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XXXI.

Unser jüngster Schicksalsschlag.
Die feindliche Übermacht.


Freitag, den 16. September, veröffentlichte die Daily Mail die Fortsetzung des Berichtes ihres Kriegskorrespondenten.

Brentwood, Donnerstag, 15. September.

Die Ereignisse der letzten drei Tage sind so furchtbar, für uns als Nation so unheilvoll gewesen, daß ich kaum weiß, wie ich mich mit ihnen abfinden soll. Wir sind wiederum, und zwar vollständig geschlagen worden! Der ganze rechte Flügel unserer Verteidigungslinie hat in großer Unordnung zurückgehen müssen, und wir sind jetzt davor, unsern letzten Blutstropfen zu verspritzen. Die Reste jener schönen Heeresmacht, die bisher das sächsische Armeekorps nicht nur in Schach zu halten vermocht hat, sondern es vor kaum einer Woche in der denkwürdigen Schlacht von Purleigh um ein Haar sogar geschlagen hätte, halten jetzt einen Teil der Verschanzungen besetzt, an denen seit der deutschen Landung gearbeitet worden ist, und die zur Verteidigung der Hauptstadt dienen sollen.

Auch Teile des Armeekorps von Braintree und der früheren Besatzung von Colchester sind hier, die ich auf ihrem nächtlichen Marsch begleitet hatte. Über die Schicksale der anderen Hälfte des 1. Armeekorps, das Dunmow und den Oberlauf des Chelmer-Flusses besetzt hatte, haben wir nur ganz vage Gerüchte; wir können nur hoffen, daß diese Truppen ganz oder größtenteils imstande gewesen seien, den Londoner Verteidigungsgürtel im Nordwesten zu erreichen. Zu besorgen ist aber, daß durch den letzten Schicksalsschlag auch der Rückzug des 2., 3. und 4. Armeekorps aus Saffron Walden, Royston und Baldock, also aus jener Position, die sie in der ruhmvollen Schlacht bei Royston gegen die Blüte der deutschen Armee verteidigt hatten, herbeigeführt wird. Denn angesichts des kombinierten Vorrückens des deutschen 9., 10. und 12. Korps, sowie angesichts der wahrscheinlichen Wiederaufnahme der Offensive durch die zwei vor Royston geschlagenen Korps würde ein längeres Verbleiben daselbst sie der Gefahr aussetzen, umgangen und von dem Rest unserer Streitkräfte abgeschnitten zu werden, und das zu einer Zeit, wo jeder einzelne Soldat dringend nötig ist für die Besetzung des nördlichen Teils der Londoner Verteidigungslinie ...

Um aber auf den Bericht über unsere jüngste und unheilvollste Niederlage zurückzukommen, so muß ich vorausschicken, daß meine Leser sich nicht täuschen lassen dürfen durch den Ausdruck Armeekorps, angewendet auf die verschiedenen Vereinigungen unserer Truppenteile; – die Worte Divisionen oder sogar Brigaden würden der Wahrheit näher kommen, denn das »Armeekorps« in Braintree z. B. hatte nur vier, später vielleicht sechs reguläre Infanterieregimenter nebst sehr wenig Kavallerie und nicht sehr beträchtlicher Artillerie. Was wollte das besagen gegen das ihm unmittelbar gegenüberstehende deutsche Armeekorps des Generals von Willberg! Und doch ist das Gardekorps noch stärker als selbst die letztgenannte furchtbare Gefechtseinheit. Von Willbergs Korps ist das Hannoversche und umfaßt nicht weniger als 23 Bataillone Infanterie, vier Regimenter Kavallerie, 25 Batterien Artillerie, ein Train- und ein Pionierbataillon. Was für Chancen hat ein sogenanntes Armeekorps von einem halben Dutzend regulärer Infanteriebataillone, vielleicht einem Dutzend Abteilungen Freiwilliger und Milizen, einem zusammengescharrten Häuflein Kavallerie und nur der halben Anzahl von Geschützen gegen eine so starke, wohl organisierte und ausgebildete Streitmacht?

Wir hatten neulich in dem Gefecht bei Chelmsford dem Ansturm von drei vollständigen deutschen Armeekorps allerhöchstens dreißig reguläre Bataillone entgegenzustellen. Dazu kam freilich eine Anzahl von Hilfstruppen, sowie auch ein Übergewicht an schwerer weittragender Artillerie; aber mit den ersteren kann man nicht wie mit regulären Soldaten manövrieren, so groß auch ihr Mut und ihre Hingabe sein mögen, und wenn wir dem Feinde auch an Geschützen schweren Kalibers überlegen waren, so wurde das mehr als aufgewogen durch die fünf- oder sechsfache Überlegenheit seiner Feldartillerie. Unter solchen Umständen wäre ein Sieg nicht viel anderes als ein Wunder gewesen!

Als ich am 11. in Chelmsford ankam, wimmelte die Stadt von Freiwilligen in Khaki, grün, rot, blau – allen Farben des Regenbogens –, und mir fielen zwei sehr flotte Abteilungen Milizreiter auf, die gerade zur Unterstützung von zwei regulären Kavallerieregimentern ausrückten. Alle Welt war durch die Nachrichten aus Royston und den glücklichen Ausgang des Kavalleriescharmützels am Morgen vorher in gehobene Stimmung versetzt worden.

Da Chelmsford in einer Art von Mulde liegt, konnte ich von dort aus nicht viel sehen; deshalb beschloß ich am Nachmittage, nach dem Höhenzuge bei Danbury zu fahren, ob ich vielleicht von dort aus ein deutliches Bild der Lage gewinnen könnte. Schon als ich Danbury Place passierte, hörte ich aus nächster Nähe den betäubenden Donner schwerer Geschütze; es war die 4.7-zöllige Batterie der Blaujacken bei der Kirche, wo ich sie zu Beginn der Schlacht von Purleigh in Tätigkeit gesehen hatte. Ich stieg aus und wandte mich an den befehligenden Offizier, den ich auch schon bei jener Gelegenheit getroffen hatte. Ich fragte ihn, worauf er feuerte. »Sehen Sie dort hinüber,« antwortete er und wies nach Maldon hin.

Ich konnte zuerst nichts sehen. »Höher hinauf!« bedeutete mich der Marineoffizier. Ich blickte auf, und dort, Hunderte von Fuß über und diesseits der alten Stadt hinsegelnd, glitzerte ein großes, gelbes wurstförmliches Etwas im Sonnenlicht. Ich kannte es gleich wieder nach den Photographien, die ich von den deutschen Manövern gesehen hatte: es war ihr großer militärischer Ballon, den sie nach seiner länglichen Gestalt die »Wurst« zubenannt haben; seine Insassen waren ohne Zweifel eifrig mit der Erkundung unserer Stellungen beschäftigt.

Ein anderes Geschütz erhob sein ohrzerreißendes Gebrüll, und dann noch eins, indem sie ihre langen Rohre gleich riesigen Fernrohren in die Luft hoben. Sie feuerten mit Brisanzgranaten auf den Ballon, in der Hoffnung, daß der Luftdruck ihn zum Bersten bringen würde, wenn sie ihm nahe genug kamen. Ich sah die große Granate scheinbar ganz dicht an ihrem Ziele platzen, aber die Entfernung täuschte, und der Ballon erlitt keinen sichtbaren Schaden; nach einer abermaligen Salve jedoch fing er langsam an zu sinken und verschwand bald hinter den dichtgedrängten Giebeln der Stadt. »Könnte ihn am Ende getroffen haben,« bemerkte der Offizier, »glaube es aber eigentlich nicht. Wahrscheinlich wurde es ihnen da droben doch zu heiß. – Auch wir hatten unseren Ballon heute morgen steigen lassen,« fuhr er fort, »und ich nehme an, er wird vorm Dunkelwerden noch einmal aufsteigen. Die Deutschen schossen ein paarmal darauf, kamen ihm aber nicht näher als bis auf eine Meile; er liegt auf einem Felde hinter den Gehölzen bei Twitty Fee, ungefähr eine halbe Meile von hier, wenn Sie Lust haben sollten, ihn zu sehen.«

Ich dankte ihm und fuhr langsam nach der angegebenen Stelle. Unterwegs sah ich, daß auf Danbury Hill große Veränderungen vor sich gegangen waren seit meiner letzten Anwesenheit; überall waren Schanzen und Artilleriedeckungen in die Höhe geschossen, und immer noch wurde eifrig daran gebessert und fortgebaut. Ich fand den Ballon hinter einem Gehölz, wo er mit Gas gefüllt auf und ab schwankte und den Augen des Feindes vollständig entzogen war; aber da man mir sagte, daß er nicht vor halb sechs Uhr aufsteigen würde, setzte ich meine Fahrt rund um das Plateau fort. Bei meiner Ankunft am Nordende bemerkte ich, daß auch hier und rund herum bis an die Westseite neue Schanzarbeiten im Gange waren: der nördliche Teil von Blake's Wood war in ein furchtbares Verhau verwandelt, indem die gespitzten Äste der gefällten Bäume durch hinüber- und herübergezogenen Stacheldraht miteinander verknüpft worden waren.

Das gleiche war geschehen in den Wäldern und Feldgehölzen von Great Graces. Das Herrenhaus New Lodge war in Verteidigungszustand versetzt, die rahmen- und scheibenlosen Fenster mit Sandsäcken verstopft, der Blumengarten gänzlich zertreten, das große Piano stand auf dem Hinterhofe und bildete die Unterlage für ein Maximgeschoß, das über die Mauer guckte, die Hauswände waren durch Schießscharten entstellt. Hinter dem Hause standen die Gewehrpyramiden eines Freiwilligen-Bataillons, das unter der Leitung einiger Offiziere und Unteroffiziere des Leibingenieurregiments im Begriff war, den reizenden Landsitz in eine garstige, schartige Festung zu verwandeln. Mitten auf dem Tennisplatz war eine Feldküche ausgehoben worden, und die Köche hantierten eifrig an den großen schwarzen Kesseln, in denen sie Tee für die Mannschaften bereiteten. New Lodge war die treffendste Illustrierung des durch den Krieg herbeigeführten Szenenwechsels, den ich je gesehen habe ...

Von der Ecke des Great Graces-Waldes konnte ich durch mein Fernglas erkennen, daß es auch rund um Great Baddow von Soldaten wimmelte, die den Ort für die Verteidigung einrichteten. Ich ging nach dem Ballon zurück, gerade zur rechten Zeit, um ihn majestätisch sich über die Bäume erheben zu sehen. Der Feind feuerte nicht auf ihn, sei es, weil seine Versuche, ihn zu treffen, heute morgen fehlgeschlagen hatten, sei es aus einem anderen Grunde, so daß die Insassen der Gondel ruhig ihre Beobachtungen machen und sie dem Unteroffizier an der Windemaschine hinabtelephonieren konnten, der sie dann unverweilt zu Papier brachte.

Was der Feind an diesem Tage tat, davon hatten wir so gut wie keine Kenntnis; auch während der Nacht sahen und hörten wir nichts von ihm, und nach den Anstrengungen der letzten 24 Stunden durfte ich mich eines ungestörten Schlummers erfreuen.

Das war aber nur die Ruhe vor dem Sturm. Gegen zehn Uhr morgens rollte von Südosten das tiefe Grollen der Artillerie her, und hier und da ging das Gerücht, daß die Sachsen einen heftigen Angriff auf South Hanningfield unternähmen, sicherlich in der Absicht, unsere rechte Flanke zu umgehen. Ich bestieg mein Auto, und kaum war ich aus der Stadt heraus, als auch von Norden her Geschützdonner ertönte. Unschlüssig hielt ich an. Sollte ich weiterfahren oder umkehren? Ich entschloß mich zu guter Letzt fürs Weiterfahren und langte ungefähr um elf Uhr in Stock an. Da ich mich hier aber weder erkundigen, noch von den Ereignissen etwas sehen konnte, fuhr ich nach South Hanningfield weiter. Am Fuße der Anhöhe, die sich nach Harrow Farm hinaufzieht, begegnete ich einem in Kompagniekolonne gelagerten Infanteriebataillon hinter den Gehölzen links von der Straße; von den Offizieren erfuhr ich, daß es die 1. Buffs waren, die hier als Unterstützung der zwei Milizbataillone droben auf der Höhe hielten. Die Sachsen, sagten sie, waren in beträchtlicher Stärke von Woodham Ferris her vorgerückt, aber an dem Wege von Rettendon nach Battles-Bridge durch das starke Feuer unserer Artillerie zum Stehen gebracht worden, das ihre Feldbatterien in dem offenen Terrain drunten nicht wirksam erwidern konnten.

Seit kurzem hatte das Feuern nachgelassen; deshalb stieg ich rasch die Anhöhe hinan, um mir einen Blick auf die feindlichen Linien zu verschaffen. Ich sah aber nicht viel von ihnen. Mit Hilfe meines Feldstechers entdeckte ich grün uniformierte Leute in den Feldgehölzen vor Rettendon Hall, aber das war auch alles. Über Danbury sah ich unseren großen Ballon aufsteigen, während über Purleigh die dicke deutsche Wurst hin und her schlotterte. Aber beiderseits kein Zeichen von militärischen Operationen. Nur im Norden ertönte ferner Geschützdonner, und da voraussichtlich jetzt bei South Hanningfield nichts mehr zu sehen war, so fuhr ich nach Chelmsford zurück. Hier wimmelte es wie in einem Bienenkorb.

Die Truppen waren angetreten; auf dem Bahnhofe drängten sich die Leute, die mit der Eisenbahn fortzukommen suchten, und auf den Straßen standen die Bewohner in dichten Gruppen zusammen. Lauter und schneller donnerten in der Ferne die Geschütze, und es hieß, daß die Hannoveraner bei Ford Mill den Übergang über den Fluß zu forcieren strebten.

Ich füllte Flasche und Frühstückskorb und fuhr dem Kanonendonner nach. Auf dem Wege nach Little Waltham sah ich hin und wieder in den Schanzgräben, die im Zickzack die Abhänge nach dem Flusse zu begleiteten, Khakiuniformen auftauchen und fuhr an zwei oder drei Regimentern vorbei, die in schnellstem Tempo nach Norden marschierten. Die Gesichter der Leute hatten einen Ausdruck grimmiger, wütender Entschlossenheit.


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