Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXXV.

Die Verteidigung Londons.


Auf den Befehl des Kriegsministers wurden nunmehr die englischen Stellungen bei Baldock, Royston und Saffron Walden eiligst geräumt, und die Truppen von dort bis in den nördlichen Abschnitt der Londoner Verteidigungslinie zurückgenommen, an der man die letzten zehn Tage hindurch auf das eifrigste gearbeitet hatte.

Diese Feldbefestigungen waren nur durch den willigen Beistand der Bürger Londons und seiner Vorstädte fertig zu stellen gewesen; sie erstreckten sich von Tilbury im Osten bis nach Bushey im Westen und bestanden aus mehr oder weniger zusammenhängenden Schützengräben für Infanterie, die im allgemeinen schon bestehenden Wällen und Hecken folgten; wo es nötig war, offenes Gelände zu kreuzen, waren sie tief ausgehoben und verliefen in Windungen, nach der von den Buren im Südafrikanischen Kriege adoptierten Art, so daß es schwierig, wenn nicht unmöglich sein würde, sie der Länge nach zu bestreiten.

Man hatte auch bombensichere Deckungen für die ersten Reserven errichtet und die Vorterrains rücksichtslos von Häusern, Scheunen, Bäumen, Hecken und allem, was einem vorrückenden Feinde Deckung gewähren konnte, gesäubert. Vor den Linien waren, soweit die Zeit dazu ausgereicht hatte, alle möglichen Hindernisse angebracht worden, Verhaue, Wolfsgruben, Drahthindernisse und kleine Bodenminen. An den wichtigeren Punkten der fünfzig Meilen langen Linie waren Schanzen und Redouten für Infanterie und Artillerie erbaut, letztere meist mit 4.7- oder sogar 6- und 7.5-zölligen Geschützen aus Woolwich, Chatham, Portsmouth und Davenport armiert.

Die Errichtung dieser verschanzten Linien war ein riesiges Unternehmen, das aber in gewissem Grade durch die zunehmende Teuerung der Lebensmittel erleichtert worden war, da kein kräftiger Mann Freirationen erhielt, der sich nicht zur Schanzarbeit meldete. Selbst die unbeschäftigten Handwerker mußten mit zugreifen. Sämtliche Schanzarbeiter wurden den Kriegsartikeln unterstellt, die noch durch Spezialverordnung verschärft wurden, so daß die Bummler bald die Bekanntschaft des Generalprofossen und seiner Handlanger machten, eine Bekanntschaft, die ihre verborgenen Talente zur Arbeit in höchst überraschender Weise entwickelte. Übrigens gab es, wie bereits oben angedeutet, auch freiwillige Arbeiter genug, die in dieser Zeit der Gefahr ihre Dienste anboten.

Um eine Linie von so ungeheurer Ausdehnung besetzen zu können, war man zu einer Art von Massenaufgebot geschritten. Tausende stellten sich, ließen sich in die Listen eintragen und bewaffnen. Die Schwierigkeit war nur, genug Waffen und Munition für sie zu finden, geschweige denn Uniformen und sonstige Ausrüstungsgegenstände. Das Verfahren der Deutschen gegen waffentragende Zivilisten, wie es in von Kronhelms Proklamationen angekündigt worden war, schloß die Verwendung von Zivilisten anstatt Soldaten aus, und man muß zugeben, daß dies Verfahren eigentlich selbstverständlich war und durch alle Kriegsgesetze und -gebräuche gerechtfertigt wurde. So blieb jetzt nichts anderes übrig, als alle Leute, die für die Front bestimmt waren, auf die eine oder andere Weise zu uniformieren. Man griff zu den verschiedensten Methoden. Den Soldaten der regulären Armee kaufte man die alten zweiten Garnituren ab und kleidete damit die Reservisten und auch die Rekruten der zugeteilten Freiwilligenbataillone ein, welch letztere aufgefordert worden waren, alles, was immer sich melden wollte, in ihre Listen einzutragen.

Außer jenem glänzenden Korps, dem »Bunde der Grenzer«, waren eine Menge neuer bewaffneter Organisationen ins Leben getreten, die die phantastischsten Namen trugen, wie die Whitechapler »Todesbrüder«, die Kensingtoner »Kuhjungen«, die Bayswaterer »Helden« und die Southwarker »Skalpjäger«. In wenigen Tagen war der vorhandene Vorrat von Khaki und blauer Serge verbraucht, obwohl alle, die schon im Besitz von Anzügen aus letzterem Material waren, angewiesen wurden, sie durch Hinzufügung von aufrechtstehenden Kragen und von Aufschlägen in den Farben ihrer Regimenter und Truppenteile zu Uniformen umarbeiten zu lassen.

Die wenigen Tage, die die Leute auf ihre Uniformen zu warten hatten, wurden für das notdürftigste Einexerzieren auf den freien Plätzen der Hauptstadt verwandt. Sobald sie aber eingekleidet waren, wurden sie nach dem Teil der Schanzlinie abgesandt, der ihrem Truppenteil zugewiesen war, und hier in den Pausen der Schanzarbeiten schleunigst und so gut es ging im Scheibenschießen unterwiesen.

Viel schlimmer stand es mit der Gewinnung der nötigen Offiziere und Unteroffiziere. Zwar meldeten sich überall die Verabschiedeten, aber das Angebot erreichte bei weitem nicht die Nachfrage, und sie waren auch meistenteils in bezug auf Kenntnis der modernen Waffen und der modernen Kriegführung sehr veraltet. Indessen jeder von ihnen, mit äußerst geringen Ausnahmen, tat, was in seinen Kräften stand, und gegen den 13. oder 14. September waren die Verschanzungen nicht nur vollständig fertig, sondern hatten auch eine Besatzung von ungefähr 150 000 mutigen und patriotischen Männern – freilich, obwohl sie Gewehre trugen, waren sie, was ihre Kriegstüchtigkeit anlangte, wenig mehr als eine Armee pour rire ...

Am 15. September wurde die östliche Sektion der Verschanzungen durch die Ankunft der Trümmer des 1. und 5. Armeekorps verstärkt, die bei Chelmsford so gründlich geschlagen worden waren, aber jetzt ohne Verzug reorganisiert und auf die einzelnen Positionen verteilt wurden, damit sie auf die ungare Masse von improvisierten Verteidigern als Sauerteig wirkten.

Es war nunmehr alles geschehen, was in Menschenkraft lag. Dennoch gab es unter den Führern dieser zusammengerafften Heeresmacht – der letzten, die England besaß! – wohl nur wenige, die den nächsten Tagen anders als mit beklommenem Herzen und mit jener Resignation entgegenblicken konnten, die sich sagt: Den letzten Blutstropfen, den letzten Atemzug gebe ich her – aber helfen wird es nicht ...

Und Tag für Tag trafen fortan Unglücksbotschaften an der Verteidigungslinie und in der Riesenstadt dahinter ein, zuerst noch mit unsern eigenen Truppen, die in blutigen Rückzugsgefechten sich der nachdrängenden Übermacht des Feindes zu erwehren gehabt hatten, dann mit eben diesem Feinde selbst, der mit der bewunderungsfähigen Marschtüchtigkeit, die die deutschen Heere von jeher ausgezeichnet hat, alle seine Truppen konzentrisch gegen sein letztes großes Ziel hatte vorgehen lassen, und dessen Nähe sich nun den entsetzten Londonern durch das dumpfe Krachen des schweren Geschützes vor den Schanzen im Norden der Stadt ankündigte.

Die Woche, die jetzt anbrach, war die furchtbarste, die London seit den Tagen der angelsächsischen Invasion erlebt hatte. Tag und Nacht hörte das mächtige Getöse nicht auf, das am gewaltigsten von Epping her dröhnte; Tag und Nacht rissen die Verwundetentransporte nicht ab, die mühselig und langsam sich von der Front nach den in der Stadt errichteten Lazaretten durcharbeiteten mit ihrer jammervoll stöhnenden Fracht verstümmelter, blutender Menschenleiber; und Tag und Nacht vernahmen die angstvoll wartenden Bewohner nichts andres als das stereotype: mit Heldenmut gekämpft, aber umsonst, gegen die Übermacht des Feindes richten unsre ungeübten Leute nichts aus ...

Schon am ersten Tage der Berennung, dem 16. September, war es klar geworden, daß die Deutschen durch Spione genau über die Lage unserer Verteidigungswerke unterrichtet sein mußten. Sie hatten sofort herausgefunden, daß der vorspringende Winkel bei Epping deren verwundbarster Punkt war, da er von Norden, Nordosten und Nordwesten zugleich angegriffen werden konnte; einmal hier durchgebrochen, würde der Feind sofort im Rücken der übrigen Verteidigungswerke stehen, die dann ganz nutzlos sein und von den Unsrigen würden geräumt werden müssen.

Hier bei Epping also setzte der Feind seine ganze Kraft ein; hier aber verteidigten die Unsrigen sich mit einer Zähigkeit und Selbstaufopferung, die in der Kriegsgeschichte ihresgleichen nicht findet. Sie trotzten der furchtbaren Beschießung aus Hunderten von Feuerschlünden, die ihnen die festesten Deckungen, die kunstreichsten Schanzen allmählich zerfetzte und dem Boden gleichmachte; sie vergossen ihr Blut ebenso verschwenderisch, wie der durch nichts zu entmutigende, furchtbar entschlossene Angreifer, der jetzt alle seine Armeekorps konzentriert hatte und Regiment auf Regiment gegen die englischen Linien warf, in der kalten Berechnung, daß die Stunde kommen müsse, wo das letzte Hindernis vor ihnen zusammensinke, das letzte gelichtete Häuflein der Verteidiger erschöpft und verzweifelnd auf die dann wehrlose Stadt zurückweiche ...

Diese Stunde kam. Die Verteidigungslinie wurde endlich bei Epping durchbrochen, und am Nachmittage des 20. September setzte der Feind sich unter furchtbaren Verlusten in den Besitz von Waltham Abbey, – damit aber stand er bereits vor den Toren Londons selbst! ...

Alle Dörfer und Städtchen unmittelbar hinter der Verteidigungslinie brannten lichterloh, der Himmel war blutrot erleuchtet, und drunten in der Ferne, im Süden und Westen, konnten die Sieger die Riesenstadt liegen sehen, die gleich einem grauen, sich spreizenden Polypen ihre Fangarme gegen Norden ausstreckte, jeder Hügel, jede Bodenschwelle starrend von Turmspitzen und hohen Essen.

Über der ganzen Landschaft, diesem Urbild von Anmut und Fruchtbarkeit, brütete ein unheimliches Schweigen, das nur noch bisweilen durch dumpfen Kanonendonner im Norden unterbrochen ward.

Lange Schwaden von Qualm und Nebel legten sich vor die düstere Glut des Sonnenunterganges, und auf der ganzen weiten Strecke zu Füßen des siegreichen Feindes blitzten die Lichter auf, sich widerspiegelnd in all den Kanälen und Flußarmen.

Am 21. September, vom Tagesgrauen an, richtete der Feind ein heftiges Feuer auf die bewaldete Insel nördlich von Waltham Abbey, die vom Leafluß und mehreren Altwassern gebildet wird, und die voll von englischen Truppen war; infolge dieses konzentrierten Feuers war auch hier ihres Bleibens nicht länger, sie mußten über den Fluß zurückgehen. Die Deutschen begannen sofort den Brückenschlag, setzten über und griffen die jenseits liegende Redoute an, die sie mit Sturm nahmen.

Dadurch wurde es dem Feinde möglich, wiederum einen Teil der englischen Linie im Rücken zu fassen; die Unsrigen mußten ihn räumen, und um zehn Uhr besetzten die Deutschen auch Cheshunt. Sie schlugen noch einige Brücken über den Lea-Fluß zwischen Waltham und Chingford und begannen ohne Verzug den Übergang.

Von nun an gab es für uns keine günstigen Artilleriestellungen mehr; wir hatten uns bisher auf das in den Schanzen postierte schwere Geschütz verlassen, aber das war uns jetzt von keinem Nutzen mehr, und wir litten stark unter dem Feuer der feindlichen Batterien auf dem Ostufer des Flusses.

Es ward ein Tag voll heißen Kämpfens. Von Leitung der Einzelbewegungen war in diesem Wirrsal verstreuter Gebäude und Häusergruppen keine Rede; von ihnen aus machten die Unsrigen dem Feinde jeden Fußbreit Bodens auf das hartnäckigste streitig. Aber sie hatten eine ununterbrochene Reihe von Niederlagen hinter sich; die Deutschen dagegen fochten mit Zuversicht und mit dem Elan, den eine ebenso ununterbrochene Reihe von Siegen verleiht.

Überdies bestrich uns das furchtbare Feuer der feindlichen Artillerie zu wirksam, als daß unsere Gegenwehr von langer Dauer hätte sein können. Der Feind bemächtigte sich bald der Ortschaften Edmonton, Enfield Wash und Waltham Croß. Hauptsächlich die Einnahme von Enfield selber, das auf einer steilen Höhe liegt, und wo wir alles versammelt hatten, was wir von Geschützen irgend aufbringen konnten, kam dem Feinde aber noch teuer genug zu stehn. Die Straßen dieses Vororts trieften buchstäblich von Blut, und er brannte fast ganz nieder, glücklicherweise mit Ausnahme des alten Schlosses der Königin Elisabeth und der riesigen Zeder, die es beschattet.

Die Unsrigen zogen sich auf eine zweite, hastig vorbereitete Stellung zurück, und die Deutschen rückten nicht weiter vor, sondern begnügten sich einstweilen mit dem gewonnenen Terrain, formierten ihre stark gelichteten Truppenteile neu und bereiteten sich auf einen etwaigen Gegenangriff vor, indem sie sich am anderen Ende des Enfielder Höhenzuges eingruben und verbarrikadierten.

Gegen Abend suchten die Deutschen die Stellung der Unsrigen auf einem dem Enfielder gegenüberliegenden Höhenzuge zu rekognoszieren, die durch Bäume und dichtes Buschwerk vollständig gegen jede Einsicht gesichert war. Falls der Feind vorhatte, sie am nächsten Tage zu erstürmen, so mußte der lange, sanfte Abhang, den er hinan mußte, ihm jedenfalls ungeheuer viel Blut kosten.


 << zurück weiter >>