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Furcht und Schrecken überall!
Vom ersten Augenblick des Kriegsalarms an erkannte jedermann, wie vollständig unsere Wehrlosigkeit war.
Wenn man ihnen früher die Gefahr eines feindlichen Einfalls vorgestellt hatte, so waren die Leute gewohnt gewesen, sich auf die Behauptung zu verlassen, daß ein Feind, der jemals nach England hineinkäme, nie wieder herauskommen würde. Natürlich war das ein albernes Argument, denn sobald eine fremde Macht 100 000 Mann oder mehr an Land geworfen hätte, würde sie gar nicht das Bedürfnis haben, wieder herauszukommen! Einmal in England, würde das ganze Land in ihrer Macht sein! ... Das war Wort für Wort die eindringliche Erklärung des Admirals F. S. Mann im Mai 1905 gewesen. Überhaupt, man möge die Annalen der Weltgeschichte durchsuchen: niemals wird man finden, daß ein Krieg von einer Marine, und sei sie noch so gewaltig, entschieden worden ist! Und wenn es selbstverständlich ist, daß England eine gewaltige Marine besitzen muß, so nicht minder ein Landheer, und zwar ein zahlreiches und wohl ausgebildetes! ...
Die Erregung des Volkes, die Ausbrüche des Unwillens, die leidenschaftliche Verurteilung der Behörden waren nichts als Torheit, und jeder Nachdenkende mußte sofort erkennen, daß unsere hoffnungslose Wehrlosigkeit des Volkes eigne Schuld war. Wie oft hatte man ihm wiederholt, daß seit wenigstens fünfzig Jahren die Strategen des Kontinents zwar das ernste Risiko und die Kostspieligkeit einer Landung an unseren Küsten zugegeben, dennoch aber, ihren Finger auf London legend, bedeutungsvoll hinzugefügt hatten: »Wer nicht wagt, gewinnt nicht!« ... Und ferner, wie oft war dem englischen Volke auseinandergesetzt worden, daß die kriegerische Stärke eines Landes nicht so sehr auf der Zahl seiner Kanonen, Dampfer, Panzer, Torpedoboote, Eisenbahnen usw., als vielmehr auf dem Geschick und dem Talent der Leute beruhe, die mit diesen Dingen umgehen sollen. Mehr noch, eine Nation, deren Heer alle Männlichkeit, alle Wissenschaft und alles Genie des Landes umfaßt, besitzt augenscheinlich mehr Kraft, sowohl zur Offensive wie zur Defensive, als eine andre, deren Heer nach dem Freiwilligensystem rekrutiert wird und infolgedessen etwas von der Nation Verschiedenes darstellt.
Und hatte nicht Oberst Legard im Jahre 1901 mit dem größten Nachdruck und prophetischer Wahrheit dargelegt, daß ein an der Elbmündung versammeltes und auf Dampfern eingeschifftes Heer nach einer ungefährlichen Überfahrt von 24 Stunden an unseren Küsten sein würde, und zwar näher an London als an Aberdeen? ... Hatte man nicht bis zum Überdruß zu hören bekommen, daß es zwischen Yarmouth und der Themsemündung zahlreiche kleine Häfen gibt, die, wenn auch für große Schiffe nicht leicht zugänglich, doch für die Landung von Truppen und Vorräten aus Booten und kleinen Fahrzeugen sehr brauchbar sein und auch für den Vormarsch landeinwärts gute Basen abgeben würden? ...
Genau das aber war die jetzt von den Deutschen wirklich gewählte Taktik!
Der ganze Osten Englands war in drei kurzen Tagen in ihre Gewalt geraten.
Seit fünf Jahren, etwa seitdem des Kaisers Absicht bekannt worden war, hatte man in jeder deutschen Garnison die Invasion nach England beinahe täglich diskutiert. Das war sogar in England bekannt gewesen, sowohl bei den Behörden als auch beim großen Publikum. Dennoch war das letztere ungläubig geblieben, während das Kriegsministerium, wie stets, die Gefahr zu verkleinern gesucht hatte.
Es war Leutnant Baron von Edelsheim, vom deutschen Großen Generalstab, der 1901 in einer Broschüre schrieb: »Der deutsche Handel nimmt solche Dimensionen an, daß er für England eine wenigstens so große Gefahr darstellt, wie eine russische Invasion in Indien. Der Konflikt zwischen den britannischen Inseln und Deutschland ist also unabwendbar, wenn nicht unmittelbar bevorstehend; aber Englands Überlegenheit zur See ist heute noch so beträchtlich, daß sein Gegner schwerlich auf Erfolg rechnen kann, außer im Beginn der Operationen. Dieser Erfolg ist zu sichern durch Überlegenheit der Zahl, der Disziplin und der militärischen Erziehung, und diese Überlegenheit gehört den Landungstruppen, die Deutschland auf die englische Küste werfen wird.«
Selbst angesichts solcher offenen Drohungen hatten wir jahrelang die Politik der Untätigkeit verfolgt, die allein an dem augenblicklichen Unheil Englands schuld ist.
Die Folgen einer Invasion sind für jedes Land immer ernst gewesen; aber auf Großbritannien, wie seine Lage einmal ist, fiel der Schlag mit ganz besonderer überwältigender Schwere. Pessimisten erklärten bereits, daß bei der Beschränktheit der Ausdehnung und der Hilfsmittel unseres Landes von einem längeren Widerstande keine Rede sein könne ...
In Manchester, Liverpool und Birmingham, wo die öffentliche Meinung kräftiger und schärfer ist als in London, war man sich wohl bewußt, daß der ungeheure Betrag unseres angesammelten Kapitals dem Feinde selbst die schwersten eigenen Leistungen leicht machen werde. Das verwickelte und sehr zarte Netzwerk des Kredits, welches all die vielfachen Geschäftsunternehmungen des Landes überdeckt, war beim ersten Alarm an jenem unvergeßlichen Montagsmorgen in Schwanken geraten, und die Folge war ein plötzlicher und furchtbarer Zusammenbruch gewesen. Die Verwirrung und Besorgnis unter den arbeitenden Klassen, sowohl in London als in Lancashire, war schon furchtbar genug. Millionen unserer Arbeiterbevölkerung hängen für ihren täglichen Unterhalt von Handel und Industrie ab, deren Lebensprinzip ist, daß die Ordnung, das Vertrauen und der Kredit keine Störung erleiden. All dieses aber war in einer einzigen Stunde fortgeschwemmt worden, und England fand sich geschwächt, entmutigt und disorganisiert ...
Die Druckerpressen arbeiteten ohne Unterlaß, und Stunde um Stunde erschienen Berichte über die Ruhe und Promptheit, womit der Feind seine unbelästigte Landung in Goole, Grimsby, Yarmouth, Lowestoft, King's Lynn und auf dem Blackwater vollzog.
In der letzteren Gegend sollten einige britische Torpedobootzerstörer die Pläne der Deutschen hintertrieben und zwei deutsche Kriegsschiffe zum Sinken gebracht haben, – laut Meldung des Manchester Courier. Aber detaillierte Nachrichten darüber wollten nicht kommen.
In der Nachbarschaft von Maldon und desgleichen in der Nähe von Harleston an der Grenze von Suffolk hatten Scharmützel stattgefunden. Die Stadt Grimsby war durch Feuer halb zerstört worden, und Hull hatte gewaltigen Schaden erlitten. Wie es schien, hatte der Wind die Flammen von einem Holzplatz bis ans Alexandradock getragen, wo die aufgestapelten Waren und eine Menge wertvoller Fahrzeuge vom Feuer zerstört worden waren. Auch der Paragonbahnhof und -hotel waren in Flammen aufgegangen – wahrscheinlich durch die Einwohner selbst angezündet, um dadurch den deutschen Kommandierenden aus seinem Hauptquartier zu vertreiben.
Aus Newcastle, Gateshead und Tynemouth kamen entsetzliche Einzelheiten über das Bombardement und die furchtbaren Wirkungen der grauenhaften Petroleumbomben. Feuer und Zerstörung weit und breit!
Ein lebendiger Bericht des Manchester Couriers über das schreckliche Chaos in Newcastle gab die Zahl der durch die feindlichen Sprenggeschosse Getöteten und Verwundeten nach hunderten an.
Eine schwere Granate hatte die ganze Front des Stadthauses weggerissen; andere hatten die Kuppel über der Volksbibliothek durchschlagen, halb Grainger Street war niedergebrannt, hauptsächlich die linke Seite, und schwälte noch. Fast alle Gebäude am Kai waren in Trümmer geschossen. In der Pilgrim Street waren die Läden von Boyd einschließlich des Bibelhauses an der Ecke durch das feindliche Feuer zerstört worden; viele Läden in der Northumberland Street teilten dasselbe Schicksal. Der gotische Turm der St. Nikolauskathedrale stand nicht mehr, aber das Innere der Kirche war mit Verwundeten gefüllt, ebenso das neue Krankenhaus, das glücklicherweise keine Beschädigung erlitten hatte.
Eine Anzahl schöner Gebäude in Grey Street lag in Trümmern und Asche, die große Säulenhalle war ein Haufen zerschmetterter Blöcke, nur eine einzige Säule stand noch aufrecht; eine Granate, die in die neue Grainger-Markthalle fiel, hatte das Eisen- und Glasdach abgerissen und das ganze Gebäude in ein trauriges Gewirre von Eisenträgern und Mauerwerk verwandelt.
Ähnlich sah es auch in den anderen Städten aus, die der Beschießung ausgesetzt gewesen waren.
Ein Trupp Newcastler Freiwilligen hatte, wie es hieß, unerschrocken den Versuch gemacht, durch Zerstörung der High-Levelbrücke den Fluß zu sperren und den Feind zu hindern, daß er die Elswickwerke erreichte. Die todesverachtende kleine Truppe hatte bereits an zwei der hohen gemauerten Pfeiler, die die prachtvolle Brücke tragen, Dynamit angebracht, als eines der feindlichen Kanonenboote sie entdeckte und einfach mit Maschinengewehren abschoß. Ein paar Minuten später löste der Feind die Sprengpatronen ab und ließ sie in den Fluß fallen.
Aus Sheffield wurden die wildesten Schreckensszenen gemeldet, denn der Feind, obwohl noch nicht bis an die Stadt vorgerückt, hatte alle Positionen ringsum besetzt, desgleichen alle Straßen nach Osten. Das ganze Land zwischen Sheffield und Grimsby, ebenfalls zwischen Sheffield und Peterborough, Colchester und Maldon war unter deutscher Herrschaft.
Jede Tageszeitung hatte ihre Korrespondenten in die Front geschickt, und all die schneidigen altgedienten Kriegskorrespondenten darunter, die ein Dutzend großer Weltkriege mitgemacht hatten, glänzende Kriegsschriftsteller, die sonst die furchtbare Wahrheit des Krieges aus weit entlegenen Ländern den Landsleuten daheim auf die Frühstückstische geschickt hatten, mußten nun zum erstenmal im eigenen Lande ihr Handwerk ausüben, wo unser Heer in die Rolle von Verteidigern herabgedrückt worden war.
Verteidiger! Welche Hoffnung auf Erfolg konnte unsere Handvoll Leute irgend haben gegen jene überwältigenden Massen kriegstüchtiger Truppen, die durch Yorkshire, Lancashire, Norfolk, Suffolk und Essex schwärmten?
Die deutschen Befehlshaber lachten belustigt auf, wenn sie Meldungen erhielten über die Mobilisierung der britischen Armee.
Ein Bericht des Sheffield Daily Telegraph erzählte aus sehr guter Quelle, wie von Kronhelm in Beccles, als er von englischen Truppen hörte, die in der Nähe von Cambridge zusammengezogen würden, eine Fingerspitze voll Sägespäne vom Boden – es war auf einem Zimmerplatze – genommen und auf seinen Handrücken gelegt hätte.
»Dies ist die englische Armee,« sagte er dem Offizier, der ihm jene Nachricht überbracht hatte. »Wir brauchen nur zu kommen – puh!« – er blies scharf gegen den Sägestaub – »wo sind dann die tapferen Engländer, he?«
Und der Generalissimus der kaiserlichen Armee lachte über seinen eignen kleinen unheimlichen Scherz.
Schon am Mittwoch waren Streifzüge nach verschiedenen Städten unternommen worden, die sich bequemen mußten, die angedrohte Zerstörung durch Zahlung einer Kontribution abzuwenden. Manchester aber wurde am Abende desselben Tages durch die Entdeckung, daß die nicht mißzuverstehende Proklamation von Kronhelms an das Volk von England von unbekannter Hand am Viktoriabahnhof und an den Mauern der Börse angeschlagen worden war, in höchste Aufregung versetzt, und auf dem Albert Square wurde unaufhörlich gegen die Deutschen demonstriert. Mitten dazwischen hinein schrie jemand, daß das Midland Hotel voll von deutschen Kellnern, also von Spionen sei. Daraufhin strömte alles die Peterstreet hinab, und eine starke Rotte erzwang sich den Eingang ins Hotel und warf sich über die unglücklichen ausländischen Kellner, soweit sie ihrer habhaft werden konnte. Der Speisesaal, das deutsche Zimmer und das französische Restaurant waren in ein paar Augenblicken zu Schauplätzen von Greuelszenen geworden. Mit dem Mut der Verzweiflung kämpften die Kellner um ihr Leben, mit Messern und Stuhlbeinen. Überall umgeworfene Tische, zerbrochenes Geschirr – die Gäste flohen eiligst davon, aber reichlich ein halb Dutzend harmloser Ausländer, meistens Österreicher, Franzosen und Italiener, fiel der Wut des Pöbels zum Opfer.
Überall herrschte Gesetzlosigkeit. Die Polizei war numerisch schwach und vollständig machtlos. Erst um zehn Uhr abends, als der Lord-Mayor von dem Fenster über dem gewölbten Eingang zum Stadthause die Aufruhrakte verlas, ward etwas wie der Anschein von Ordnung hergestellt.
Selbst in den aufgeregten Menschenmengen, die den weiten Platz anfüllten, ward das Bewußtsein rege, daß, wenn die Deutschen wirklich von der Yorkshirer Küste her vorrückten, es jedermanns Pflicht wäre, für Haus und Heim zu kämpfen. Aber vielleicht nicht ein einziger auf jedes Tausend, das sich in den Straßen von Manchester drängte, hatte jemals eine Büchse in der Hand gehabt. Was für Hoffnung auf Gegenwehr also hätte die Stadt gehabt gegen die gut bewaffneten und ausgebildeten Truppen Kaiser Wilhelms?
In diesen Augenblicken heißer Begeisterung für das Vaterland war der erste Gedanke eines jeden: Der Feind, der in England gelandet ist, muß wieder vertrieben werden, koste es was es wolle! Wo immer man einen Deutschen erkannte, ward er von der Menge mißhandelt. Das Leben keines Ausländers war sicher an jenem Abend; als sie die feindliche Haltung der Massen sahen, suchten sie meistens Zuflucht in ihren oder ihrer Freunde Häusern; jedes Geschäft, das einen fremden Namen trug, zumal wenn es ein deutscher oder österreichischer Name war, ward sofort angegriffen und verwüstet.
Es gab indessen tatsächlich deutsche Geheimagenten in Manchester; das stellte sich kurz vor Mitternacht heraus: Drei anständig gekleidete Leute drängten sich durch die dichten Massen der Marketstreet, und man sah, daß sie etwas gegen die Spiegelscheiben eines großen Etablissements schleuderten, und daß im nächsten Augenblick das Gebäude an drei verschiedenen Punkten lichterloh brannte; mit furchtbarer Geschwindigkeit griff das Feuer um sich, und in den Flammen, die über die Fassade aufloderten, mußten mehrere Leute ihren Tod gefunden haben.
So von Menschen verstopft waren die Straßen, daß die Feuerwehr lange Zeit brauchte, um an Ort und Stelle zu gelangen, und da stand bereits der ganze Häuserblock in Flammen, und hohe Feuerzungen leckten den Uhrturm hinauf.
Die drei unbekannten Männer, die in dem Gedränge entkommen waren, hatten, wie sich hinterdrein herausstellte, Petroleumbomben, die tödlichsten und zerstörendsten der modernen Wurfgeschosse, geschleudert.
Ein zweites Feuer, wahrscheinlich von denselben Brandstiftern gelegt, brach eben vor ein Uhr in einem großen Warenhause aus, und kurz darauf sah man, wie ein großer blondhaariger Mann ein Wurfgeschoß gegen ein Bankhaus schleuderte – ein Aufblitzen, ein lauter Knall, und das gewaltige Gebäude stand in Flammen!
Zwei Leute jedoch hatten den Brandstifter beim Werke gesehen und gepackt. Auf ihren Ruf: »Wir haben den Kerl! Ein deutscher Spion!« brach sofort die Wut des Menschenhaufens aus, und der Gepackte, offenbar einer der Geheimagenten, die den Auftrag hatten, Lancashire in Schrecken zu versetzen, war in zwei Minuten so zugerichtet, daß er seinen letzten Atemzug tat.
Der Feind hatte aber seine heimtückische Absicht erreicht: die riesigen Feuersbrünste riefen in der ganzen Stadt Furcht und Schrecken hervor.