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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Barmherziger Gott! ein Kind, ein wahres Kind –
Ein Kind, ein Knabe!

Shakspeare.

Nachdem Newton von dem Kartelschiff zu Jamaika an's Land gestiegen war, fand er, wie sehr es ihm zu Statten kam, daß er nicht die Kleidung eines Seemannes trug, da Alle, welche in einem derartigen Kostüme erscheinen, augenblicklich dem Stations-Admiral überantwortet wurden, damit sie die Wiedererlangung ihrer Freiheit am Borde eines Kriegsschiffes feiern möchten. Der Anzug, womit ihn die Großmuth des Monsieur de Fontanges versehen, trug jedoch durchaus keinen seemännischen Charakter, und Newton wurde mit seinen Reisesäcken, in einem Kriegsschiffsboote an's Land gebracht, dessen Mannschaft in ihm nicht entfernt eine Person suchte, die so ganz für ihre Absichten paßte, indem sie alle nöthigen Eigenschaften der Jugend, Thätigkeit und einer gediegenen Kenntniß ihres Berufes besaß. Newton sehnte sich jetzt so sehr nach der Heimath, daß er nach einem mehrtägigen Aufenthalte in einem Gasthofe, der hauptsächlich von den Offizieren des im Hafen liegenden Kriegschiffes besucht wurde, sich vornahm, den Kapitän einer Fregatte, die mit Depeschen nach Hause beordert war, um einen Platz zur Ueberfahrt anzugehen. Er war mit einigen der Offiziere ziemlich vertraut worden, und diese versicherten ihm, daß seinem Gesuche keine Hindernisse in den Weg gelegt würden. Er brachte sein Anliegen in Person vor und erreichte auch auf seine Angabe hin, daß er durch das letzte Guadelouper Kartelschiff in Freiheit gesetzt worden sei, augenblicklich seinen Zweck, ohne daß man in Betreff seines Berufes oder über die Art, wie er in Gefangenschaft gerathen war, weitere Fragen an ihn stellte. Der Kapitän gab ihm sehr höflich zu verstehen, er könne seinen Tisch bei den Offizieren der Konstabelkammer erhalten, wenn er sich mit denselben benehmen wolle, und bezeichnete die Zeit der Abfahrt auf den Abend des nächstfolgenden Tages. Newton begab sich augenblicklich an Bord der Fregatte, um zu sehen, ob ihn die Offiziere als Tischgenossen annehmen wollten, zugleich aber auch sich zu überzeugen, in wie weit eine derartige Maaßregel sich mit seinen Finanzen vertragen dürfte. In einem der Reisesäcke hatte er einen Beutel mit zweihundert Dollars und außerdem ein Billet von Madame de Fontanges gefunden, die ihm glückliche Reise wünschte und zum Andenken einen Ring, den er oft an ihrem Finger gesehen, beigeschlossen hatte. Aber obgleich diese Summe seinen eigenen Bedürfnissen zur Genüge entsprach, so vergaß Newton doch nicht, daß sein Vater aller Wahrscheinlichkeit nach in großem Elend sei und nach seiner Rückkehr der Unterstützung bedürfen würde, weßhalb er sorgfältig darauf Bedacht nahm, nicht mehr aufzuwenden, als unbedingt zu Bestreitung seiner Ueberfahrt nöthig war. Der alte, erste Lieutenant, dem er sich bei seiner Ankunft an Bord als dem kommandirenden Offizier vorstellte, empfing ihn mit großer Höflichkeit und ging sowohl für sich selbst als für seine Tischgenossen auf die Wünsche unseres Helden ein, sobald ihm dieser mitgetheilt hatte, daß er von dem Kapitän Erlaubniß erhalten habe, sein Gesuch vorzubringen. Newton erkundigte sich sodann nach den Kosten, da er, im Falle diese größer wären, als sich mit seinen Finanzen vertrüge, um die Erlaubniß bitten müßte, einen weniger kostspieligen Tisch zu wählen.

»Ich kann mir wohl denken,« versetzte der Veteran, »daß diejenigen, welche Schiffbruch gelitten haben und in französische Gefangenschaft geriethen, nicht sonderlich bei Kasse sein können. Es ist jedoch ein Punkt, über den ich mich mit meinen Kameraden besprechen muß. Entschuldigt mich einen Augenblick und ich will Euch eine Antwort bringen. Ohne Zweifel wird sich die Sache zur Zufriedenheit bereinigen lassen; aber jedenfalls ist's gut, wenn diese Punkte schnell abgethan werden. Mr. Webster, sorgt dafür, daß der Lichter abfährt, sobald er klar gemacht ist,« fuhr er gegen einen der Midshipmen fort, worauf er die Halbdecktreppe hinunterstieg und Newton allein ließ.

Einige Minuten nachher erschien er wieder mit ein paar anderen Offizieren der Konstabelkammer, welche unsern Helden auf's Herzlichste begrüßten.

»Ich habe das Nöthige besorgt,« sagte er zu Newton, »und nur mit zweien, nämlich mit dem Meister und dem Zahlmeister keine Rücksprache genommen, da diese arm sind und Familie haben. Wenn Ihr daher nicht zu stolz seid, unser Erbieten anzunehmen, so bin ich beauftragt, Euch von Seite der andern Offiziere freie Ueberfahrt zuzusichern, da wir uns überzeugt fühlen, Eure Gesellschaft werde uns mehr als entschädigen. Der Antheil des Aufwandes für die zwei anderen wird ein paar Pfund ausmachen – eine Kleinigkeit zwar, aber doch für sie von Bedeutung; dies sind die einzigen Kosten, die Ihr zu bestreiten haben werdet. Wenn Ihr eine solche Summe zu was immer für einer Zeit nach Eurer Ankunft in England zu erschwingen vermögt, werden wir uns glücklich schätzen, Euch aufzunehmen und Euch die Fahrt so gemächlich und angenehm zu machen, als es nach den Umständen möglich ist.«

Diesen äußerst freigebigen Vorschlag nahm Newton mit Freuden an. Die Offiziere, die mit dem ersten Lieutenant auf das Deck gekommen waren, luden Newton nach ihren Kajüten ein, wo er der übrigen Tischgenossenschaft vorgestellt wurde; sie bestand meistens aus schönen, jungen Leuten, die so glücklich und sorglos waren, als ob die Jugend ewig währte. Nachdem sie die Bekanntschaft bei einem Glas Grog eröffnet hatten, kehrte Newton an's Land zurück. Am andern Morgen traf er seine Vorbereitungen, zahlte seine Rechnung im Hotel und fand sich vor zwölf Uhr wieder an Bord der Fregatte ein, die mit aufgehißtem blauen Peter und gelöstem Fockmarssegel dalag, der Ankunft des Kapitäns harrend, welcher nur noch wegen der Depeschen des Admirals und des Gouverneurs am Lande aufgehalten wurde.

Als Newton den Kapitän der Fregatte um Aufnahme an Bord ersuchte, konnte er es kaum für möglich halten, daß die Person, welcher er vorgestellt wurde, mit dem Kommando eines so schönen Schiffes betraut war. Der Kapitän war ein leicht gebauter zarter Jüngling von neunzehn oder höchstens zwanzig Jahren, ohne eine Spur der beginnenden Mannheit an seinem Kinne. Er schien allerdings sehr lebhaft, rührig und gutmüthig zu sein; aber welche andern Eigenschaften er besaß, um einen solchen Beweis von Vertrauen zu verdienen – dies war für Newton ein Räthsel, das der Lösung bedurfte.

Die Aufklärung ließ sich übrigens in sehr wenig Worten geben. Er war der Sohn des Stationsadmirals, und da in jener Periode keine das Alter betreffenden Regulative der schnellsten Beförderung Eintrag thaten, so hatte er, nachdem er seine Dienstzeit als Midshipman ausgedient, in weniger als zwei Monaten, den Rang eines Lieutenants, eines Kommandeurs und eines Postkapitäns erhalten. In letzterer Eigenschaft war er auf die in Frage stehende Fregatte, einer der schönsten in Seiner Majestät Dienste, ernannt worden. Um jedoch einigermaßen am Gängelbande geführt zu werden, hatte ihm der Admiral einen alten verdienstvollen Offizier als ersten Lieutenant beigegeben. Ob in einem solchen Falle billigermaßen nicht der Kapitän mit seinem Untergeordneten die Stelle hätte wechseln sollen, muß ich dem Urtheile der Leser überlassen, um so mehr, da der würdige alte Lieutenant bei den wiederholten Erledigungen längst selbst hätte befördert werden müssen, wenn der Admiral nicht eine so hohe Meinung von seiner Fähigkeit und seinem Urtheil gehabt hätte, daß er ihn ganz für den Mann hielt, dem sich die Obhut über seinen Sohn anvertrauen lasse.

Kapitän Carrington hatte alle die Fehler, welche, wenn sie auch nicht schon in der Natur liegen, unwandelbar sich bei Allen entwickeln, denen man zu früh eine Gewalt anvertraut. Er war eigensinnig, gewaltthätig und leidenschaftlich. Seine guten Eigenschaften bestanden in einem edelmüthigen Charakter, einem wohlwollenden Herzen (sofern er nicht gereizt war), einem männlichen Muthe und einem freimüthigen Zugeständniß seiner Irrthümer. Hätte er eine gebührende Zeit in den verschiedenen Graden seines Berufes gedient und gehorchen gelernt, ehe ihm das Recht, zu befehlen, anvertraut wurde, so würde er sich ohne Frage zu einem sehr tüchtigen Offizier herangebildet haben; so aber war er weder Offizier, noch Seemann, oder überhaupt etwas Anderes, als ein verzogener Knabe. Er versuchte oft, den Kapitän zu spielen, mußte es aber eben so oft aus Mangel an Kenntnissen wieder bleiben lassen. Wenn er das Schiff zu manövriren anfangen ließ, so konnte er in der Regel nicht fortfahren und mußte bei derartigen unglücklichen Unterbrechungen das Sprachrohr an den ersten Lieutenant abgeben. Traf sich's nun bisweilen, daß der Letztere – entweder aus Zufall oder aus verzeihlichem Aerger über die übel verstandene Einmengung seines Vorgesetzten – nicht gerade zur Hand war, um den Fehler wieder gut zu machen, so lief alsbald die Phrase, welche die Offiziere irgend einer Posse entnommen hatten, durch das ganze Schiff – »York, man braucht dich.«

Etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang erschien der jugendliche Kapitän an Bord – etwas frisch von dem Abschiede, den er eben mit seinen Bekannten und Freunden am Lande gefeiert hatte. Der erste Lieutenant ließ die Anker lichten, und noch ehe die Sonne verschwunden war, schoß die Fregatte durch die schäumenden Wellen dem Lande zu, welches die knorrige Eiche ihres schönen Baus gereift hatte. Newton trank mit seinen neuen Tischgenossen auf eine glückliche Heimfahrt und zog sich mit dankbarem Herzen über seine verbesserten Aussichten nach der für ihn bereiteten Hängematte zurück.

Als unser Held am Morgen aufstand, fand er, daß in dem Laufe der Nacht Gegenwind eingetreten war und die dicht angeholte Fregatte mit gesetzten Oberbramsegeln durch das glatte Wasser ging. Um zehn Uhr machte der Schiffsmeister den Vorschlag, zu laviren, und der erste Lieutenant ging in die Kajüte hinunter, um dem Kapitän seinen Wunsch zu melden.

»Sehr wohl, Mr. Nourse,« versetzte der Kapitän; »bietet die Matrosen auf.«

»Gut, Sir,« entgegnete der erste Lieutenant und verließ die Kajüte.

»Ruft den Hochbootsmann, Quartiermeister – alle Mannschaft auf's Schiff.«

»Alle Mannschaft auf's Schiff!« schrie nun der Hochbootsmann – ein Ruf, den seine Maten an den verschiedenen Luken wiederholten und dazu ihre Pfeifen erschallen ließen.

»Herauf da – hurtig, herauf da, ihr Jungen!«

Nach einigen Minuten befand sich sämmtliche Mannschaft auf dem Deck und an den beziehungsweisen Posten, obschon anfangs Viele in ihrer löblichen Hast statt herauf zu kommen, hinunter gepurzelt waren.

»Stille da, vorn und hinten – Jeder an seinen Posten,« rief der erste Lieutenant durch's Sprachrohr.

»Alles bereit, Sir,« meldete er sodann dem Kapitän, welcher ihm auf das Deck gefolgt war. »Sollen wir das Steuer niederlassen?«

»Wenn Sie so gut sein wollen, Mr. Nourse.«

»Hinunter mit dem Steuer!«

Sobald der Meister den Vollzug dieses Befehls meldete, rief der erste Lieutenant:

»Das Steuer leewärts!«

Aber Kapitän Carrington, welcher meinte, leichte Winde und glattes Wasser böten eine gute Gelegenheit zur Uebung, unterbrach ihn, indem er gegen die Laufplanke ging und sagte:

»Mr. Nourse, Mr. Nourse, wenn's beliebt, so will ich das Schiff selbst handhaben.«

»Sehr gut, Sir,« versetzte der erste Lieutenant, ihm das Sprachrohr einhändigend. »Laßt gefällig halsen und Schooten aufstechen, Sir,« fuhr er in gedämpfter Stimme fort; »die Segel heben sich.«

»Halsen und Schooten!« rief der Kapitän.

»Zieht am großen Leehals ein, meine Jungen,« sagte der erste Lieutenant, nach der Leelaufplanke gehend, um zu sehen, ob die Befehle befolgt würden.

Nun wußte Kapitän Carrington, daß das nächste Kommandowort: »das große Segel angeholt« lauten mußte; da jedoch dieser Befehl eine gewisse Präcision in Betreff der Zeit erforderte, so blickte er über die Schulter nach dem ersten Lieutenant, der ihm gewöhnlich geschickt aus der Noth half. Da er diesen nicht bemerkte, so gerieth er in Verwirrung, und während er ein paar Sekunden nach seinem Helfer forschend umherblickte, hatte das Schiff seinen Schnabel in den Wind gerichtet.

»Das große Segel angeholt!« rief endlich der Kapitän.

Aber es war zu spät. Die Raaen wollten sich nicht herumschwingen und Alles ging unrecht – das Schiff war in Fesseln.

»Ihr habt ein Bischen zu spät anholen lassen, Sir,« bemerkte der erste Lieutenant, der nun wieder herantrat. »Ihr müßt jetzt das Schiff wieder herumbringen, Sir.«

Aber Kapitän Carrington konnte zwar ein Schiff in Fesseln legen, wußte aber nicht, wie er es wieder herausschaffen sollte.

»Die Fregatte ist ganz verwünscht aus ihrer Segellage,« bemerkte er; »sie will weder vieren noch halten. Versucht Ihr's, Mr. Nourse,« fuhr der Kapitän fort; »ich hab's satt.«

Und mit glühendem Gesichte händigte er das Sprachrohr wieder dem ersten Lieutenant ein.

»York, man braucht dich,« bemerkte der Lieutenant hinten gegen die Marine-Offiziere, indem er die Mundwinkel hängen ließ.

»York, man braucht dich,« flüsterten sich die Midshipmen kichernd zu, während sie an einander vorübergingen.

»Ich habe deinen Grog gewonnen, Jim,« rief einer der Matrosen, der an der Fockbrasse stand; »ich wußte wohl, daß er nicht damit zu Stande kommen würde.«

»Es geht ihm wie mir,« bemerkte ein Anderer in gedämpftem Tone; »er hat die Schule zu früh verlassen und ist dadurch um seine Erziehung gekommen.«

Dies waren die Resultate einer unverständigen Bevorzugung. Ein schönes Schiff, unter dem Kommando eines Knaben, der nichts vom Dienste versteht und nicht nur von den Offizieren, sondern sogar von den Matrosen ausgelacht wird. Dabei steht auch die Ehre des Landes auf dem Spiel und lief keine geringe Gefahr, befleckt zu werden, wenn die Fregatte allenfalls mit einem tüchtigen Gegner zusammentrifft Allerdings muß jetzt ein Offizier, ehe er befördert wird, eine gewisse Zeit in den verschiedenen Graden dienen, und man hält diese Zeit für zureichend, um den Dienst kennen zu lernen; ob aber die nöthigen Kenntnisse überhaupt erlangt werden, hängt, wie sonst eben auch, von den Aussichten ab, die ein junger Offizier hat. Hat er sich der Verwendung einer einflußreichen Familie zu erfreuen, so darf er der Beförderung sicher sein: nicht ganz so gewiß ist es, ob er sich wirklich zu einem Seemanne heranbildet.. Gott sei Dank, dies ist jetzt vorüber! Umsichtige Regulative haben einem derartigen egoistischen und kurzsichtigen Nepotismus ein Ende gemacht. Er ist egoistisch, weil diejenigen, welche sich desselben schuldig machen, die Ehre der Nation auf's Spiel setzen, um die Interessen ihrer Schützlinge zu fördern – kurzsichtig, weil es doch nichts nützt, einen jungen Menschen zur Stellung eines Kapitäns zu erheben, wenn man ihn nicht zu einem Offizier machen kann. Ich könnte mich hier auf eine ganze Abhandlung einlassen, die vielleicht von einigem Nutzen sein würde, in einem Werke aber, das mehr der Unterhaltung als der Belehrung geweiht ist, nicht am Orte wäre und aller Wahrscheinlichkeit nach doch nicht gelesen würde. Auch ich mache mir's stets zur Regel, in einer leichten Unterhaltungslektüre diejenigen Theile zu überspringen, welche aus schwererem Material bestehen, und muß daher voraussetzen, daß es Andere ebenso halten. Alles hat seine Art und seine Zeit, und es geht mir, wie dem Herrn von Ravenscourt: »Ich harre meiner Zeit.«

Die Fregatte schoß rüstig durch das Wasser, das einemal im Gegenwinde sich bis auf die Seite überneigend, das andremal vor einer günstigen Kühlte dahin rollend; auch befand sie sich, wenn man aus ihrer raschen Bewegung schließen durfte, in keiner so gar schlechten Segellage, als Kapitän Corrington an ihr hatte finden wollen. Jeder Tag brachte sie rasch der theuren Heimath näher, da sie »durchs Wasser eilte, wie ein lebendes Wesen«. Ich kann mir in dieser Welt keine stolzere Stellung denken, als die des Kapitäns einer schönen Fregatte mit einer wohldisciplinirten Mannschaft. Aber der Henker hole die Achtundzwanziger!

»Es würde gut sein, Sir, wenn wir die Oberbramsegel einnähmen,« sagte der erste Lieutenant, als er, den Hut in der Hand, in die Kajüte trat, wo der Kapitän mit mehreren von den Offizieren bei einem auch wohl mit Weinen versehenen Diner saß.

»Pah, Possen, Mr. Nourse! wir wollen sie noch ein wenig länger führen,« versetzte der Kapitän, der in einem andern Sinne bereits zu viele Segel führte. »Setzt Euch und laßt Euch mit uns ein Glas Wein belieben. Ihr schreit immer vor dem Schlage, Nourse.«

»Ich danke, Sir,« versetzte der erste Lieutenant ernst; »Ihr werdet mich entschuldigen, aber es ist Zeit, die Leute zum Verles' zu rufen.«

»Nun, so thut es; ich dachte nicht, daß es schon so spät sei. Mr. Forster, Ihr greift ja gar nicht zu.«

»Danke, Sir, ich habe bereits genug.«

Die anwesenden Offiziere antworteten in derselben Weise.

»Nun, wenn ihr nicht wollt, Gentlemen – – Steward, bringt uns etwas Kaffee.«

Der Kaffee erschien und verschwand. Die Offiziere verbeugten sich und verließen die Kajüte, als eben der erste Lieutenant eintrat, um über die Musterung zu rapportiren.

»Alles zugegen und nüchtern. Ich fürchte, Sir,« fuhr er fort, »die Stenge wird über die Seite gehen, wenn wir nicht die Oberbramsegel einziehen.«

»Haltet einen Augenblick, wenn's beliebt, Mr. Nourse, bis ich mich durch den Augenschein überzeugt habe,« versetzte der Kapitän, der sich in einer störrischen Stimmung befand.

Kapitän Carrington ging auf das Deck, die Matrosen standen noch immer auf ihren Musterungsposten, und mehr als einer richtete seine Augen nach den Stengen, die sich unter schwerem Aechzen, gleich einer Kutscherspeitsche bogen.

»Sollen wir die Leute abtreten und Hände hinaufpfeifen lassen, um die Segel zu kürzen, Sir? Es wäre gut, die dritten Reffe einzulegen, Sir; es sieht diesen Abend gar stürmisch aus,« bemerkte der erste Lieutenant.

»Aber, Mr. Nourse, ich sehe in der That keine Nothwendigkeiten.«

In diesem Augenblicke gingen jedoch die Bramstengen des Fock- und des großen Masts über die Seite, und der Ausluger auf der Fockstenge, der den Ruf des ersten Lieutenants, herunter zu kommen, überhört hatte, wurde leewärts in's Wasser geschleudert.

»Steuer nieder!« rief der Schiffsmeister.

»Ein Mann über Bord! ein Mann über Bord!« hallte es auf den Decken wieder, während einige der Offiziere und Matrosen in die Schanzboote sprangen, hastig die Bootskrapper und Bindsel losmachend.

Kapitän Carrington wurde augenblicklich durch eine Katastrophe, die, wie er wohl fühlte, durch seinen Eigensinn herbeigeführt worden war, nüchtern und eilte nach dem Hackebord. Dort sah er den armen Matrosen mit den Wellen kämpfen und sprang, von seiner in Wahrheit edlen Natur angetrieben über Bord, um ihn zu retten. Da er jedoch kein sonderlicher Schwimmer war und noch obendrein durch seinen Anzug sehr belästigt wurde, so vermochte er kaum mehr, als sich selbst über dem Wasser zu erhalten.

Newton, welcher bemerkte, wie die Sachlage stand, ergriff mit großer Geistesgegenwart die zwei Ruder des im Sterne hängenden Bootes und stürzte sich gleichfalls in's Wasser, um den Beiden Beistand zu leisten. Das eine derselben brachte er dem Matrosen, der bereits sinken wollte, und steckte es ihm unter die Arme, worauf er mit dem andern zu Kapitän Carrington zurückschwamm, der sich ohne einen so gelegenen Beistand kaum mehr ein paar Sekunden über dem Wasser hätte halten können. Dann schwamm er ganz ruhig neben dem Kapitän her, ohne sich weiter zu bemühen.

Das Boot war bald niedergelassen, und in wenigen Minuten trafen alle drei wohlbehalten wieder an Bord an. Der Kapitän dankte Newton für seinen Beistand und erkannte gegen den ersten Lieutenant seinen Fehler an. Offiziere und Matrosen behandelten jetzt unsern Helden mit noch größerer Achtung, und die Mannschaft erklärte, der Kapitän sei ein prächtiges Kerlchen, obgleich es ihm an der »Erziehung fehle«.

Während der übrigen Fahrt trug sich nichts Bemerkenswerthes zu. Das Schiff langte zu Plymouth an und Newton verabschiedete sich von seinem freundlichen Schiffsgefährten, wobei ihm Kapitän Carrington seinen ganzen Einfluß zusicherte, wofern er ihm mit demselben dienen könne.

Mit klopfendem Herzen stieg Newton von dem Außenplatze der Postkutsche herunter, die ihn nach Liverpool gebracht hatte, und eilte nach dem Gäßchen, in welchem sein Vater zur Zeit seiner Abreise gewohnt hatte. Nachmittags vier Uhr langte er an der Thüre des Hauses an und erkannte mit Entzücken durch das Ladenfenster seinen Vater, der an seiner Werkbank saß; – aber seine Freude erlitt einen gewaltigen Stoß, als er dessen abgezehrtes Gesicht bemerkte. Der alte Mann schien in tiefe Gedanken versenkt zu sein; er hatte seine Wange auf die Hand aufgestützt und die Augen auf den Werktisch geheftet, an welchem vordem der nun fehlende Schraubstock befestigt gewesen war.

Die Thüre war halb offen und Newton trat mit seinem Reisesack ein. Das hiedurch verursachte Geräusch war jedoch nicht hinreichend, Nicholas zu wecken, der fortwährend in derselben Haltung verblieb.

Ein einziger Blick belehrte Newton, daß der Laden aller Geräthschaften baar war; sogar die mit Glasdeckeln versehenen Fächer, in welchen sich die Brillen und so weiter befunden hatten, waren verschwunden. Allenthalben dasselbe Gepräge, das sich auf dem Gesichte seines Vaters ausdrückte – nämlich Hunger und Elend.

»Mein theuerster Vater,« rief Newton, der sich nicht mehr länger zu halten vermochte.

»Wie? – Was?« rief Nicholas bei der Stimme auffahrend, aber sich nicht umwendend. »Pah! Unsinn! er ist todt,« fuhr er im Selbstgespräch fort, indem er seine frühere Lage wieder annahm.

»Mein theuerster Vater, ich bin nicht todt! – Seht Euch um – es ist Newton – lebendig und wohl.«

»Newton?« versetzte der alte Mann, sich von seinem Stuhle erhebend und nach dem Ladentische wankend, der zwischen ihnen stand. Er stützte seine beiden Hände darauf und blickte seinem Sohn in's Gesicht. »Ja, wahrhaftig – es ist Newton! Mein lieber, theuerster Knabe – so bist du also nicht todt?«

»Nein, gewiß nicht, Vater; ich bin Gott sei Dank, gesund und wohl.«

»Gott sei Dank!« sagte Nicholas, sein Gesicht auf den Ladentisch niedersenkend und in Thränen ausbrechend.

Newton eilte auf die andere Seite hinüber, wo sein Vater stand und umarmte ihn. Eine Weile hielten sie sich fest umschlungen, bis endlich Nicholas, der seine Fassung wieder gewonnen hatte, Newton ansah und fragte.

»Bist du hungrig, mein lieber Sohn?«

»Ja, wohl bin ich's,« versetzte Newton lächelnd; obgleich ihm die Thränen über die Wangen strömten, »denn ich habe seit dem Frühstück nichts zu mir genommen.«

»Und ich nichts seit zwei Tagen,« entgegnete Nicholas, sich in augenscheinlicher Erschöpfung an die Wand zurücklehnend.

»Guter Gott! ist's möglich!« tief Newton. »Wo kann ich etwas bereits Gekochtes kaufen?«

»In der Garküche um die Ecke; es ist ein hübsches Stück gesottenen Ochsenfleisches dort – ich sah es gestern. Für ein Stückchen davon bot ich meine Verbesserung in der doppelten Hemmung an, aber man wollte mir nicht trauen – nicht einmal gegen dies!«

Newton eilte fort und kehrte nach kurzer Frist mit dem fraglichen Ochsenfleisch, etwas Brod und einem Krug Porter, nebst zwei Tellern und Bestecken zurück, welch letztere man ihm gegen Erlegung des Werths geborgt hatte. Er breitete Alles auf dem Ladentische aus, worauf der alte Mann, ohne ein Wort zu sagen, sein Mahl begann. Das Ochsenfleisch verschwand – das Brod desgleichen – der Porterkrug wurde an die Lippen gesetzt und war in einem Augenblick leer!

»Habe nie ein besseres Mahl gehalten, Newton,« bemerkte Nicholas; »wenn es nur ein Bischen mehr gewesen wäre!«

Newton, der bisher nur als Zuschauer dagestanden hatte, ging augenblicklich fort, um weiteren Vorrath herbeizuschaffen, und unterstützte nach seiner Rückkehr den alten Mann in dem Werke der Zerstörung.

»Newton,« sagte Nicholas, der für ein paar Augenblicke in seinem Geschäfte inne hielt, »ich habe eben gedacht – daß – ich möchte wohl noch ein Stückchen von diesem Fleische – und Newton, wie ich vorhin bemerkte – willst du nicht so gut sein, mir den Krug herüber zu reichen?«


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