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XXVII.

London in Gefahr.
Die Schlacht von Purleigh.


Den ersten authentischen Bericht über die Operationen in Essex brachte ein Extrablatt der Times:

Danbury, Essex, 8. September.

(Von unserem Spezialkorrespondenten.)

Heute war ein bedeutungsvoller Tag für England! Seit Tagesanbruch hat die große Schlacht gewütet, und obwohl gerade jetzt ein Augenblick der Stille ist, wo die einander gegenüberstehenden Heere sozusagen Atem holen, so ist der Kampf doch noch keineswegs aus.

Tote und Lebende werden nebeneinander die ganze Nacht auf dem Schlachtfelde liegen, denn wir müssen in den so hart erstrittenen Stellungen bleiben und bereit sein, bei Tagesgrauen einen neuen Vorstoß zu machen. Unsere tapferen Truppen, die Regulären wie die Freiwilligen, haben die Überlieferungen unseres Stammes glorreich erneuert und mit nicht geringerem Heldenmut gefochten, als nur je ihre Vorvater zu Azincourt, Albuera oder Waterloo. Ist nun auch – leider um den Preis von tausenden blühender Menschenleben – ein beträchtlicher Erfolg erreicht worden, so wird es wenigstens eines zweiten, ebenso mühseligen Schlachttages bedürfen, wenn wir den Sieg in der Hand haben wollen. Heutzutage darf niemand erwarten, schon bei Anbruch der Nacht entweder endgültig gesiegt zu haben oder endgültig geschlagen zu sein, und wenngleich diese Schlacht sich nicht solange hinziehen wird wie der gewaltige russisch-japanische Zweikampf bei Liaojang, schon weil sie zwischen viel kleineren Heeren und auf viel beschränkterem Raume auszufechten ist, so ist doch ihr Ende noch nicht in Sicht. – Ich schreibe diese Zeilen nach einem langen Tage voll saurer Arbeit und ununterbrochenem Vorwärts und Zurück, immer hinter unseren Linien her.

Ich hatte in meinem Auto auch mein Fahrrad mitgenommen, in der Hoffnung, auf ihm näher an den Schauplatz des Feuergefechts heranfahren zu können; aber häufig genug mußte ich auch das Rad liegen lassen und auf Händen und Füßen vorwärts kriechen, indem ich selbst die geringsten Vertiefungen benutzte, um mich gegen die dicht über mir wegpfeifenden und -sausenden Kugeln des Feindes zu decken.

Unser Heer, das sich in Brentwood versammelt hatte, war am frühen Morgen des 7. aufgebrochen.

Während des Nachmittages gelang es dem Vordertreffen, den Feind aus South Hanningfeld zu vertreiben, und vor Sonnenuntergang war er in vollem Rückzuge auch aus den Stellungen von East Hanningfeld und Danbury. An letzterem Orte ist besonders hartnäckig gekämpft worden; doch unter der vernichtenden Wirkung unserer Artillerie, die mehrere Batterien auf dem Höhenzuge nordwestlich von East Hanningfeld aufgefahren hatte, vermochten die Deutschen dem Angriff der Argylls, der Sutherlands und der Londoner Schotten nicht zu widerstehen: die Unsrigen drangen über Danbury Park und Hall Wood mitten in ihre Stellung ein und vertrieben sie durch einen glänzenden Bajonettangriff aus ihren Verschanzungen. Das ganze Terrain nördlich und östlich von der feindlichen Hauptstellung zwischen Maldon und dem Crouch-Flusse war jetzt in unserer Hand; aber der Feind hielt sich noch bei Wickford und, wie es hieß, auch um Rayleigh, Hockley und Canewdon, mehrere Meilen nach Osten. Deshalb machten wir uns schon darauf gefaßt, diesen Teil der deutschen Stellungen am nächsten Morgen – heute früh – angreifen zu müssen; aber inzwischen entdeckten unsere Kundschafter, daß der Feind alle oben genannten Ortschaften geräumt hatte. Offenbar hatten die Deutschen in ihrer Hauptstellung die Feldbefestigungen jetzt vollendet und sagten uns: »Kommt heran und werft uns heraus, wenn ihr könnt!«

Es war keine leichte Aufgabe, die unserer tapferen Truppen harrte. Maldon liegt hoch auf einem Hügel und wird durch ein Netzwerk von Flußläufen und Kanälen gegen jeden Sturmangriff von Norden gedeckt; hier starrt es förmlich von Geschützen, darunter den schwersten Feldhaubitzen, und schon einmal haben die Unsrigen sich hier blutige Köpfe holen müssen. – Weiter südlich, auf den Höhen von Purleigh, sollen gleichfalls viele Geschütze aufgefahren und die Höhe von Great Canney Hill, die kühn wie eine gewaltige Redoute aufragt, von Schanzen umsäumt und mit den schwersten Kalibern armiert sein. Der Eisenbahndamm südlich von Maldon bildet einen vollständigen natürlichen Festungswall längs eines Teiles der feindlichen Stellung, während die Gehölze und Gehege südwestlich von Great Canney Tausende von Scharfschützen bergen. Eine Art vorspringender Bastion hielt der Feind in Edwin Hall besetzt, eine Meile östlich von Woodham Ferrers, wo ein paar hohe, eine Viertelmeile voneinander abstehende Hügelköpfe ihrer Feldartillerie Deckung und eine beherrschende Lage darboten.

Unsere Kundschafter hatten ferner festgestellt, daß ein künstliches System von Draht- und anderen Hindernissen beinahe die ganze Front der ziemlich ausgedehnten deutschen Stellung deckte; auf der äußersten Linken sollte die Linie im spitzen Winkel umbiegen, so daß jeder Versuch der Überflügelung nicht nur den Übergang über den Crouch-Fluß zur Voraussetzung haben, sondern auch unter dem Feuer der auf jenen beherrschenden Höhen postierten Batterien ausgeführt werden mußte. Alles in allem war's eine recht harte Nuß, die wir zu knacken hatten, und unsere verfügbaren Truppen waren durchaus nicht zu stark für die Arbeit, die ihnen bevorstand.

Einzelheiten über unsere Stärke zu geben, würde aus naheliegenden Gründen nicht ratsam sein; aber wenn ich darauf Hinweise, daß die Deutschen zwischen 30 und 40 000 Mann stark sein sollen, und daß von kompetenten militärischen Sachverständigen angenommen wird, für den Angriff auf Truppen in verschanzten Stellungen gehöre eine sechsfache Überlegenheit, so mögen meine Leser sich selber ihre Schlüsse ziehen. Ich werde aus demselben Grunde nicht all die Regimenter und Truppenteile aufzählen, aus denen sich unser Essexer Heer zusammensetzt.

Das Hauptquartier war gestern nach Danbury verlegt worden, und dorthin hatte ich mich so schnell, als mein Auto es vermochte, und die alle Augenblicke durch Infanterie, Kavallerie und Artillerie verstopften Straßen es zuließen, begeben. Die Nacht verbrachte ich in South Hanningfield, um bei dem erwarteten Angriff auf Wickford gleich an Ort und Stelle zu sein; sobald ich aber merkte, daß daraus nichts werden würde, überlegte ich mir, daß von Danbury aus eine Orientierung über die nächsten Operationen am leichtesten zu gewinnen sein dürfte.

Ich hatte mich darin nicht getäuscht. Während ich mich eiligst dorthin begab, waren wiederum die Straßen voll von Truppen in Gefechtsformation, und alles deutete auf eine Angriffsbewegung hin. Ein glücklicher Zufall wollte, daß ich einem Freunde aus dem Generalstabe begegnete, der soviel Zeit übrig hatte, um mir anzudeuten, daß ein allgemeiner Vormarsch stattfinden sollte, und eine große Schlacht bevorstände.

Danbury ist auf Meilen in die Runde der höchste Punkt, und weil das Wetter einen schönen, klaren Tag versprach, so dachte ich, daß ich am besten täte, vorm Weiterfahren mir von der Kirchturmspitze einen Rundblick zu verschaffen; ich erfuhr jedoch, daß der General mit einem Teile seines Stabes und der Signalmannschaft droben wäre, und konnte deshalb nur bis zur ersten Plattform hinauf.

Es war gerade acht Uhr; die Sonne stand schon ziemlich hoch am Himmel, und die leichten Nebel, die auf der Ebene um Maldon lagen, lösten sich rasch auf; wie eine dunkle Silhouette hob sich die alte Stadt gegen den Morgenhimmel ab. Leider schien mir die Sonne direkt in die Augen und machte dadurch den Überblick einigermaßen schwierig. Dennoch war ich mit Hilfe meines Glases imstande, etwas von den ersten Zügen auf dem verhängnisvollen Schachbrette zu sehen, auf dem soviel tausend Menschenleben den Einsatz des blutigen Kriegsspiels bildeten.

Unter anderem nahm ich wahr, daß die Lehren des jüngsten Krieges im fernen Osten nicht außer acht gelassen wurden, denn auf allen offenen Strecken am Ostabhange des Höhenzuges, wo die Straßen nicht durch Bäume und Gebüsch verdeckt waren, hatte man über Nacht Hürden aus Zweigwerk aufgebaut, um die einleitenden Bewegungen den Ferngläsern des Feindes zu verbergen. Unter dieser Deckung marschierte nun Regiment auf Regiment, Batterie auf Batterie nach den ihnen angewiesenen Posten im Südosten ab. Zwei Bataillone standen in Kompagniekolonne hinter Thrift Wood; nach ihrer Uniform waren es Schotten, wahrscheinlich die Argylls und die Londoner Schotten. Mehrere Feldbatterien fuhren links auf Woodham Walter zu, und von der Infanterie marschierte ein Teil nach rechts hinter die Hyde Woods, der Rest aber, wie ich glaube, die Gardegrenadiere, noch weiter nach Süden. Zum Schluß sah ich dann noch zwei starke Bataillone, die an ihren blauen Waffenröcken leicht als Seesoldaten zu erkennen waren, die Landstraße hinabmarschieren und hinter Woodham Mortimer Place Halt machen.

Die ganze Zeit hindurch war vom Feinde nichts zu sehen noch zu hören. Lustig sangen die Vögel in den alten Ulmen rings um meine Warte; die Spatzen und Schwalben piepten und zwitscherten in den Dachrinnen der alten Kirche, und die Sonne schien heiter auf Hügel und Tal, Feld und Wald. Man hätte sich ganz gut vorstellen können, daß tiefer Friede in dieser Landschaft herrschte, und die dunkeln Truppenmassen in den Schatten der Wälder nur zu den Herbstmanövern hergekommen wären.

Jetzt aber gewahrte ich, wie zuerst eine, dann noch eine lange und weitzerstreute Linie kriechender Leute in Khaki aus der Deckung der Hyde Woods zum Vorschein kamen und sich langsam nach Osten vorschoben. Jetzt, und jetzt zuerst, blitzte auf dem grauen, verschwimmenden Höhenzuge, fünf Meilen weit nach Südosten, der mir als Great Canney bezeichnet worden war, ein lebhafter violettweißer Schein auf, und fast im selben Augenblick spritzte dicht vor den vorrückenden Engländern Erde und Rauch in die Höhe. Ein dumpfer Knall wurde von dem leichten Winde hergetragen, dann aber von einem ohrzerreißenden Krachen ganz in meiner Nähe verschlungen. Ich fühlte, wie der alte Turm erzitterte unter der Detonation, und sah mich um – unmittelbar außerhalb des Kirchhofes war eine Batterie schwerer 4.7-zölliger Geschütze aufgefahren, und die hatte soeben ihr Feuer eröffnet.

Eins nach dem andern ließen die sechs Geschütze ihre Stimme erschallen; ich kletterte die gebrechliche Hühnerstiege herab und ging, mir die Geschütze anzusehen. Sie wurden von Blaujacken bedient, die mit ihnen von Chatham herübergekommen waren, und ich fand unter den Geschützen einige meiner Bekanntschaften aus dem Burenkriege: »Joe Chamberlain« und »Blutige Mary«.

Aber für den Augenblick muß ich meine persönlichen Erlebnisse beiseite lassen und versuchen, einen allgemeinen Bericht über die Operationen des Tages zu geben, soweit ich imstande war, ihnen durch Beobachtung und Erkundigungen zu folgen.

Was ich unter mir vor sich gehen sah, war der erste Schritt auf unser Hauptziel Purleigh hin. Das offene Gelände nördlich von Purleigh und bis nach Maldon ist flach wie ein Billard und stellte unsre schwächste Angriffsfront dar; selbst wenn wir bereits dort eingedrungen wären, würde in kürzester Zeit das Kreuzfeuer aus Maldon und Purleigh uns dezimieren und verjagen, gar nicht zu gedenken des Feuers aus den Stellungen, die der Feind sicherlich weiter rückwärts vorbereitet hatte. Sobald es uns dagegen gelang, uns in Purleigh festzusetzen, so waren wir damit aus dem wirksamen Schußbereiche Maldons heraus und konnten auch Great Canney im Rücken packen, desgleichen die schwache linke Flanke des Feindes. Und Maldon war dann isoliert. Purleigh war also der Schlüssel der ganzen Stellung.

Bis auf diesen Augenblick haben wir uns seiner noch nicht bemächtigt, aber doch einen tüchtigen Schritt auf dies Ziel hingetan; und wenn es wahr ist, daß das Glück dem Mutigen hilft, so müßten wir sicherlich morgen abend in seinem Besitze sein! ...

Unsere Streifpatrouillen waren ausgewählte Leute aus den Linienbataillonen; die Plänklerlinien aber setzten sich aus Freiwilligen und, in einigen Fällen, aus Milizen zusammen. Es war für zweckmäßiger erachtet worden, die Regulären für die späteren Phasen des Angriffs aufzusparen.

Von Canney und später auch von Purleigh aus eröffneten die Feinde ihr Feuer, selbst das aus den schweren Geschützen, zuerst auf zu weite Distanz, als daß es hätte wirksam sein können; und nachher hielt das schwere Feuer der weittragenden »Blutigen Mary« und ihrer Schwestern zu Danbury und der übrigen schweren Geschütze und Haubitzen bei East Hanningfield es nieder, obwohl die riesigen Brisanzgranaten dann und wann doch schreckliche Verheerungen unter den vorrückenden Engländern anrichteten.

Als indessen die Plänklerlinie, die noch nicht nahe genug war, um das feindliche Feuer zu erwidern, bei Loddard's Hill angekommen war, geriet ihr linker Flügel unter ein fürchterliches Feuer von Hazeleigh Wood her, während der rechte Flügel und das Zentrum durch einen Hagel von Schrapnells aus den deutschen Feldbatterien nördlich von Purleigh so gut wie aufgerieben wurden. Wenn auch durch diesen grausigen Bleiregen betäubt und zum Schwanken gebracht, behaupteten die Freiwilligen doch zähe das gewonnene Terrain; weiter vorrücken aber konnten sie nicht. Es waren intelligente Leute; selbst wenn sie Lust gehabt hätten umzukehren, so wußten sie, daß darin kein Heil für sie lag.

Sie versuchten mit Aufbietung aller Kräfte vorzugehen, aber sie stolperten und fielen über die dichtgesäten Leichen ihrer Kameraden hin, – es war ein förmliches Massenopfer ...

Falls nicht jetzt auf der Stelle eine neue Karte ausgespielt wurde, war der Angriff mißlungen.


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