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II.

Die Deutschen in England gelandet!


Anderthalb Stunden blieb Fergusson auf dem Telephonamt, ängstlich auf weitere Bestätigung wartend. Es kamen auch wilde, wirre Geschichten genug durch die Drähte herein, wie die Leute in panischem Schrecken vor den feindlichen Vorposten landeinwärts flohen; so fuhr er nach der »Weekly Dispatch« zurück und traf die Vorkehrungen zu schleunigster Ausgabe eines Extrablattes, das sicherlich die verblüffendsten Neuigkeiten enthielt, die jemals London in Aufregung versetzt hatten!

Dennoch war er gewissenhaft genug, nichts in die Presse zu geben, ehe der Autler von Ipswich, der Augenzeuge, der tatsächlich das Abschneiden der Drähte gesehen hatte, angelangt sein würde. Er malte sich unterdessen die Wirkung aus, die sein Extrablatt auf die Welt ausüben müßte, und durchmaß in unbeschreiblicher Spannung sein Zimmer.

Den Konkurrenzblättern hatten die Nachrichten noch nicht zugehen können, denn mit journalistischem Vorbedacht hatte er seine Maßregeln so gewählt, daß die betäubende Wahrheit bis jetzt nicht hatte durchsickern können, weder von den Eisenbahnendstationen, noch vom Telephonamt aus. Seine einzige Furcht war, daß aus irgendeinem Dorfe oder Landstädtchen näher an der Hauptstadt, das noch in Verbindung mit dem Zentralamt wäre, ein Lokalkorrespondent telegraphieren könnte.

Furchtbar langsam verstrich die Zeit; jeder Augenblick steigerte Fergussons Erregung. Er hatte den einen Reporter, der noch auf Dienst war, nach dem Hause des Obersten Sir James Taylor, des Permanenten Untersekretärs im Kriegsministerium, gesandt und blickte nun aus dem offenen Fenster die Straße hinauf und herab, ob noch immer das Auto nicht eintreffen wollte. Aber alles war ruhig.

In diesem Mittelpunkte Londons – der Nabe der Welt – herrschte nach jenem fieberhaften Herzklopfen, nach all dem geschäftigen Getümmel, das sechs Tage in der Woche keinen Stillstand kennt, die ersehnte, willkommene Ruhe und Muße. Big-Ben hatte gerade acht Uhr geschlagen; die Straße erglänzte in warmem Sonnenschein und war völlig leer, bis auf ein paar Motoromnibusse und einige Gruppen hell aufgeputzter Sonntagsausflügler.

Plötzlich ertönte das Sausen eines Autos: es kam aus der Richtung des Strand und hielt vor der Expedition an. Das schöne Fahrzeug, ein Sechszylinder »Napier«, war grau vom Kot der Landwege, und auch der Autler selbst, ein Mann mit hagerem Gesicht, war bis über die Schutzbrille von Schmutzspritzern bedeckt.

Fergusson stürzte hinaus, ihm entgegen, und ein paar Augenblicke später waren sie beide oben im ersten Stock; geschwind brachte der Redakteur den Bericht des Autlers zu Papier, der sich aber sehr wenig unterschied von dem, den er bereits telephonisch erhalten hatte.

Dann, als Big-Ben halb schlug, erwachten auf einmal die Echos des halbverödeten Strand unter den lauten, gellenden Stimmen der Zeitungsjungen: »Weekly Dispatch, Extrablatt! Die Deutschen in Suffolk! Schreckliche Panik! Extraaaablatt! Weekly Dispatch, Weekly Dispatch, Extraablaatt!«

Sobald das Blatt in die Presse gewandert war, hatte Fergusson den Autler, der Horton hieß und in Richmond wohnte, aufgefordert, mit ihm nach dem Kriegsministerium zu fahren und Bericht zu erstatten. Beide bestiegen das Auto und hielten ein paar Momente später vor dem neuen Kriegsministerium in Whitehall.

»Ich möchte sofort einen der höheren Beamten sprechen!« tief Fergusson hastig der Schildwache zu, als er absprang.

»Läuten Sie dort am Seitenportal rechter Hand nach dem Kastellan,« antwortete der Mann und schritt weiter.

»Kastellan!« wiederholte bitteren Tones der aufgeregte Redakteur. »Und England überfallen durch die Deutschen! ...«

Er stürzte nach der angegebenen Tür und läutete. Zuerst ohne Erfolg. Dann hörte man etwas wie langsames Aufriegeln, die Tür ging auf, und ein großer, ältlicher Mann in Hausschuhen, der nach einem ausgedienten Unteroffizier aussah, guckte heraus.

»Ich muß sofort jemanden sprechen!« rief der Journalist aus. »Es ist kein Augenblick zu verlieren! Was für ständige Beamte sind hier?«

»Es ist niemand hier, Sir,« antwortete der Mann, einigermaßen erstaunt über das Verlangen. »Wissen Sie nicht, daß Sonntagmorgen ist?«

»Natürlich weiß ich's, aber ich muß jemanden sprechen! – Wer ist hier?«

»Bis morgen früh niemand; kommen Sie dann.«

Der alte Unteroffizier war schon daran, die Türe wieder zu schließen, als der Journalist weiter fragte: »Wo ist der Generalsekretär?«

»Wie soll ich's wissen? Vielleicht auf 'm Wasser, das Wetter ist ja gut –«

»Schön, aber wo wohnt er?«

»Bisweilen hier – bisweilen in seinem Apartement in Abury-Street.« Der Mann nannte die Nummer. »Kommen Sie lieber morgen früh, Sir, so gegen elf. Dann sind Sie sicher, daß einer da ist.«

» Morgen früh!« rief der andere. »Morgen früh! Mann, Sie wissen nicht, was Sie sagen! Morgen früh ist alles zu spät – vielleicht sogar schon jetzt: Die Deutschen sind gelandet!« ...

»O wirklich?« fragte der Kastellan und sah die beiden argwöhnisch an. »Ganz gewiß, da werden unsere Herren sich freuen, wenn sie das hören – morgen früh! ...«

»Aber haben Sie kein Telephon, keinen Privattelegraphen oder dergleichen hier, daß ich mich mit den Behörden verbinden kann? Können Sie nicht den Staatssekretär, den Permanenten Sekretär oder sonst jemanden anklingeln?«

Der Kastellan zögerte einen Augenblick, seinen ungläubigen Blick auf die bleichen, erregten Gesichter der beiden Männer geheftet.

»Na, warten Sie eine Minute, ich will sehen.« Damit verschwand er in einem langen, höhlenähnlichen Gange.

Nach ein paar Augenblicken kam er wieder und brachte den Schutzmann mit, der in dem Gebäude zu patrouillieren hatte.

Der Polizist musterte die Fremden von Kopf bis zu Fuß und fragte: »Was ist das für 'ne wunderliche Geschichte? Die Deutschen in England gelandet – eh? Scheint wirklich das Allerneueste zu sein!«

»Hören Sie denn nicht, was die Zeitungsjungen ausschreien?« rief der Autler aus.

»Hm – Na ja, Sie sind nicht der erste, wissen Sie, der mit einer Schreckgeschichte hier gewesen ist. Wenn ich Sie wäre, würde ich bis morgen warten,« und er warf einen bezeichnenden Blick auf den Kastellan.

»Bis morgen wart' ich nicht!« schrie Fergusson. »Das Land ist in Gefahr, und Sie weigern sich, mir Beistand zu leisten – auf Ihre eigne Verantwortung, verstehen Sie?«

»Schon gut, Verehrtester,« erwiderte der Polizist und steckte nachlässig seine Daumen in die Säbelkoppel. »Fahren Sie lieber nach Hause und sprechen Sie morgen früh wieder vor.«

»So also verliedert man die Sicherheit des Landes!« rief bitter der Autler und wandte sich ab. »Alle Welt fort, und dies ganze große Gebäude, das nur errichtet ist, um dem Publikum Sand in die Augen zu streuen, wie es scheint, ist leer und seine Maschinerie nutzlos! Was wird England sagen, wenn es die Wahrheit zu hören bekommt? ...«

Als sie voll Ekels aus dem Portal nach dem Auto zurückgingen, sprang in atemloser Hast ein Mann aus einem Hansom. Es war der Reporter, den Fergusson nach Sir James Taylors Haus in Cleveland-Square, Hyde Park, abgeschickt hatte.

»Die Dienerschaft meinte, Sir James hätte die Nacht bei seinem Bruder oben in Hampstead zugebracht,« rief er aus. »Ich war dort, hörte aber, daß er über den Sonntag nach Chilham Hall gegangen sei, bei Buckden –«

»Buckden? Das ist an der Great-North-Eisenbahn!« schrie Horton. »Gehen wir auf der Stelle und suchen ihn auf! Sechzig Meilen von London – Wir können in knapp zwei Stunden dort sein!«

Horton wischte den getrockneten Schmutz von der Schutzbrille und stülpte sie vor seine halbgeschlossenen Augen. Kurz darauf sausten die beiden nordwärts, in der Richtung auf Finchley, davon, ohne auf die Zeichen der Schutzleute, daß sie halten sollten, zu achten.

Sie hatten in London Alarm geschlagen, und die »Weckly-Dispatch« verbreitete die erstaunliche Kunde überall hin – aber die Leute lasen wohl gierig, gafften einen Augenblick und lächelten dann in absoluter Ungläubigkeit. Nun waren die beiden Männer auf dem Wege, die entsetzliche Wahrheit einem der Häupter jener komplizierten Maschinerie unwirksamer Verteidigungsvorkehrungen, die wir so stolz unsere Armee benennen, zu enthüllen ...

Bis zum Platzen voll von ihrer Schreckensnachricht, beugten Sie ihre Köpfe vor dem Winde und flogen durch Barnet und Hatfield, fuhren langsamer durch die enge Straße von Hitchin, dann wieder mit voller Kraft die breite Landstraße entlang, durch Biggleswade, Tempsford und Eaton Socon, bis Horton in Buckden anhielt, um sich bei einem Bauernknecht nach Chilham Hall zu erkundigen.

»Dort, links hinauf, Sir. So eine kleine Meile Huntingdoner Weges,« war die Antwort.

Wieder sausten sie davon und bogen ein paar Minuten später in das hübsche Gatter von Chilham Park ein, flogen die große Ulmenallee entlang und fuhren an der Haupttüre des alten Landsitzes, eines zierlichen, vielgiebligen alten Gebäudes aus grauem Stein, vor.

»Sir James Taylor zu Hause?« brüllte Fergusson einem Manne in Livree zu, der die Tür öffnete.

»Er ist mit Seiner Lordschaft und den Forstaufsehern durch die Homefarm gegangen,« war die Antwort.

»Dann bringen Sie mich sofort zu ihm! Ich hab' keine Sekunde zu verlieren! Ich muß ihn augenblicklich sehen!«

Daraufhin führte der Diener die zwei durch den Park und mehrere Felder an den Rand eines kleinen Gehölzes, wo zwei ältliche Männer mit ein paar Forstaufsehern und einigen Hunden dahinschritten.

»Der große Herr ist Sir James, der andere Seine Lordschaft,« erklärte der Diener. Nach wenigen eiligen Sprüngen stand der Journalist vor dem Permanenten Untersekretär und überbrachte ihm seine Schreckenskunde: England überfallen – die Deutschen heimlich an der Ostküste gelandet! ...

Sir James und sein Gastfreund standen sprachlos. Gleich den anderen hielten sie den bleichen, bärtigen Redakteur zuerst für einen Verrückten, aber als Horton in Kürze seinen Bericht wiederholte, sahen sie ein: Was immer wirklich passiert sein mochte, diesen beiden war es todesernst mit ihrer Meldung ...

»Es kann aber nicht wahr sein!« rief Sir James aus. »Wir hätten doch davon hören müssen, die Küstenwächter hätten auf der Stelle telephoniert, und überhaupt, wo bliebe denn unsere Flotte?«

»Die Deutschen haben ihre Pläne offenbar sehr schlau angelegt: Die Spione, die sie bereits auf englischem Boden hatten, haben gestern nacht zu einer verabredeten Stunde die Drähte durchschnitten,« setzte Fergusson auseinander. »Sie schossen auf diesen Herrn, um zu verhüten, daß er Alarm schlüge. Sämtliche Eisenbahnen nach London sind entweder unterbrochen oder in Feindes Hand, und Flotte hin, Flotte her, eines ist klar: die Ostküste ist vollständig in der Macht der Deutschen!«

Gastfreund und Gast tauschten düstere Blicke aus.

»Wenn das, was Sie sagen, die Wahrheit ist,« rief Sir James aus, »so ist heute der schwärzeste Tag, den England je gekannt hat!«

»Ja, dank der deutschfreundlichen Politik der Regierung und den falschen Versicherungen der Blauwasserschule ... Sie hätten auf Lord Roberts hören sollen!« sagte bissig Seine Lordschaft. »Ich nehme an, Taylor, Sie machen sich sofort auf, um Erkundigungen einzuziehen?«

»Natürlich,« entgegnete der Permanente Sekretär. Eine Viertelstunde später fuhr er im Fonds von Hortons Auto nach London zurück.

Konnte die Geschichte des Journalisten wahr sein? ... Wie Sir James dasaß, sein Haupt gegen den Wind gebeugt, der Schmutz ihm ins Gesicht spritzend, erinnerte er sich zu gut der wiederholten Warnungen der letzten fünf Jahre, ernsthafter Warnungen von Leuten, die unsere Mängel kannten, aber auf die niemand hatte achten wollen! Regierung und Publikum waren apathisch geblieben und hatten die Idee einer Gefahr nur verhöhnt; das ganze Land hatte, wie der Vogel Strauß, seinen Kopf in den Sand gesteckt und den festländischen Nationen gestattet, uns in allem zu überflügeln, in Handel und Industrie wie in ihren Rüstungen.

Die Personen, die für die Landesverteidigung verantwortlich waren, hatten die Möglichkeit einer Invasion mit überlegenem Lächeln von sich gewiesen und in aller Seelenruhe die Marine reduziert, das Heer in seiner selbstzufriedenen Mangelhaftigkeit belassen.

Wenn Deutschland jetzt den Schlag wirklich geführt hatte? Wenn es drei oder vier von seinen dreiundzwanzig Armeekorps zu einem Stoß in das Herz des Britischen Reiches riskiert hatte? Was dann? Ja, was dann? ...

Während das Auto durch die Regent-Street nach Pall-Mall und auf Whitehall zuflog, konnte Sir James überall die Leute gruppenweise zusammenstehen sehen, die von der erstaunlichen, jetzt durch Extrablätter sämtlicher Sonntagszeitungen verbreiteten Neuigkeit sprachen. In ihrer Aufregung und Gier nach den jüngsten Berichten stürzten sich die Londoner auf die Jungen, die mit frischen Stößen aus den Pressen der Fleet-Street kamen, und rissen ihnen ohne weiteres die Bündel fort.

Rund um das Kriegsministerium und um die Admiralität lärmten die wachsenden Haufen nach der Wahrheit. – War es die Wahrheit oder nur ein Wippchen? Halb London war noch ungläubig. Dennoch ergossen sich die Tausende aus der ganzen äußeren in die innere Stadt, um Gewißheit zu erlangen, und nur mit der größten Schwierigkeit hielt die Polizei die Ordnung aufrecht.

Auf Trafalgar-Square, wo die Fontänen so ruhig in der Herbstsonne plätscherten, stieg ein pudelhaariger Mann auf den Rücken eines der Löwen und suchte unter heftigen Gebärden und in den wildesten Ausdrücken die Menschenmenge gegen die Regierung aufzuhetzen. Aber mitten in seiner leidenschaftlichen Anklagerede stieß die Polizei den Anarchisten von seiner improvisierten Rednerbühne herunter.

Es war halb drei Uhr nachmittags. Obwohl bereits seit zehn Stunden die Deutschen auf englischem Boden standen, war London immer noch über den Ort der Landung in Unkunde und wußte sich nicht zu raten noch zu helfen. Wilde Gerüchte aller Art waren im Umlauf durch die ganze Hauptstadt, von Hampstead bis Tooting, von Barking nach Hounslow, von Willesden nach Woolwich. – Die Deutschen in England! ...

Wo bleibt unsere Marine? fragte jedermann. Wo unsere »Seeherrschaft«, von der die Zeitungen solches Gerede gemacht haben? Besäßen wir sie wirklich, dann wäre die Landung ein Ding der Unmöglichkeit gewesen! ... Wo bleibt unsere Armee – die tapfere britische Armee, die in hundert Feldzügen siegreich gefochten, und deren absolute und sofortige Marschbereitschaft die Regierung so oft rühmend hervorgehoben hat? ... Wann wird sie sich dem eingefallenen Feinde entgegenstellen und ihn in die See zurückwerfen?

Wann? ...

Und der wilde, brüllende Haufe sah hinauf zu den vielen Fenstern der Admiralität und des Kriegsministeriums, nicht wissend, daß diese beiden gewaltigen Gebäude nur erschreckte Kastellane und eine doppelte Wache von Polizisten in sich bargen ...

Hatte ein feindlicher Einfall wirklich stattgefunden? Überrumpelten fremde Heersäulen Norfolk und Suffolk? Krümmten wir uns tatsächlich hilflos unter der eisernen Ferse des Feindes? ...

Das war unmöglich – unglaublich, England lebte ja in freundschaftlichen Beziehungen mit Deutschland! ...

Ja, aber trotz alledem – es war möglich, nein, wirklich: der furchtbare Schlag war gefallen, – London aber, oder vielmehr der Teil Londons, der nicht sein Sonntagsnachmittagsschläfchen in der gemütlichen Zurückgezogenheit der Vororte genoß, stand starr vor Erstaunen, atemlos, in ungläubiger Verwunderung ...


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