit dem letzten Hochmeister zum Protestantismus übergetretenen Ordensrittern abstammen, sind fast sämtlich von ihren Besitzern bewohnt, und es findet zwischen denselben ein reger geselliger Verkehr statt. An den Sonntagen begegnet man auf den Straßen den eleganten, meist vierspännigen Equipagen der Gutsherrschaften mit den schönen selbstgezogenen Pferden, einem hauptsächlichen Absatz- und zugleich Luxusartikel der dortigen Landwirtschaft. Im Winter vermittelt sich der Verkehr auf den kleinen, pfeilschnell über die gefrorenen Flüsse und Niederungen und die weiten Schneeflächen dahinschießenden Schlitten. Heiterer kann kaum ein geselliges Leben sein, als die sonntäglichen Zusammenkünfte auf den Schlössern der ostpreußischen Güter. Wenn unter diesen Verhältnissen eine nach dem Vermögen der Gutsbesitzer mehr oder weniger großartige, immer aber herzliche und das Beste, das man hat, darbietende Gastfreundschaft allgemein geübt wird, so liegt darin vielleicht ein wenig Egoismus. Man ist eben so sehr von der Welt abgeschlossen und auf den stets gleichen Menschenkreis angewiesen, daß man die Abwechslung, welche ein Fremder in das tägliche Leben bringt, mit Freuden begrüßt und sich so lange als möglich zu erhalten sucht.

Einige Meilen von Königsberg, dieser Stadt der reinen Vernunft, welche in ihrer abgeschlossenen Sonderart die Eigentümlichkeit der ganzen Provinz repräsentiert, liegt das große Rittergut Kallehnen mit seinen ausgedehnten Vorwerken und seinen weiten, vortrefflich bestandenen Forsten. Seit Jahrhunderten gehörte diese reiche Besitzung den Herren von Grabenow, die fast immer auf dem Gute gewohnt und infolgedessen das alte Schloß zu einem mächtigen, weit ausgedehnten Bau erweitert hatten, welcher zwar keine architektonische Schönheit zeigte, aber überall vornehme Eleganz und behagliche Bequemlichkeit erblicken ließ. Der alte Park, welcher das Schloß von allen Seiten umgab und sich den Baulichkeiten geschmackvoll anschloß, trug viel zur Schönheit des Ganzen bei. Es war in der Tat kaum möglich, einen anmutigeren und großartigeren Landsitz zu sehen, als diese alte Besitzung der alten Familie von Grabenow.

In dem großen Speisesaal des Schlosses, dessen bis zur Erde gehende Fenster auf einen weiten Altan sich öffneten, von welchem man die Aussicht über die Dünen und das Meer hatte, saß an einem schönen Märztage eine zahlreiche und heitere Gesellschaft bei dem Diner versammelt, das man nach alter guter Sitte um ein Uhr zu sich nahm; die Tafel war reich mit Silbergeschirr besetzt, der Duft der Speisen und feinen Weine bewies, daß man hier in diesem fernen und abgelegenen Lande vollständig die Trüffeln von Perigord und die Reben von Bordeaux und der Champagne zu würdigen verstand, ohne darum den heimischen Rebensaft von den grünen Uferhügeln des Rheins zu vernachlässigen.

In der Mitte der Tafel saß der alte Herr von Grabenow, ein Herr hoch in den Fünfzigen mit fast weiß gewordenem, aber vollkommen dichtem, krausgelocktem Haar und kurz geschnittenem Schnurrbart. Seine feurigen, blitzenden grauen Augen, welche voll heiterer Lebenslust, aber auch mit einem Ausdruck von harter Strenge aus dem roten Gesicht mit den vollen frischen Lippen hervorblickten, bewiesen, daß die eigentliche Schwäche des Alters an ihn noch nicht herangetreten war. Ihm gegenüber machte die Honneurs der Tafel seine Gemahlin, eine hohe schlanke Frau von fast gleichem Alter als ihr Mann, aber von merkwürdig konservierter Schönheit. Ihre weiße Haut hatte noch alle Frische der Jugend, ihr volles blondes Haar fing kaum an, sich mit leichtem Grau zu färben, und ihre fast hellblauen Augen blickten so klar, ruhig und stolz umher, daß man diesem Blicke ansah, die Dame sei kaum jemals in ihrem Leben dem Kummer und Mißgeschick begegnet. Am unteren Ende des Tisches saß der einzige Sohn des Hauses, ein schlanker junger Mann, der in dem scharfen Schnitt seines Gesichts an den Vater erinnerte, aber von seiner Mutter den Schmelz der zarten Farben, das hellblonde Haar und die klaren blauen Augen empfangen hatte, doch lag in seinem Blick weder die ruhige, glückliche Sicherheit seiner Mutter, noch die feurige und lebhafte Strenge des Vaters. Sein Auge blickte wie träumerisch vor sich hin und verschleierte sich oft mit dem Hauch einer tiefen Melancholie, welche mit dem schmerzlich traurigen Ausdruck harmonierte, der zuweilen um seinen Mund spielte.

Herren und Damen aus den Familien der umliegenden Gutsbesitzer, welche dem Grabenowschen Hause ihren Sonntagsbesuch gemacht, bildeten die übrige Gesellschaft. Neben dem jungen Herrn von Grabenow saß eine Dame von etwa achtzehn Jahren und von einer auffallenden und distinguierten Schönheit; ihre Gestalt war hoch, schön und kräftig, von jener vollendeten Eleganz der Formen, welche man in so vollkommener Reinheit bei den vornehmen Damen der nördlichen Länder findet. Ihr reiches kastanienbraunes Haar war rückwärts hinaufgekämmt und in kurze Locken frisiert, so daß die hohe, schön gewölbte Stirn vollkommen frei hervortrat. Unter hoch und rein geschwungenen Augenbrauen blickten die dunkelblauen Augen feurig und glühend mit dem Ausdruck leidenschaftlicher Willenskraft hervor. Die stolz aufgeworfenen Lippen gaben dem ganzen Gesicht einen Ausdruck, der an die Erscheinung der Amazonen hätte erinnern können, wenn nicht auf dem ganzen Wesen der jungen Dame der Stempel der feinsten Bildung und Erziehung gelegen hätte. Es war eine entfernte Cousine des Grabenowschen Hauses – denn in jenem Lande sind die Gutsbesitzer bis auf zwölf Meilen in der Runde fast sämtlich in mehr oder weniger entfernten Graden miteinander verwandt, – Fräulein Marie von Borkau, die einzige Tochter eines der wohlhabendsten Gutsbesitzer der Gegend, dessen Besitzungen an die des Herrn von Grabenow anstießen. Sie hatte mit dem jungen Grabenow als Kind gespielt, es war in der Gegend bekannt, daß die Eltern eine Verbindung der jungen Leute wünschten, um die beiden großen Besitzungen dereinst zu vereinigen. Die jungen Leute selbst hatten schon seit ihrer Kinderzeit diesen Wunsch ihrer Eltern aussprechen gehört, ohne ernster darüber nachzudenken; der junge Mann war zur Universität gegangen, hatte den Feldzug von 1866 mitgemacht, war dann längere Zeit in Paris gewesen, während Fräulein von Borkau ihre Ausbildung in Königsberg vollendete. Sie waren sich daher vollkommen fremd geworden, als der junge Grabenow von Paris in die Heimat zurückkehrte, nachdem kurz zuvor Fräulein Marie, vollständig ausgebildet in allen Wissenschaften einer vornehmen jungen Dame, ihre Pension verlassen hatte. Es war natürlich, daß das junge Mädchen, welcher die Wünsche ihrer Eltern kein Geheimnis waren, mit ziemlich hochgespannter Neugierde ihren Vetter wiedersah. Diese Neugier war bei dem häufigen Verkehr, den die beiden Familien miteinander hatten, nicht befriedigt, sondern viel eher noch mehr angeregt worden, denn der junge Mann unterschied sich auf das Wesentlichste von allen andern Herren, welche Fräulein Marie bis jetzt kennen gelernt hatte. Die Referendarien und Offiziere in Königsberg sowie die Landjunker auf den Gütern der Umgegend, – so gute Manieren und so vielseitige Bildung manche derselben haben mochten, – blieben doch weit hinter der distinguierten Eleganz des Herrn von Grabenow zurück, der aus der wirklich großen Welt, aus dem glänzenden Paris zurückkehrte, und in dessen Gespräch sich soviel Überlegenheit, soviel weite und große Weltanschauung zeigte. Bei allen diesen Eigenschaften, welche ihn zum Mittelpunkt der Gesellschaft seiner Heimat hätte machen müssen, war jedoch der junge Mann fast menschenscheu; artig und zuvorkommend erfüllte er alle Pflichten der Höflichkeit, wenn er sich in Gesellschaft befand, – aber wo er konnte, suchte er die Einsamkeit, und es bedurfte oft des ernsthaften Antreibens seiner Eltern, um ihn derselben zu entreißen und zu Besuchen in der Nachbarschaft zu veranlassen. Dabei hatte er niemals weder mit einem Blick noch mit einem Wort das leiseste Zeichen gegeben, daß er eine Ahnung von den Plänen der Eltern in bezug auf ihn und Fräulein von Borkau habe, – Grund genug für diese junge Dame, sich ernsthaft mit diesem sonderbaren Vetter zu beschäftigen, welcher für die Vorzüge blind zu sein schien, die ihr der Spiegel und ihre Selbsterkenntnis zeigten und die bereits die glühende Bewunderung so mancher Herren der Königsberger Gesellschaft erweckt hatten.

Man servierte einen vortrefflich gemästeten und getrüffelten Puter. Der alte Herr von Grabenow ergriff das Glas, welches ein Lakai soeben mit Champagner gefüllt hatte, und nachdem er sich durch einen raschen Rundblick überzeugt hatte, daß jeder seiner Gäste ebenfalls mit diesem moussierenden Getränk versehen war, erhob er sich und sprach ohne Umschweife und Einleitung die einfachen Worte:

»Seine Majestät, unser allergnädigster Herr, soll leben!«

Die ganze Gesellschaft hatte sich ebenfalls erhoben und leerte stehend ihre Gläser, die dann schleunigst von den Lakaien wieder gefüllt wurden.

So ist es Sitte seit alter Zeit im ostpreußischen Lande. Der Adel, die Gelehrten, die Bürgerschaft, alles macht zu allen Zeiten Opposition gegen die Regierung, wie sie es schon getan haben zur Zeit des Ordens und zur Zeit der Herzöge und Kurfürsten. Dabei aber tragen sie alle im Herzen eine tiefe pietätvolle Liebe für die Dynastie und die Person der Könige. Dieselbe Provinz, welche ihr erhebliches Kontingent zu den oppositionellen Fraktionen der Kammer stellt, ist durch ihre Söhne reich vertreten unter den Dienern der Könige in der Verwaltung des Staates und im Heere, und wo immer es die Größe und den Ruhm des preußischen Vaterlandes und Deutschlands gilt, da stehen die Söhne des alten Ostpreußen stets in der ersten Reihe.

»Jetzt,« sagte ein alter Herr mit militärisch geschnittenem grauen Bart, »ist es Zeit, die Gesundheit dessen zu trinken, was man liebt; – jeder kann sich dabei denken was er will, dann wird der Toast um so aufrichtiger getrunken werden.«

Und mit einer etwas altfränkisch galanten Bewegung erhob er sein Glas und stieß mit einer neben ihm sitzenden Dame an, die auf der Altersstufe angekommen zu sein schien, auf welcher die unverheirateten Damen längere Zeit neunundzwanzig Jahre alt zu bleiben pflegen.

Der junge Herr von Grabenow blickte still und nachdenkend vor sich hin. Fast schien es, als habe er die Aufforderung des lustigen alten Herrn gar nicht gehört.

»Nun, Vetter,« fagte Fräulein von Borkau in neckischem Ton, durch welchen jedoch ein fast zorniger Unmut hindurchklang, »willst du denn die altgewohnte Gesundheit nicht mittrinken?«

Sie erhob ihr Glas und sah den jungen Mann mit ihren blitzenden Augen forschend und erwartungsvoll an.

Er fuhr empor, erhob schnell sein Glas und stieß mit demselben an das seiner Cousine.

Durch die hastige Bewegung, mit welcher er aus seiner Träumerei aufgeschreckt war, wurde der Zusammenstoß zu heftig, und mit schrillem Klang zerbrach der Kristallkelch. Der Wein floß auf das Tischtuch und das Kleid des jungen Mädchens.

»Verzeihung, Cousine, wie ungeschickt bin ich doch!«, rief Herr von Grabenow, indem er mit seinem Taschentuch die Volants ihres Kleides zu trocknen versuchte.

Aber das jähe Zerspringen des Glases schien einen sehr peinlichen Eindruck auf ihn gemacht zu haben, denn eine tiefe Blässe legte sich über sein Gesicht und ein schmerzlich, wehmütiger Zug wurde um seinen Mund sichtbar.

»Zerbrochenes Glas und vergossener Wein,« rief der alte Herr, welcher die Gesundheit ausgebracht, »das bedeutet ja ungeheures Glück!«

»Das wünsche ich dir von Herzen, Vetter,« sagte Fräulein von Borkau, indem sie ihn mit einem eigentümlichen Blick ansah.

Die Gesellschaft machte darauf eine Reihe jener Scherze, wie sie bei solchen Gelegenheiten überall üblich sind, und – wie es stets der Fall ist in einem Kreise, der aus denselben regelmäßig zusammenlebenden Elementen besteht, – waren die meisten dieser Scherze den meisten Personen bereits sehr bekannt und geläufig, wurden aber dennoch mit behaglicher Heiterkeit wiederholt und allgemein belacht. Bald erhob man sich, die älteren Herren zogen sich zurück, um eine Zigarre zu rauchen, und begaben sich später in den Hof, wo die jungen, auf dem Gute gezogenen Pferde vorgeführt wurden und den Gegenstand lebhafter Unterhaltung über ihre Abstammung und ihre künftigen Eigenschaften bildeten. Einige Offiziere schlugen den jungen Damen eine Spazierfahrt nach dem Strande vor; der Gedanke fand allgemeinen Beifall, und bald hielten einige jener leichten, offenen, viersitzigen Wagen mit den schlanken, hocheleganten Pferden der Trakehnerzucht vor dem großen Tor des Schlosses.

Heiter lachend und plaudernd stieg die Gesellschaft ein.

Für den jungen Herrn von Grabenow war ein kleiner, ganz leichter zweisitziger Wagen vorgefahren, bespannt mit zwei äußerst edlen und schönen Pferden, – schwarz ohne alle Abzeichen, welche ungeduldig den Boden scharrten.

Der junge Mann bot seiner Cousine, welche dies zu erwarten schien, die Hand, leicht und gewandt schwang sie sich auf den kleinen Wagen. Er setzte sich neben sie, der Reitknecht ließ die Pferde los und in schnellem, sicherem Trabe jagte das Gespann durch das Dorf dahin, wo die Gutsbauern in sonntäglichem Putz vor den Türen standen, ehrerbietig den Sohn ihrer Herrschaft begrüßend. – Bald blieben die anderen Wagen in einiger Entfernung zurück, und die jungen Leute fuhren – den Übrigen weit voraus – aus dem Dorf und den daranstoßenden Fruchtfeldern hinaus, dem Meeresstrande zu.

Am Anfange der Dünen dehnte sich ein grüner Tannenwald aus; – ohne die schnelle Gangart zu verändern, zogen die Pferde den leichten Wagen durch den tiefen Sand des Weges hin, die Tannen hörten auf, bald sah man nur noch jenes spitzige, raschelnde Seegras auf den wellenförmigen Dünen.

Noch einige Augenblicke, und man hatte den Strand des Meeres erreicht, diesen eigentümlichen Strand der Ostsee, welcher durch keine Ebbe und Flut verändert wird, und der deshalb, wenn auch nicht so großartig wie die Ufer der Nordsee, doch durch seine Festigkeit und Unveränderlichkeit um so schöner ist. In jenem leisen, aus der weiten Ferne heranklingenden Rauschen rollten die langen Wellen des wenig bewegten, im hellen Sonnenschein tiefblau schimmernden Meeres an das Ufer heran, und am fernen Horizont senkte sich der immer schärfer abgegrenzte Sonnenball zu der weiten Wogenfläche herab. In langsamem Flug strichen heute die zur Zeit des Sturmes wild daherwirbelnden Vögel des Meeres, die weißen Möven, dahin, und weit draußen an der Grenzscheide zwischen Himmel und Wasser sah man hie und da die weißen Segel eines großen Schiffs im Lichte der sinkenden Sonne schimmern.

Herr von Grabenow, von Jugend auf bekannt mit den Fahrten am Meeresstrand, lenkte sein Gespann dicht zum Rande des Ufers hin, so daß zwei Räder des Wagens durch die heranspülenden Wellen rollten. Der Sand war hier hart, fest und eben wie eine Diele, und im pfeilschnellen Lauf eilten die Pferde dahin, scharf der oft sich krümmenden Linie des Strandes folgend. Die frische Märzluft, gemildert durch den weichen Hauch, welcher vom Meere aufsteigt, wehte den jungen Leuten entgegen, welche einsam zwischen Himmel, Wasser und Dünen daherfuhren, denn in einer weiteren Entfernung blieben die anderen Wagen zurück. In frischer Lebenslust sog Fräulein von Borkau den belebenden Atem des Meeres ein, ihre Wangen glühten, – ihre Augen funkelten wie die Wellenspitzen im Strahle der sinkenden Sonne, und der durch die rasche Fahrt verdoppelte Luftzug spielte in ihren unter dem schwarzen Samthut hervorquellenden Haaren.

Die jungen Leute waren bis jetzt, abgesehen von einigen gleichgültigen Bemerkungen, stumm nebeneinander gefahren, – die schnelle Fahrt hatte zwar auch auf Herrn von Grabenow ihren belebenden Reiz ausgeübt, aber dennoch war von seinem Gesicht jener melancholische Ausdruck, der fortwährend darauf ruhte, nicht verschwunden.

Fräulein Marie ließ ihren strahlenden Blick über das Meer und die weißschimmernden Dünen hingleiten, dann sah sie lange auf ihren Vetter, welcher die Gangart seiner Pferde mit tiefer Aufmerksamkeit zu beobachten schien, und sprach:

»Ist sie nicht wunderbar schön, diese Natur in ihrem ewigen Einerlei, das doch wieder die ewige Abwechslung in sich schließt und uns kaum jemals ganz dasselbe Bild wiederbringt? – Du hast die großen Weltstädte gesehen und die gewaltigen Naturschönheiten der Alpengletscher, – sage mir, kann das alles einen mächtigeren Eindruck machen, als dies einfache Bild des Meeresstrandes, dieses lieben Strandes, der zugleich unsere Heimat ist und uns anmutet mit allen trauten Erinnerungen der vergangenen Kinderzeit?«

Und wie hingerissen von dem Eindruck der großartigen Szenerie hob sie leicht die Arme empor, als wollte sie das Meer und den Himmel umarmen, während ein tiefer Atemzug aus ihren frischen geöffneten Lippen hervordrang.

Der junge Mann richtete sich empor. Wohl lag Bewunderung und herzliche, liebevolle Freude in dem Blick, den er nach dem Horizont hinübergleiten ließ, aber doch schien sich dieser Blick über die Grenzen des vor ihm aufgerollten Bildes hin in noch weitere Fernen zu richten. Mit leichtem Seufzer sprach er:

»Ja, sie ist wunderschön, die alte Heimat, und schöner als das wechselnde, buntglühende Bild des großen Weltlebens, schöner noch als die gewaltigen Berge ist dieses Meer, das uns in dem für den menschlichen Blick faßbaren Rahmen das Bild der Unermeßlichkeit zeigt: – es ist um so schöner, wie du sagst, weil es uns anspricht mit dem Gruß der Heimat als ein Teil der eigenen Seele.«

»Man sollte die Heimat niemals verlassen,« fuhr er nach einem kurzen Schweigen fort, während seine Cousine ihn mit warmer Teilnahme ansah, – »man sollte niemals heraustreten aus dem Kreis, in welchem das Herz und der Geist in friedlicher Entwicklung sich gebildet haben, – denn alles, was da in den vielen Gestalten der großen Welt auf uns eindringt, drückt seine tiefen Spuren in unser Wesen, und die Töne, welche dort mit berauschenden Melodien uns berühren, werden zu schmerzlichen Dissonanzen, wenn sie hinüberklingen in den stillen Kreis, in welchem wir einst glücklichen und friedlichen Herzens gelebt haben.«

Er hatte die letzten Worte etwas leiser und wie zu sich selbst gesprochen – dennoch hatte seine Cousine sie gehört, und es war ein eigentümlicher Ausdruck in dem Blick, mit welchem sie ihn ansah, als er, sich vorn überneigend, seine Aufmerksamkeit wieder dem Gange der Pferde zuzuwenden schien.

»Vetter,« sagte sie dann mit dem Tone eines raschen Entschlusses, indem aber doch eine gewisse verlegene Befangenheit in ihren Zügen sichtbar war, – »es ist vielleicht indiskret, wenn ich dich frage, – aber es tut mir leid, dich traurig zu sehen. – Ist dir etwas Schmerzliches auf deinen Reisen widerfahren? Du bist so anders, als ich dich in unserer Jugend gekannt habe – etwas träumerisch warst du zwar immer, oft mochtest du lieber allein in den Dünen umherschweifen, als mir Gesellschaft leisten – jetzt aber bist du wirklich traurig und melancholisch, – es scheint, daß ein ernster Kummer dich drückt: – kann es dich trösten, auszusprechen, was dir Schmerz macht, so glaube mir,« fuhr sie in treuherzigem Tone fort, indem sie ihn groß ansah und ihre Hand auf die seine legte, »glaube, daß du bei mir herzliche und aufrichtige Teilnahme findest.«

Herr von Grabenow hatte bei den Worten seiner Cousine den Kopf tief auf die Brust sinken lassen, eine dunkle Röte zog über sein Gesicht, seine Brust hob sich in raschen Atemzügen.

Dann blickte er zu ihr auf. Ein feuchter Tränenschimmer verhüllte sein Auge.

»Du bist gut, Marie,« sagte er mit weichem Ton, »deine freundliche Teilnahme tut mir wohl wie die Lösung von einem schmerzlichen Bann, der mich befangen.«

Er seufzte tief und ließ seinen Blick weithin nach dem Horizont schweifen, wo der in dunklen Flammen glühende Sonnenball schon fast die leicht gekräuselten Fluten berührte.

»Ja,« sagte er, »ich habe etwas Schmerzliches erfahren, etwas so tief Schmerzliches, daß durch mein ganzes Leben mein Herz der Freude und dem Glück verschlossen bleiben wird.«

»So schmerzlich?« fragte das junge Mädchen mit tief wehmütigem Lächeln, – »kann ein Kummer, sei er noch so traurig – darf er das ganze Leben eines Mannes zerstören?« Er schwieg einen Augenblick.

»Marie,« sagte er dann, indem er ihr voll und klar in die Augen sah, »du kennst wie ich die Gedanken, welche unsere Eltern über uns haben, und auf welche sie so viele Hoffnungen bauen.«

»Ich kenne sie«, flüsterte Marie leise, indem sie die Augen niederschlug und ihre Hand, welche noch immer auf der seinen geruht hatte, zurückzog.

»Ich habe«, fuhr er fort, »bis jetzt niemals von diesen Gedanken und Hoffnungen gesprochen – ich wußte die Worte nicht zu finden, – mein Herz litt schmerzlich unter widersprechenden Gefühlen – aber ich bin dir Wahrheit und Aufrichtigkeit schuldig, doppelt schuldig, da du mir in so treuer Teilnahme entgegenkommst. – »Marie,« sprach er mit gepreßter Stimme, »mein Herz ist nicht frei, es ist voll von einer Liebe, die so tief ist, wie das Meer hier neben uns, – die mich einst mit so leuchtendem Glück erfüllte, wie die Strahlen der sinkenden Sonne dort, und die mich für die Zukunft mit ihrer schmerzlichen Erinnerung in eine ebenso tiefe Nacht verhüllen muß, als sie sich bald auf diese goldglänzenden Wellen niedersenken wird.«

Das junge Mädchen war bei seinen Worten erbleicht. Der sonst so lebensfrische, stolze und fast kecke Ausdruck ihres Gesichts verschwand und machte einer tiefen Wehmut Platz. – »Und deine Liebe hat keine Hoffnung?« fragte sie mit gepreßter Stimme.

Sie fuhren an einem scharf hervortretenden Vorsprung des an dieser Stelle hochaufsteigenden weißen Sandufers vorüber. Auf der vorspringenden Spitze, entfernt von dem weiter zurücktretenden Ausläufer der Waldung, stand eine einzelne schlanke Tanne, leicht herabgeneigt zu dem im Abendlicht schimmernden, von unten herauf rauschenden Meer.

Herr von Grabenow blickte zu dem emporspringenden Ufer hinauf, deutete mit der eleganten Spitze seiner Peitsche nach oben und sprach mit tieftraurigem Ton:

»Ein Tannenbaum steht einsam
Im Norden auf kahler Höh'!«

Fräulein von Borkau hatte ihren Blick der Richtung folgen lassen, nach welcher er zeigte.

Halb leise, mit einer Stimme, welche nichts von dem hellen, fröhlichen Ton hatte, der ihr sonst eigentümlich war, fiel sie ein:

»Ihm träumt von einer Palme,
Die fern im Morgenland
Einsam und schweigend trauert
An brennender Felsenwand!«

»Bei uns,« fuhr sie dann fort, und ein tief schmerzlicher Seufzer hob ihre Brust, »bei uns in unserem kalten, einförmigen Lande wachsen freilich keine Palmen, und die glühende Pracht des Südens erschließt sich nicht unter unserem Himmel.«

Schweigend fuhren sie einige Augenblicke hin.

»Kann es dich trösten,« fragte sie dann, »mir das zu erzählen?«

Er schwieg eine Zeitlang in sinnendem Nachdenken, und dann atmete er tief auf, wendete sich zu ihr und sagte:

»Es will mir oft das Herz zersprengen, wenn ich meine Schmerzen so einsam in mir herumtragen muß, und ich bin dir dankbar, wenn du hören willst, was doch nur ich allein ganz verstehen kann.«

Dann begann er, wie erleichtert von dem Druck einer Last, die lange auf ihm gelegen, ihr zu erzählen, von seiner Liebe zu Julia Romano. Er sprach ihr von dem traurigen Leben des jungen Mädchens, von ihrer unnatürlichen Mutter, von ihrem unglücklichen Vater, von der Zeit ihrer Liebe, und immer schneller flossen seine Worte, immer beredter wurde seine Sprache, immer glühender die Schilderung der vergangenen Zeit.

Marie hörte ihm schweigend zu. Ihre glänzenden Augen hafteten mit einem wunderbar eigentümlichen Ausdruck auf seinem bewegten Gesicht, von welchem zuweilen das ganze lichte Glück der Erinnerung widerstrahlte. Ihre Brust hob und senkte sich in schnellen Atemzügen; es öffnete sich da vor ihr eine Welt, wie sie sie kaum in ihren Träumen jemals geahnt hatte, eine Welt voll flammender Leidenschaft und berauschenden Glückes, eine Welt so anders als das regelmäßig stille Leben, das sie in vornehmer Gleichmäßigkeit bisher umgeben hatte.

Wohl kräuselten sich ihre Lippen wie in stolzer Verachtung, wenn er von Julias Mutter sprach und von den Verhältnissen, die seine Geliebte umgeben hatten. Wenn er aber dann wieder von seiner Liebe erzählte und von dem treuen, reinen Herzen der jungen Italienerin, dann öffneten sich ihre Lippen zu heißen Seufzern, und ein schimmerndes Feuer zitterte in ihren feuchtglänzenden Augen. Sie blickte immerfort in sein durch die Erinnerung erwärmtes Gesicht, dann zuweilen blitzte es in ihren Augen auf wie ein Strahl auflodernden Zornes – sie senkte den Blick vor sich nieder und preßte krampfhaft die Spitzen ihrer Finger aneinander.

Er erzählte weiter.

Mit tief schmerzlichem Ton erzählte er, wie seine Geliebte verschwunden sei, wie er sie immer und immer wieder vergeblich gesucht habe, ohne eine Spur von ihr zu entdecken, und wie er endlich abgereist sei, um die Ruhe seiner Seele in einem tätigen Leben wiederzufinden, mit der einzigen Hoffnung, daß es den Nachforschungen des Grafen Rivero gelingen könne, die Spur der Verschwundenen zu entdecken.

»Die Ruhe, die ich gefunden habe,« schloß er, »ist die Ruhe des Kirchhofs. Aber das Gespenst der Erinnerung irrt wie ein ruheloser Geist um das Grab meines gestorbenen Glücks!« –

Mit tiefer Teilnahme hatte sie dem Schlusse seiner Erzählung zugehört. Mitgefühl mit seinem Schmerz leuchtete aus ihren Blicken, aber zugleich auch lag in denselben etwas wie eine innere Befriedigung, wie eine unwillkürlich hervorbrechende Freude, welche sie unter den schnell gesenkten Augenlidern rasch wieder verbarg.

Es war eine eigentümliche Beziehung, welche sich hier am einsamen Strande des Meeres zwischen den beiden jungen Leuten gebildet hatte. Sie hatten Dinge und Verhältnisse besprochen, welche sonst von der Unterhaltung zwischen jungen Herren und jungen Damen der guten Gesellschaft ausgeschlossen zu sein pflegen; dennoch aber hatte keiner von ihnen dabei einen Gedanken an etwas Auffallendes oder Unziemliches gehabt. Er hatte von seiner Liebe gesprochen mit der ganzen inneren Reinheit, wie er sie im Herzen trug, und sie hatte nur die Gefühle seines Herzens vor sich entfaltet gesehen, wenn auch die Glut der Leidenschaft, welche aus seinen Worten hervorbrach, zuweilen die Tiefen ihrer Seele in wunderbarer Weise ergriffen und bewegt hatte.

Die Sonne war immer tiefer herabgesunken, noch einmal leuchtete ihr letzter Lichtgruß wie der Strahl eines Sternes fern herüber, dann legte sich eine graue Dämmerung über das Land, während am Horizont die Nebelwolken sich goldrot färbten und ihre Reflexe über die weite Wasserfläche hinspielen ließen. Ein scharfer kühler Wind wehte über das Wasser her, die Spitzen der Wellen krönten sich mit weißem Schaum, und rascher strichen die Möwen kreischend durch die Luft.

»Wir müssen umkehren,« sagte Marie, »es wird dunkel.«

In weit geschweiftem Bogen ließ Herr von Grabenow die Pferde wenden – die schönen Tiere hoben die Köpfe empor, und in schnellerer Gangart noch als bisher eilten sie den Weg nach dem Schlosse zurück.

Nach kurzer Zeit begegnete man den andern Wagen.

»Mit euren Pferden kann man nicht mithalten,« riefen die Herren, während die Damen Fräulein von Borkau freundlich begrüßten und einige scherzhafte und neckende Worte herüber und hinüber flogen.

Alles wendete sich ebenfalls zur Rückkehr.

Bald aber war der leichte Wagen des Herrn von Grabenow den übrigen wieder weit voraus. Die jungen Leute fuhren wieder allein unter dem immer tiefer dunkelnden Himmel am höher im Nachtwind aufrauschenden Meer dahin.

Das Schweigen des Herrn von Grabenow war gebrochen, er wurde nicht müde, von seinem vergangenen Glück und seinen Schmerzen zu sprechen. Aufmerksam hörte seine Cousine zu, mit Blicken von Teilnahme ihn anschauend, während von Zeit zu Zeit ein Atemzug wie ein schmerzlicher Seufzer aus ihrer Brust heraufstieg und vom scharf daherstreichenden Nachtwind über die unendliche Meeresfläche hin fortgetragen wurde.

»Und hast du,« fragte sie endlich, als er einen Augenblick schwieg, in einem Tone, als ob ein Gedanke ihres Innern unwillkürlich auf ihre Lippen träte, »hast du die Gewißheit – hast du das volle Vertrauen, daß –« sie stockte einen Augenblick, – »daß sie dich nicht verlassen hat, daß sie wirklich zwingenden und übermächtigen Verhältnissen gefolgt ist?«

Sie blickte mit einer Art von ängstlicher Spannung in sein Gesicht.

Er sah sie groß an.

»Könnte es Liebe ohne Vertrauen geben?« fragte er, »kann man sein Herz hingeben, wenn man zweifelt? – Schon an der Möglichkeit des Zweifels würde meine Liebe gestorben sein!«

Sie seufzte tief auf und schlug die Augen nieder.

»Verzeih' meine Frage,« sagte sie, – »ich kenne ja deine Julia nicht, und alle meine Anschauungen wurzeln in der strengen Ordnung des regelrechten Lebens, in welchem ich mich bewegt habe. – Ich finde mich schwer in die Verhältnisse jener großen und von unsern Sitten so weit abweichenden Welt und hätte bisher kaum geglaubt,« fügte sie mit einer gewissen Bitterkeit im Tone hinzu, »daß dort wahre Liebe zu finden sei.«

»Und glaubst du denn,« fragte er, »daß sie auf den schnurgeraden Wegen unseres Lebens zu finden sei? – Die Blume der wahren Liebe muß wild wachsen und duftet in voller Schönheit nur im Waldesgrün der freien Natur – man kann sie nicht künstlich erziehen auf den abgezirkelten Beeten und in den Treibhäusern der Gärten.«

Sie schlug die Augen auf und sah ihn mit einem tiefen Blick an. Es lag ein sonderbarer Ausdruck in ihrem Auge, halb fragend, halb zürnend, – es sprühte daraus hervor wie tiefe verborgene Glut – aber schnell senkte sich ihr Blick wieder nieder – ihre Lippen, welche sich geöffnet hatten, als wollten sie sprechen, schlossen sich fest aufeinander, und schweigend fuhren beide eine Zeitlang dahin.

Bald hatten sie das Dorf erreicht, in welchem die Lichter durch die kleinen Fenster der niedrigen Häuser schimmerten – sie bogen in das große Hoftor und hielten vor dem Portal des Schlosses – die Diener sprangen hinzu, die Pferde in Empfang zu nehmen, und Herr von Grabenow führte seine Cousine die Treppe hinauf.

Beide erschienen in dem bereits hell erleuchteten Gesellschaftszimmer; – in einiger Zeit folgte lachend und plaudernd die übrige Gesellschaft, von der Spazierfahrt zurückkehrend.

Die älteren Herren und Damen hatten inzwischen ihre Whisttische arrangiert und machten mit feierlicher Würde ihre Rubber, während einzelne Gruppen der Herren in einem Nebenzimmer bei Punsch und Zigarren ihre Ansichten über die auswärtige Politik und die Kammerverhandlungen mit ebensoviel Eifer austauschten, als ob von dem Resultat ihrer Unterhaltung die Geschicke des Staates abhingen.

Die jüngere Gesellschaft hatte sich schnell in dem Saal zusammengefunden – abwechselnd setzten sich die jungen Damen an den Flügel – man improvisierte einen kleinen Ball und tanzte mit ebensoviel Lust und Eifer, als ob die glänzendste Regimentsmusik dazu gespielt hätte.

Der junge Herr von Grabenow war wie verwandelt.

Der Ausdruck verschlossener Resignation war von seinem Gesicht verschwunden, – zwar blickte noch eine gewisse wehmütige Trauer aus seinen Augen, aber seine Lippen lächelten, und er hatte Worte artiger Unterhaltung für die Damen, – heitere Antworten für die Scherze seiner Bekannten aus den Kreisen der jungen Herren.

Auch Fräulein von Borkau war verändert. Sie blickte nicht mehr so keck und herausfordernd umher. Ein weicher Schmelz lag in ihren Augen, ein sinnender Zug milderte den übermütigen Ausdruck ihrer aufgeworfenen Lippen, und oft ruhte ihr Blick lange und träumerisch auf ihrem Vetter.

Frau von Grabenow war in die Tür des Saales getreten und blickte auf die tanzenden Paare. Ihr Sohn war mit seiner Cousine zu einem Contretanz angetreten und es lag eine gewisse Innigkeit in der Art, wie er seiner Tänzerin die Hand reichte, eine gewisse Vertraulichkeit in ihrer Unterhaltung, und wenn ihre Blicke sich begegneten, so schien ein stilles Einverständnis aus denselben zu sprechen.

Frau von Grabenow bemerkte dies, und eine glückliche Befriedigung zeigte sich auf ihrem Gesicht.

Auch der übrigen Gesellschaft entging dies nicht, und manche Bemerkung wurde über die beiden jungen Leute gemacht; man nahm als ausgemacht an, daß sie sich verständigt und gefunden hätten, und daß die Verlobung, welche schon lange als vorher bestimmt galt, nunmehr bald würde proklamiert werden.

Fräulein Marie hatte ihren Vetter verlassen und trat zu einem Kreise ihrer Freundinnen.

Man unterließ nach Art der jungen Damen nicht, sie über den Tanz mit ihrem Vetter zu necken, und verschiedene scherzhafte Anspielungen tönten ihr entgegen.

Sie blickte groß und verwundert auf.

»Welche Torheit!« rief sie achselzuckend, indem ein dunkles Rot ihr Gesicht färbte – dann wendete sie sich schnell ab, verließ den Saal und trat hinter den Stuhl einer alten Dame, welche mit großer Aufmerksamkeit ihr Whist mit dem Strohmann spielte. Sie blickte auf die Karten herab, als folge sie dem Gange des Spiels, aber die bunten Blätter auf dem grünen Tisch verflossen vor ihrem Blick, denn ihre Augen füllten sich mit Tränen, krampfhaft preßte ihre Hand das Spitzentuch zusammen, und ihre leise zuckenden Lippen flüsterten unhörbar:

»Kann die Blume der Liebe auf den schnurgeraden Wegen unseres Lebens blühen?« –

Früh schon brach die Gesellschaft auf. Die meisten hatten ziemlich weite Wege zu machen. Die Wagen fuhren vor, – der Hof füllte sich mit Licht, – laute Stimmen und fröhliches Lachen erschallten – dann rollte ein Wagen nach dem andern hinaus, und bald lag das Schloß in einsamer Ruhe da.

Herr von Grabenow hatte seine Cousine in den Wagen gehoben. Mit herzlichem Händedruck hatte er von ihr Abschied genommen, und unter dem Portal stehen bleibend folgte er mit seinen Blicken lange ihrem fortfahrenden Wagen.

Als er seinen Eltern »gute Nacht« sagte und sich auf seine Zimmer zurückzog, sah seine Mutter ihn lächelnd und forschend an – ein Wort schien auf ihren Lippen zu schweben, aber sie sprach es nicht aus und küßte schweigend seine Stirne.

»Ich glaube, er hat sich endlich einmal gegen sie ausgesprochen«, sagte sie zu ihrem Manne.

»Ich wüßte auch nicht,« erwiderte dieser, »wo der Junge eine bessere Partie finden wollte – und ein schöneres und liebenswürdigeres Mädchen dazu – ich war schon recht böse auf ihn, daß er solange zögerte – aber,« fuhr er lachend fort, »die Verliebten sind merkwürdige Leute, und man muß sie ihre eigenen Wege gehen lassen, wenn dieselben nur zum vernünftigen Ziele führen.«

Er küßte seiner Frau die Hand und folgte dem voraneilenden Diener nach seinem Schlafzimmer.


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