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Vierundzwanzigstes Kapitel

Stets will ich euch die wichtige Lehr' erneuen,
Bis sie als wahr ist allgemein erkannt –
Wie jede fromme Pflicht, das große Band,
Das uns an Eltern, Freunde, Vaterland
Und an die Gottheit knüpft – kurz alle Weihen
Der Tugend nur durch frühe Zucht gedeihen.

West.

Die verschiedenen Kapitel einer Novelle erinnern mich an ein Convoy von Schiffen. Die Begebenheiten und die Personen des Dramas find eben so viele Fahrzeuge, die unter der Obhut des Dichters stehen, und dieser muß wie ein Kriegsschiff Sorge tragen, daß alle mit einander wohlbehalten im Hafen anlangen. Wenn nun der kommandirende Offizier ein Schiff, welches zurückgeblieben ist, in's Schlepptau genommen hat, so findet er bald, daß in der Zwischenzeit ein anderes beinahe außer Sicht gekommen ist; er muß deshalb seine eine Last los lassen, um dieselbe nöthige Pflicht an den hintersten zu üben, und so sehe ich mich nun gezwungen, vorderhand Nicholas und Newton ihrem Geschicke anheim zu geben, während ich zu Edward Forster und seinem Schützlinge zurücksteure.

Es muß bemerkt werden, daß im Laufe unserer Erzählung die Zeit gleichfalls fortgeschritten ist, und Sommer auf Sommer folgte, bis aus dem Kinde, das in gänzlicher Hülflosigkeit nicht einmal sein Händchen zur Bitte um Beistand zu erheben vermochte, zu einem schönen blauäugigen Mädchen von beinahe acht Jahren herangewachsen war. Die Kleine hatte den Bau einer Elfe und die leichte Schwungkraft eines Rehs in ihrem Gange; ihre Augen strahlten von Freude und ihre Wangen glühten von dem Roth der Gesundheit, wenn sie an den Küstenhügeln hineilte, während bescheidene Aufmerksamkeit aus ihrem Antlitz sprach, so oft sie auf die Lehren ihres sie zärtlich liebenden Pflegvaters lauschte.

Treu, der Newfoundländerhund, ist nicht mehr, aber sein Portrait hängt in dem kleinen Wohnzimmer über dem Kaminsimse. Mrs. Beaseley, die Haushälterin, ist durch ihre Gicht und unter der Last der Jahre unthätig und mürrisch geworden, weshalb ein kleines Mädchen, die Tochter des Fischers Robinson, herbeigerufen wurde, um ihre Obliegenheiten zu besorgen, während die Alte selbst sich in der Sommersonne wärmte, oder über dem winterlichen Feuer kauerte. Edward Forsters ganze Beschäftigung und seine einzige Freude ist in dem theuren Kinde concentrirt, dessen Schönheit, Verstand und edle Gemüthsart ihn für seinen wohlwollenden Schutz reichlich belohnt.

Von allen Gegenständen, auf welche man sich einlassen kann, ist ein Kapitel über die Erziehung vielleicht das allerlangweiligste; ich würde daher dasselbe recht gerne übergehen, nicht blos um des Lesers, sondern auch um meiner selbst willen – denn für erstere kann es nur trocken und uninteressant sein, für meine Person aber wird es lästig, weil ich nicht weiß, wie ich es anzugreifen habe.

Indeß kann ich den Leser doch nicht ganz verschonen. – Ambra wurde nicht nach den Vorschriften der Damen Appleton und Hamilton erzogen; und da Wirkungen nicht gehörig begriffen werden können, ohne daß man in ihre Ursachen eingeweiht ist, so ist es nicht nur nöthig, daß ich das Kapitel schreibe, sondern es wird auch, was noch ärgerlicher ist, absolut unerläßlich, daß man es lese.

Bevor ich auf dieses höchst verdrießliche Thema eingehe – verdrießlich für alle Partieen, da Niemand gerne lehrt und Niemand gerne lernt – kann ich nicht umhin, zu bemerken, wie außerordentlich au fait in der Regel alle ältlichen Jungfrauen in sämmtlichen Punkten sind, welche mit der Erziehung unserer unnützen Species zusammenhängen. Sie sind über jedes Titelchen ab ovo unterrichtet, und es scheint, daß ihre eigenthümliche Kenntniß der Theorie nur in dem Umstände ihren Grund hat, daß sie ihre Aufmerksamkeit nie von der Praxis verwenden.

Handle sich's nun um die kreisende Mutter oder um den neugeborenen Säugling – um das Zahnen oder um die Widerspenstigkeit eines Kindes – um einen schmutzigen Knirps mit seinem Geiferlätzchen, oder um das Mädchen, das ihr Mustertuch besudelt – um den lümmelhaften Schulknaben oder um die aufschießende Miß – um den selbstgefälligen Springinsfeld mit gebrochener Stimme oder um die erröthende Jungfrau mit dem erwachenden Selbstgefühl – alle Geheimnisse der Natur und der Kunst sind allein ihnen enthüllt.

Gegen Scharlachfieber oder Unarten – gegen Masern oder Lügen – gegen Keuchhusten oder Aepfelstehlen – gegen das zu langsame Lernen und das zu schnelle Essen – gegen das Schlagen einer Schwester oder das Zerkratzen eines Bruders – kurz gegen jede körperliche oder geistige Krankheit besitzen sie die ausschließliche Panacee; während dagegen blühende Matronen, die sich in ihrem Stolze spreizen wie eine ängstliche Gluckhenne über den zahlreich sie umgebenden Nachwuchs, welchen sie mit Mutterschmerzen getragen, mit Mutterangst bewacht und mit der glühenden Liebe einer Mutter erzogen haben – in der Ansicht dieser trockenen und dürren Zweige an dem wunderbaren und stets Früchte-bringenden Baume der Natur als völlig incompetent erscheinen.

Mrs. Beaseley, die bald nach ihrer Verehelichung den Gatten wieder verloren hatte, war keine Freundin von Kindern, denn derartiges Unkraut wollte sich mit der pünktlichsten Reinlichkeit, an die sie gewöhnt war, nicht vertragen. Soweit übrigens Ambra's Erziehung in Frage kam, müssen wir doch der alten Haushälterin nachsagen, daß sie, wenn sie auch nicht viel Gutes stiftete, wenigstens doch keinen Schaden anrichtete. Mit Ambra's Jahren wuchs auch ihr Durst nach Wissen über Gegenstände, in denen sie Mrs. Beaseley nicht zurecht weisen konnte; wenn sich daher die Kleine unter solchen Umständen an die Haushälterin wandte, so pflegte diese, welche zu gewissenhaft war, um das Kind irre zu führen, die Hand auf den Rücken zu legen und sich über ihre Rheumatismen zu beklagen.

»Ach, das sticht, meine Liebe,« lautete die Erwiederung; »kann jetzt nicht sprechen – frag den Papa, wenn er nach Hause kömmt.«

Edward hatte in Zeiten die Schwierigkeit, ein Mädchen zu erziehen, in's Auge gefaßt. Die Eigenthümlichkeit ihrer Lage, die ihr auf der ganzen weiten Welt keinen Freund gelassen hatte, als ihn, und sein eigenes Alter, das in Wahrscheinlichkeit seinen Tagen ein Ziel setzte, wenn sie am meisten des Berathens bedurfte – in der Periode nämlich, in welcher das Herz sich gegen den Kopf empört und nur zu oft die legitime Herrschaft der Vernunft über den Haufen wirft – veranlaßte ihn zu dem Entschlusse, ihrer Erziehung einen männlichen Charakter zu geben, der ihr wahrscheinlich den sichersten Schutz gegen eine trügerische Welt verlieh.

Von der Ansicht ausgehend, daß durch Gespräche einem Kinde mehr Kenntnisse beigebracht werden könnten, als durch andere Mittel, da dieses Erziehungssystem nichts von Plackerei wisse, lehrte er Ambra während ihrer ersten sechs Lebensjahre wenig mehr als die Buchstaben des Alphabets. Erst als ihr Verlangen nach Wissen in einem Grade geweckt war, daß sie sich nach Mitteln sehnte, dasselbe aus freier Willkühr zu befriedigen, erhielt sie, und zwar auf ihre eigene Bitte, Unterricht im Lesen. Edward Forster meinte, ein sechsjähriges Kind, das durch einen freien Antrieb zum Lernen gespornt werde, sei recht wohl im Stande, ein anderes zu überholen, das man in früheren Jahren gegen seinen Willen dazu anhalte, da die Elastizität des Geistes durch Ueberladung des kindlichen Gedächtnisses nur beeinträchtigt werde. Bis zu dem gedachten Alter durfte Ambra's Geist so zwanglos durch die kleinen Regionen seiner Phantasie streifen, als es ihrem rührigen Körper unbenommen blieb, auf den anstoßenden Bergen zu hüpfen und zu springen; beide entwickelten sich daher durch die gesunde Uebung in gleicher Schönheit und Kraft.

Die Religion wurde ihrem dankbaren Herzen tief eingedrückt, zugleich aber auch so einfach vorgetragen, daß sie dieselbe gut verstehen konnte. Ihr Leitpfad war der herrliche Kanal der Natur, und sie lernte Gott aus der Bewunderung seiner Werke lieben und fürchten.

Wenn ihr Auge auf dem fernen Ocean haftete oder das Rollen der Brandung betrachtete – wenn ihre Blicke über die grünenden Berge oder an den wellenbrechenden Klippen hinschweiften – wenn sie ihr Cherubköpfchen gen Himmel erhob, um das sternenbesäte Himmelszelt, den in kalter Schönheit hinsegelnden Mond oder die durch Wärme und Glanz blendende Sonne zu bewundern – so wußte sie, daß Alles dies aus der Hand Gottes kam. Machte sie sich Gedanken über die Verschiedenheit der Blätter, über die Färbung der Blüthen oder über die Bewegungen des kleinsten Insekts, das, ohne ihre zufällige Beobachtung, vielleicht ungesehen gelebt hätte und gestorben wäre – so fühlte und wußte sie, daß Alles zum Nutzen und zur Freude des Menschen geschaffen – daß der Schöpfer groß und gut war. Ihre Gebete waren kurz, kamen aber aus dem Herzen – ungleich dem Kinde, das jeden Morgen und jeden Abend seinen »Glauben« stammeln muß, ohne ihn begreifen zu können, und in Folge einer solchen unverständigen Behandlung nur zu bald ungeduldig wird und einen Widerwillen gegen die Religion einsaugt.

Man hat der Neugierde viel Uebles nachgeredet. Weil wir gewöhnt sind, in dieser Welt die Dinge nicht bei ihren rechten Namen zu nennen, wurde sie als ein Laster ausgeschrieen, während man sie eigentlich unter die Tugenden klassificiren sollte. Hätte Adam zuerst die verbotene Frucht entdeckt, so würde er sie gekostet haben, ohne wie Eva zuerst der Einflüsterung des Teufels zu bedürfen, der sie zum Ungehorsam verlockte. Wenn aber Neugierde zum Falle des Menschen Anlaß gab, so spornte sie ihn auch, sich wieder zu einer Höhe zu erheben, die nur der Gottheit untergeordnet ist. Die Neugierde kleinlicher Seelen mag unverschämt sein, während sie sich bei großen Geistern zum Wissensdurste steigert und Anlaß gibt, daß der Mensch seine unsterblichen Kräfte versucht, um sich wieder zu seinem ursprünglich hohen Zustand zu heben. Neugierde war es, was den großen Newton spornte, die Gesetze des Himmels zu erforschen, und seinen Meistergeist befähigte, das ungeheure, geheimnißvolle Blatt im Buche der Natur zu übersetzen, das seit der Schöpfung stets vor unsern Augen lag, aber nicht vorhanden zu sein schien, um von sterblichen Menschen gelesen zu werden. Man sollte diese Leidenschaft in der Kindheit nähren, da von ihrem gesunden, kräftigen Wuchs die zukünftige Entfaltung des Geistes abhängt.

Wie wenig Geld ist nöthig, um ein Kind zu lehren – und doch, wie viele Bücher müssen wir nicht bezahlen. Ambra hatte kaum je in ein Buch gesehen, und doch besaß sie mehr gemeinnützige Kenntnisse, als Andere, die zweimal so alt waren. Wie klein war Edward Forsters Stübchen – wie einfach die Ausstattung desselben! – ein Teppich, ein Tisch, einige Stühle und eine kleine chinesische Vase als Kaminzierde. Wie wenige Gegenstände kamen Ambra in ihrer kleinen abgeschiedenen Heimath vor Augen! Die Teller und Messer bei der Mahlzeit, ein paar silberne Löffel und die vorhandenen Kleidungsstücke. Und doch, wie endlos, wie unerschöpflich war die Unterhaltung und Belehrung, die aus so unbedeutenden Quellen flossen – denn dies waren Forsters Bücher.

Der Teppich – sein hänfener Zettel führten sie nach dem Norden, aus dem das Material kam – zu den Bewohnern der eisigen Zone, zu ihren Sitten und Gebräuchen, zu ihrem Klima und ihren Städten, zu ihren Produktionen und den Quellen ihres Reichthums. Der wollene Einschlag mit seinen verschiedenen Farben – an jede derselben knüpfte sich die Geschichte einer Insel oder eines Staats, ein Abschnitt der Naturgeschichte oder ein Kapitel über Kunst und Erwerbsfleiß.

Der Mahagonitisch verpflanzte sie wie ein Zauberwagen nach dem heißen Himmelsstriche, wo die verschiedenen tropischen Blumen und Früchte, der hohe Cocosbaum, die Palme mit ihrem breiten Schirme, die großblättrige Paradiesfeige und die würzige Ananas gediehen. Alle Produkte dieser Zone, Alles was der Landschaft und dem Klima eigenthümlich war, wurde Ambras entzückter Einbildungskraft oft vorgeführt.

Die kleine Vase auf dem Kaminsimse schwoll zu einem prächtigen Atlas der östlichen Geographie, einem unerschöpflichen Foliobande an, der die indischen Gebräuche, die Pracht des asiatischen Kostüms, die reichen Throne der Propheten-Abkömmlinge, die Geschichte des Propheten selbst, nebst dem großen Verstande und den ungeheuren Körper des Elephanten schilderte. Alles, was Edward Forster in diesem ausgebreiteten Reiche in Künste und Natur schätzen gelernt hatte, wurde der Reihe nach entfaltet, bis sie nach China zurückgekehrt waren, wo sie ihre Reise begonnen hatten. So barg die kleine Vase, gleich dem Gefäße, das in Tausend und Einer Nacht der Fischer aufgelesen, einen Riesen, den das Siegel Salomonis gefangen hielt – nämlich das Wissen.

Messer und Löffel brachten sowohl dem Körper als dem Geiste Nahrung. Forster stieg mit seiner Schülerin in die Minen hinab, nannte ihr die Lande, wo sie gefunden werden, und machte sie mit den Metallen, ihrem Werthe und ihrer Verwendung bekannt.

Der Anzug führte sie wieder in's Ausland; die Baumwolle hing in Kapseln an den Bäumen, der Seidenwurm spann sich selbst sein gelbes Grab, und der ganze Prozeß, welcher bei Verarbeitung der gedachten Rohstoffe stattfand, wurde zur Sprache gebracht. Dann machte sich die Phantasie an den Webstuhl, bis das Kleid fix und fertig war.

So fand Ambra Unterhaltung und Unterricht zugleich; und so dehnte sich Edward Forsters kleines Stübchen, in welchem die Natur als Bilderfibel und die Kunst als Gebetbuch galt, zum »Universum« aus.


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