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III.

Wirkung in der City.
Suspendierung des Bankprivilegiums.
Die Proklamation der Deutschen.


In der Nacht von Sonntag auf Montag war die Nachricht durch ganz Großbritannien geflogen. Obwohl noch nicht sämtliche Einzelheiten der Flottenkatastrophen bei der Hand waren, so wußte man doch jetzt oberflächlich, daß unsere Schiffe in der Nordsee Schlappen erlitten hatten und zum Teil gesunken waren.

Am Montag morgen aber, vor sieben Uhr, kamen aus dem Norden durch die unterirdischen Linien grauenerregende telegraphische Berichte über das Unheil, das die deutsche Flotte über die nichtsahnende englische gebracht hatte, in London an.

Mit London erwachten auch die großen Städte des Nordens, Liverpool, Manchester, Sheffield und Birmingham, in vollständiger Bestürzung. Es schien unglaublich und war doch Tatsache, daß der Feind sich durch seinen plötzlichen und verstohlenen Schlag die Seeherrschaft gesichert und seine Landung ausgeführt hatte! ...

Das Publikum war empört, daß nicht vorher eine förmliche Kriegserklärung erlassen worden sei; es wußte ja nicht, daß die dem Deutsch-französischen Kriege vorhergehende Erklärung seit 170 Jahren die erste war, die von zivilisierten Nationen vor Beginn von Feindseligkeiten erlassen worden war.

Die gefährliche Lage des Landes ward überall anerkannt. Tausende aufgeregter Leute strömten mit jedem Zuge aus den Vororten nach der City; sie erkundigten sich angstvoll nach der Wahrheit und waren wild vor Entrüstung, daß unser Landheer noch nicht mobilisiert und bereit wäre, dem einbrechenden Feinde ostwärts entgegenzurücken.

Sobald die Banken geöffnet hatten, begann ein allgemeiner Ansturm auf sie; gegen Mittag aber stellte die Bank von England ihre Barzahlungen ein, und die übrigen Banken, da sie nicht imstande waren, ihre Verbindlichkeiten zu erfüllen, schlossen ihre Türen und brachten so das Geschäftsleben zu jähem Stillstand. Am Sonntage hatten die Konsols auf 85 gestanden, aber Montag mittag waren sie auf 42 gefallen – tiefer sogar als im Jahre 1798, wo sie auf 47½ gestanden hatten. Fremde Spekulanten versuchten vielfach, auf der Börse diese Sachlage auszunützen, kamen aber damit nicht zustande, weil wegen der Ausschaltung des ganzen Bankwesens keine Übertragungen zu bewerkstelligen waren.

Am Nachmittage war die Panik auf der Börse unbeschreiblich. Alle möglichen Papiere waren vollständig entwertet, und niemand wollte kaufen. Die überrumpelte Finanz konnte nicht begreifen, weshalb keinerlei ernsthafte Warnung ihr den Stand der Dinge verraten hatte, wo London doch der finanzielle Mittelpunkt der Welt war!

Vor 1870 hatte Paris sich mit London in die Ehre geteilt, der Angelpunkt des Geldmarktes zu sein; aber nach der Einstellung der Barzahlungen durch die Bank von Frankreich während des Deutsch-französischen Krieges hatte Paris diese Stellung verloren. Falls nicht ein Teil der französischen Kriegsentschädigung in Gold unangetastet auf dem Spandauer Juliusturm gelegen hätte, würde Deutschland niemals daran haben denken können, Großbritannien plötzlich mit Krieg zu überziehen, ehe es den Berliner Platz finanziell von London unabhängig gemacht oder doch hinreichende Goldvorräte angehäuft hätte, um den Krieg wenigstens zwölf Monate aushalten zu können. Das einzige Mittel hierzu aber wäre die Erhöhung des Diskontsatzes gewesen, so daß Berlin bessere Bedingungen geboten hätte als London. Sobald jedoch die Bank von England entdeckt haben würde, daß der Wechselkurs gegen sie wäre, und ihr Goldvorrat abnähme, würde auch sie mit Erhöhung des englischen Diskonts geantwortet haben, um den Abfluß zu hemmen. Dieses Wettrennen aber würde angedauert haben, bis die Sätze so hoch gestiegen waren, daß aller Verkehr gestockt und jedermann seine Papiere veräußert hätte, um sich das nötige Bargeld zur Fortführung seiner Geschäfte zu verschaffen.

So also würde der kommende Krieg sich zweifellos vorher angekündigt haben, wenn Deutschland nicht schon längst im Besitze seines Kriegsschatzes gewesen wäre – eine Tatsache, die von den meisten bis zum heutigen Tage übersehen, durch die aber Deutschland jetzt in den Stand gesetzt worden war, unvermutet loszuschlagen; und auf einmal mußte jetzt die Bank von England, die Stütze der Goldwährung des Vereinigten Königreichs, die Erfahrung machen, daß durch die Einwechslung ihrer Noten ihr Goldvorrat derart reißend abnahm, daß sie in wenigen Stunden sich genötigt sah, bei der Regierung um Suspendierung des Bankprivilegiums einzukommen – eine Maßregel, die der Bank gestattete, die Barzahlungen einzustellen und ungedeckte Noten auszugeben.

Seltsam genug, die unmittelbare Wirkung hiervon war nicht etwa eine Verschlimmerung, sondern eher eine Milderung der Panik. In der City waren manche, zumal die Durchschnittsgeschäftsleute, der ruhigen Zuversicht, daß der gezielte Schlag unwirksam abgleiten, und daß die Deutschen, so viele ihrer auch gelandet wären, auf schnellen Rückzug würden bedacht sein müssen, sobald erst unsere Seeherrschaft wieder hergestellt wäre, was ja in einem oder zwei Tagen der Fall sein müßte! ...

Abgesehen vom Geldmarkt, war natürlich das Geschäft überhaupt vollständig demoralisiert. Der Einkauf der nötigsten Bedürfnisse war jetzt zuvorderst in jedermanns Sinn. Wegen der erregten Menschenansammlungen in den Straßen schlossen die meisten Läden in der City und dem West-End; die Admiralität aber umdrängten gewaltige Massen erhitzter Männer und Frauen aus allen Ständen, darunter weinende Seemannsfrauen und auch Offiziersdamen aus Mayfair und Belgravia, die sich nach den Ihrigen erkundigen wollten – Anfragen, die das Unfallsbureau leider nicht in der Lage war zu beantworten.

Der Schmerz, der Schrecken und die Spannung riefen herzzerreißende Auftritte hervor. Es war bekannt geworden, daß mehrere Schiffe nach tapferer Gegenwehr mit Mann und Maus untergegangen waren, und alle, die Männer, Brüder, Verlobte oder Väter an Bord hatten, riefen laut jammernd und schluchzend die Regierung zur Rache für den Tod ihrer Lieben auf.

In Manchester, in Liverpool, überhaupt in sämtlichen großen Industriezentren des Nordens, fand die Erregung Londons ihren Widerschein; Liverpool war in der größten Besorgnis, als die Nachricht sich verbreitete, daß deutsche Kreuzer sich vor der Mündung des Mersey zeigten, daß in Pernath, Cardiff, Barry und Llanelly bereits die Kohlenladeplätze, die Kräne und die Petroleumtanks zerstört, und daß Aberdeen bombardiert worden wäre. Natürlich lag es nahe, zu fürchten, daß trotz der Minen und Verteidigungswerke des Mersey die Stadt Liverpool mit ihrem ganzen Schiffsgewühl dasselbe Schicksal haben würde! Die gesamte Stadt geriet in Gärung. Gegen elf Uhr waren die Bahnhöfe voll von Frauen und Kindern, die aufs Land flüchten wollten, hinaus aus der dem Untergange geweihten, verteidigungslosen Stadt. Vergebens bemühte sich der Lord-Mayor, den Leuten Vertrauen einzuflößen, und als die Telegramme aus London den vollständigen finanziellen Zusammenbruch ankündigten, erreichte die Panik den höchsten Grad. Auf dem Old Hay Market und die Dale Street entlang bis an die Landungstreppen, rund um die Börse, die Town Hall und das Zollhaus drängte sich eine immer noch anschwellende Menge; alles schrie wild durcheinander und gebärdete sich, als ob das gefürchtete Unheil schon da wäre: Jeden Augenblick könnten die grauen Rumpfe jener todbringenden Kreuzer auf dem Flusse auftauchen, jeden Augenblick die erste Granate in ihre Mitte fallen und explodieren!

So stand Liverpool den ganzen Tag unter dem Schrecken der Vernichtung.

Inzwischen harrte London in atemloser Spannung auf die weiteren Ereignisse. Stunde um Stunde gaben die Morgenzeitungen neue Extrablätter aus mit den jüngsten Nachrichten über das große Flottenunglück, die man hatte auftreiben können. Die Telegraphen und Telephone nach dem Norden arbeiteten ununterbrochen, und von den Überlebenden eines Schlachtschiffes, das in St. Abbs, nördlich von Berwick, gelandet war, hörte man entsetzenerregende Berichte. Andere Überlebende von britischen Kreuzern und Schlachtschiffen hatten Dunbar und North Berwick erreicht und wußten von seltsamen und nie dagewesenen Dingen zu erzählen.

Ein Schilling das Stück, war in Cornhill, Moorgate Street, Lombard Street oder Ludgate Hill kein ungewöhnlicher Preis für ein Halbpennyblatt, und der Weizen der Zeitungsjungen blühte, außer wenn, was oft genug passierte, die erregte Menge sich über sie warf und ihnen ihre Zeitungen wegriß.

Fleet Street war vollständig blockiert, der ganze Verkehr wurde durch die Menschenmengen gehemmt, die vor den Zeitungsexpeditionen auf die Telegramme warteten, von denen die Auszüge hinter den Fensterscheiben angeschlagen wurden. Und bei jeder neuen Depesche gab es Seufzer, Stöhnen und Flüche an allen Enden: Die Regierung – die so selbstgenügsame Blauwasserschule mit der sanften Rede und den glatten Manieren – sei für alles verantwortlich, war die allgemeine Auffassung. Sie hätte das Heer auf den richtigen Fuß bringen und die Gründung von Schützenvereinen, in denen jeder Jüngling sein Heim zu verteidigen lernte, ermutigen sollen, sie hätte sich die tausend und einen Warnungsrufe, die während der letzten zehn Jahre von hervorragenden Staatsmännern, Militärs und Schriftstellern erhoben worden waren, zu Herzen nehmen sollen, zumal jene mächtigen und beredten Appelle Earl Roberts', des Kriegshelden Englands, der nach seinem Austritt aus dem Dienst gewiß nicht in dem Verdacht der Wahrnehmung eigensüchtiger Interessen hatte stehen können. – Furchtlos und aus Liebe zu seinem Vaterlande, dessen Verhängnis er voraussah, hatte er 1906 die Wahrheit ausgesprochen, aber die Regierung sowohl wie das Volk waren verstockt geblieben ...

Wohl gab es manche, die bramarbasierend prophezeiten, daß die britischen Truppen, einmal mobilisiert, die Eindringlinge ohne Mühe in die See treiben würden; diese Leute aber dachten nicht an die lange Zeit, die dazu gehörte, um unser Heer auf Kriegsfuß zu bringen, noch an die vielen lächerlichen Verfügungen, die anscheinend eher für die Verlangsamung als für die Beschleunigung der Mobilmachung erlassen worden waren!

Den ganzen Morgen hindurch, inmitten des Geschäftschaos der City, war die Erregung ständig gewachsen, bis kurz nach drei Uhr die Daily Mail ein Extrablatt ausgab mit dem Abdruck einer deutschen Proklamation, die, wie es hieß, jetzt überall in East Norfolk, East Suffolk und zu Maldon in Essex, also in der ganzen vom Feinde bereits besetzten Zone, angeschlagen war. Von unbekannter Hand auf eine Scheunentür in der Nähe des Städtchens Framlingham geklebt, war die Originalproklamation von einem Korrespondenten der Daily Mail entdeckt, abgelöst und per Automobil nach London gebracht worden.

Sie zeigte deutlich, daß es die Absicht der Deutschen war, mit zerschmetternder Härte aufzutreten. Ihr Wortlaut war folgender:

 

»Im Namen Sr. Maj. Wilhelms II., des Deutschen Kaisers, Königs von Preußen und Obersten Kriegsherrn des deutschen Heeres, wird dem englischen Volke hiermit kund und zu wissen getan:

»1. In dem gesamten von den deutschen Streitkräften besetzten Gebiete Großbritanniens wird das Standrecht erklärt; es tritt sofort mit dem Anschlag dieser Proklamation in Kraft.

»2. Mit dem Tode bestraft wird jede Person, die, ohne englischer Soldat zu sein und als solcher durch seine Kleidung erkennbar gemacht zu werden,

a) dem Feinde als Spion dient;

b) die deutschen Truppen durch falsche Angaben irre führt;

c) auf einen Angehörigen des deutschen Heeres schießt, ihn verletzt oder beraubt;

d) Brücken oder Kanäle zerstört, Telegraphen-, Telephon- und Beleuchtungsdrähte, Gasometer oder Eisenbahnen beschädigt, den Straßenverkehr stört und Kriegsmunition, -vorräte oder -quartiere der deutschen Truppen in Brand setzt oder sonstwie vernichtet;

e) gegen die deutschen Truppen die Waffen ergreift.

»Der dem Kriegsgericht jedesmal vorsitzende Offizier führt die Voruntersuchung und spricht das Urteil. Die Kriegsgerichte dürfen auf keine andere als die Todesstrafe erkennen. Die Urteile sind unverzüglich zu vollstrecken.

»3. Die Städte oder Dörfer des Gebietes, auf welchem die Übertretung stattgefunden hat, haben zur Strafe den Betrag eines Jahreseinkommens zu entrichten.

»4. Die Einwohner haben täglich den deutschen Truppen an Lebensbedürfnissen zu liefern, wie folgt:

1 Pfd. 10 Unzen Brot,

13 Unzen Fleisch,

3 Pf. Kartoffeln,

1 Unze Tee,

1½ Unzen Tabak oder 5 Zigarren,

½ Pinte Wein,

1½ Pinien Bier oder ein Weinglas voll Branntwein oder Whisky.

Die Ration für jedes Pferd:

13 Pfd. Hafer,

3 Pfd. 6 Unzen Heu,

3 Pfd. 6 Unzen Stroh.

»Bei Entrichtung der Verpflegung in Geld gilt der Satz von 2 sh. per Tag und Mann.

»5. Die Kommandeure detachierter Truppenteile haben das Recht, alles für die Wohlfahrt ihrer Leute für notwendig Erachtete einzutreiben; die Einwohner erhalten dafür offizielle Quittungen ausgestellt.

»6. Eine deutsche Mark ist als gleichwertig mit einem englischen Schilling zu betrachten.

»Der Kommandierende General des dritten deutschen Armeekorps von Kronhelm.

»Beccles, 4. September 1910.«


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