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4. Kapitel.

Es war bereits eine Woche seit ihrer Ankunft vergangen, als Lindsay den Arzt zu einem ihrer gewöhnlichen Spazierritte aufforderte. Sie verließen die Stadt und tummelten ihre Pferde draußen zwischen den Höhen herum. Bei der Rückkehr kamen sie an einer Mauer vorüber, wobei der Engländer sagte:

»Endlich kann ich Ihnen heute mein Wort halten.« – »Wegen des Erbbegräbnisses, Mylord?« – »Ja.« Der Lord erhob sich im Sattel und zeigte über die Mauer hinüber. »Sehen Sie da drüben das Mausoleum?« – »Das mit den korinthischen Säulen?« – »Ja. Es ist das Erbbegräbnis, in dem Ferdinando Rodriganda begraben liegt.« – »Darf man eintreten?« – »Warum nicht? Die Pforte des Friedhofs ist bei Tag stets geöffnet.«

Sie stiegen von ihren Pferden und traten ein. Da mehrere Besucher vorhanden waren, so taten sie, als ob ein anderer Zweck sie herbeigeführt habe, und näherten sich später wie zufällig dem Mausoleum. Der Eingang zu demselben war durch eine Gittertür verschlossen, doch reichte das Gitter nicht hoch empor. Es ließ oben einen offenen Raum, so daß man übersteigen konnte.

»Wissen Sie gewiß, daß dies das gesuchte ist, Mylord?« fragte Sternau. – »Ja, ich habe es mir genau beschreiben lassen.« – »So ist es uns nicht schwer gemacht, hier einzudringen. Gehen wir wieder fort!« – »Wann werden Sie es tun?« – »Gleich heute abend. Wollen Sie dabeisein?« – »Ich danke. Ich bin der Vertreter einer Nation und muß sehr vorsichtig sein.«

Am Abend, kurz vor Mitternacht, schritten drei Männer diesem Friedhof zu. Es war zwei Tage nach Neumond und also nicht sehr hell. Bei der Mauer angekommen, stiegen sie über dieselbe hinweg. Es waren Sternau, Mariano und Helmers. Mariano hatte sich während der acht Tage so weit erholt, daß er dieses Abenteuer mitmachen konnte.

»Bleiben Sie hier stehen«, flüsterte Sternau. »Ich will erst sehen, ob wir sicher sind.«

Er suchte den Friedhof sorgfältig ab und kehrte erst dann zu den Gefährten zurück, als er sich überzeugt hatte, daß keine Gefahr der Entdeckung vorhanden war.

»Jetzt kommen Sie hinter mir her, aber leise.«

Auf diese seine Worte setzten sie sich in Bewegung. Bei dem Mausoleum angelangt, schwang er sich zuerst über die Gitterpforte, und dann folgten die anderen. Nun standen sie vor einem starken Zinndeckel, der die Öffnung des Gewölbes bedeckte.

»Dieser Deckel muß aufgeschraubt werden!« sagte Sternau.

Er hatte sich am Tag alles genau angesehen und infolgedessen für drei Schraubenschlüssel gesorgt. Die drei Männer arbeiteten eine Zeitlang leise und unhörbar, dann gab der Deckel nach und ließ sich abnehmen. Eine schmale Treppe führte hinab. Sie stiegen hinunter. Einer hinter dem anderen. Sternau war der vorderste und tastete umher, bis er an einen Sarg stieß.

»Hier steht der Sarg«, meldete er. »Helmers, brennen Sie vorsichtig die Blendlaterne an, daß kein Licht in die Höhe dringt!«

Helmers folgte dem Gebot, und nun sahen sie bei dem kleinen Strahl der Laterne den Sarg vor sich stehen. Es war der einzige, der in dem Gewölbe stand.

»Was werden wir sehen?« flüsterte Mariano. – »Entweder nichts oder die Überreste Ihres Oheims Ferdinando«, antwortete Sternau. – »Mir graut!« – »Fürchten Sie sich?« – »Nein«, antwortete Mariano. »Aber bedenken Sie meine Lage. Der geraubte Neffe steht vor dem Sarg seines Onkels.« – »So fassen Sie sich. Es ist kein Leichenraub, keine Grabschändung, die wir begehen. Wir stehen hier als Vertreter des forschenden Gerichts, und was wir tun, das können wir vor Gott und unserem Gewissen verantworten.« – »Es ist ein Eichensarg«, meinte Helmers. –»In welchem der eigentliche Zinnsarg stehen wird«, fügte Sternau hinzu. »Er ist zugeschraubt. Öffnen wir!«

Sie setzten abermals die Schraubenschlüssel an. Die Schrauben knirschten in dem Holz, sie gaben nach und wurden herausgezogen. Nun konnte der Deckel abgenommen werden, und es kam wirklich der Zinnsarg zum Vorschein. Auch er war mittels Schrauben verschlossen, die herausgedreht werden mußten. Als dies geschehen war, blickten sich die drei Männer gespannt an. Sie standen vor der Enthüllung eines Geheimnisses, und das erweckte in jedem ein Gefühl, das erst bemeistert werden mußte.

»Nun, in Gottes Namen, fort mit dem Deckel!« sagte Sternau.

Dann griff er zu und hob den Deckel in die Höhe, er entschlüpfte seiner Hand und fiel wieder nieder. Das gab einen dumpfen, grausigen Ton in dem tiefen Gewölbe, dessen Finsternis durch das kleine Licht der Laterne nur noch mehr hervorgehoben wurde.

»Es ist, als wehre sich der Tote gegen die Störung seiner Ruhe«, flüsterte Mariano. – »Er wird uns nicht zürnen, wenn wir uns überzeugen, daß mit ihm kein Frevel getrieben worden ist«, antwortete Sternau.

Er faßte darauf den Deckel mit mehr Vorsicht an, nahm ihn ab und legte ihn beiseite. Nun leuchtete Helmers in den offenen Sarg – und die drei Männer blickten wie auf ein Kommando empor und sich einander in das Angesicht.

»Der Sarg ist leer!« sagte Mariano. – »Ganz, wie ich es dachte«, bemerkte Sternau. – »Es hat gar kein Toter drin gelegen!« fügte Helmers hinzu. – »O doch!« meinte Sternau, indem er Helmers die Laterne abnahm und auf die weißen Atlaskissen leuchtete, die das Innere des Sarges füllten. »Hier sehen Sie ganz deutlich die Eindrücke, die der Körper gemacht hat.« – »So ist der Onkel also doch gestorben gewesen!« versetzte Mariano. »Aber warum hat man seine Leiche entfernt?« – »Man hat keine Leiche entfernt, sondern einen Lebenden«, behauptete Sternau. »Die Leiche zu entfernen, hätte keinen Zweck gehabt. Gibt es Gift, um den Wahnsinn hervorzubringen, so gibt es auch Medikamente, einen Menschen scheintot zu machen.« – »So wäre also der Mann, der in Verakruz eingeschifft und nach Harrar verkauft wurde, wirklich Ferdinando de Rodriganda gewesen?« – »Ich bin überzeugt davon. Verschließen wir die beiden Särge wieder, aber so sorgfältig, daß keine Spur unserer Anwesenheit zu bemerken ist!«

Dies geschah, und dann wurde die Laterne ausgelöscht. Die drei Männer stiegen nun empor und schraubten die Zinndecke wieder fest, darauf schwangen sie sich über das Gitter hinaus und verließen den Friedhof so leise, wie sie gekommen waren. Kein Mensch hatte von ihrem Tun eine Ahnung.

Zu Hause wartete Lord Lindsay in großer Spannung auf das Ergebnis ihrer Nachforschung. Er hatte Sternau und Mariano gesagt, daß sie sofort zu ihm kommen sollten. Als sie ihm das Resultat berichteten, sagte er entsetzt:

»Ich wollte es nicht glauben. Welch ein Verbrechen! Man muß Anzeige machen.« – »Das würde zu nichts führen. Ich habe kein Vertrauen zu der mexikanischen Gerechtigkeit.« – »Man wird sie zwingen, ihre Pflicht zu tun!« – »Wer will sie zwingen, Mylord?« fragte Sternau. – »Ich!« antwortete Lindsay sehr energisch. – »Es würde vergeblich sein.« – »Oho! Ich werde Ihnen das Gegenteil beweisen.« – »Sie würden nur beweisen können, daß die Leiche fehlt. Wohin sie gekommen ist, ob der, der begraben wurde, tot oder lebendig war, und wer der Urheber des Verbrechens ist, das würde unentdeckt bleiben. Durch eine Anzeige machen wir unsere Feinde ganz unnützerweise darauf aufmerksam, in welcher Gefahr sie schweben.« – »Aber, Herr Sternau, soll ein solcher Betrug ungestraft bleiben?« – »Nein. Er wird bestraft werden, aber erst dann, wenn wir den Grafen Ferdinando gefunden haben. Dann werden wir die Täter nach dem Friedhof führen und die Leiche des Vermißten von ihnen fordern lassen, eher nicht.« – »So wollen Sie wohl gar nach Harrar?« – »Allerdings! Nachdem wir zuvor auf der Hacienda del Erina gewesen sind. Mit Pedro Arbellez müssen wir sprechen, und zunächst auch mit Marie Hermoyes.« – »Mit dieser können Sie hier nicht sprechen, denn auch sie befindet sich auf der Hacienda del Erina.« – »Sie lebt also dort?« – »Ja.« – »Und warum ging sie fort?« – »Man weiß es nicht. Sie scheint Verdacht gefaßt zu haben. Weil Sie mir die größte Vorsicht anrieten, haben meine Erkundigungen eine längere Zeit in Anspruch genommen. Eine direkte Anfrage hätte uns gleich am ersten Tag eine Antwort gebracht.« – »Das hätte unsere Absicht verraten können.« – »Ich gebe das zu. Darum gab ich einem meiner Diener den Auftrag, eine Liebschaft im Haus der Rodriganda anzuknüpfen. Es ist ihm dies gelungen. Heute abend hat er nun zum ersten Mal Gelegenheit gehabt, seine Frage anzubringen, und er brachte mir die Antwort, als Sie nach dem Friedhof aufgebrochen waren.« – »So bin ich begierig, das Nähere zu hören.« – »Es ist nicht viel. Die alte Marie Hermoyes hat bei Pablo Cortejo und seiner Tochter nicht gut gestanden, auch beim jungen Grafen Alfonzo nicht. Sie scheint Verdacht gefaßt zu haben und ist vielleicht so unklug gewesen, es sich merken zu lassen. Eines Abends nun sind zwei Indianer in den Stall gekommen, haben den Knecht geknebelt und die besten Pferde weggenommen. Mit diesen Indianern ist Marie Hermoyes nach der Hacienda del Erina entflohen.« – »Wunderbar!« – »Ja, und eben weil es so sonderbar ist, muß es Verdacht erregen. Der junge Graf Alfonzo ist dann mit Militär nach der Hazienda geritten, aber als Flüchtling wiedergekommen. Das sind Nachrichten, die mich glauben lassen, daß Sie mit Ihren Vermutungen recht haben, Herr Sternau.« – »Ich ahne irgendein Unheil!« sagte der letztere. »Am besten wäre es wohl, wenn wir baldigst aufbrechen könnten, aber Freund Mariano ist noch zu schwach dazu. Eine Woche Zeit müssen wir ihm gestatten, ehe er stark genug für die Anstrengungen eines solchen Ritts ist.« – »Und«, fügte der Lord hinzu, indem er leise lächelte, »eine Woche wenigstens müssen Sie auch Herrn Helmers gestatten, um sich die nötige Fertigkeit im Reiten anzueignen. Es ist keine Kleinigkeit, als ungeübter Kavallerist an die Grenze der Indianer zu gehen.«

Was Mariano betrifft, so hatte er den besten Arzt in Amy und die beste Arznei in dem Glück, das er an ihrer Seite genoß. Sie waren fast stündlich zusammen, und Lord Lindsay tat, als ob er dies nicht bemerke. Er glaubte, dies sei das Beste, was er tun könne.


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