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XXX.

Sprengung der Stour-Brücken und Räumung Colchesters.


Dienstag, den 13. September, veröffentlichte die Daily Mail folgendes Telegramm ihres Kriegsberichterstatters:

Chelmsford, Montag, 12. September.

Nach einer schlaflosen Nacht setze ich mich hin, um über unsere letzten Operationen zu berichten. Wir befinden uns auf dem Rückzüge, und es ist zweifellos, daß die Kavallerie des deutschen 9. Korps uns dicht auf den Fersen und in Fühlung mit unserer eignen Kavallerie ist. Wenn ich das Wort »Rückzug« brauche, so verwahre ich mich dagegen, als wollte ich irgendwie die Strategie unserer Generale kritisieren. Denn jedermann ist hier vollständig überzeugt von der Weisheit dieses Schrittes. Die fixe kleine Garnison von Colchester lag allzu sehr in der Luft und riskierte, durch einen konvergierenden Vormarsch des deutschen 9. und 10. Korps abgeschnitten zu werden, das 12. (sächsische) Korps zu Maldon gar nicht gerechnet, welches seit der unglücklichen Schlacht von Purleigh nach Norden und Osten eine eifrige Tätigkeit entwickelt hat.

Die Sachsen haben sich eines Angriffs auf unser 5. Korps seither enthalten, so daß dieses fast ungestört seine Position südlich von Danbury verschanzen konnte; andererseits haben sie aber nicht verabsäumt, ihre bereits sehr starken Verteidigungslinien zwischen Blackwater und Crouch noch weiter zu verstärken, und ihre Kavallerie hat das ganze Land bis hart an die Tore von Colchester durchstreift. Gestern morgen rückten die 16. Lancers und 17. Husaren – die von Norwich zurückgegangen waren – mit den Milizreitern der Umgegend auf den Straßen nach Tolleshunt d'Arcy und Great Totham vor und gerieten mehrfach in hitzige Gefechte mit den feindlichen Vorposten, die sie zurückwarfen; bei der Verfolgung aber stießen sie auf überlegene feindliche Streitkräfte und würden übel dran gewesen sein, wenn nicht auch sie eine Verstärkung erhalten hätten. Die Deutschen erlitten jetzt eine tüchtige Schlappe und mußten mit beträchtlichem Verlust an Gefangenen in voller Auflösung nach Maldon zurückgaloppieren.

Als die Nachricht von diesem Erfolge bald nach Mittag in Colchester anlangte, war alles voller Jubel, und als gegen Abend die Ankündigung von unserem glänzenden Siege bei Royston angeschlagen wurde, war die ganze Stadt wie im Rausch.

Leider war die Freude nur von kurzer Dauer.

Wir hatten Nordwind, und um 5 Uhr 45 nachmittags ertönte aus der Richtung von Manningtree ein heftiger Knall. Sofort eilte ich auf die Straße und vernahm deutlich eine zweite Detonation aus derselben Richtung. In der jubelnden Menschenmenge, die die Straßen erfüllte, entstand ein plötzliches Schweigen, unnatürlich und unheimlich. Da trug der Wind nochmals das Krachen einer Explosion her, diesmal mehr aus Westen. Niemand vermochte anzugeben, was das zu bedeuten hätte, ich selber auch nicht, bis ich mich bei einem befreundeten Artillerieoffizier danach erkundigte.

»Was Sicheres weiß ich auch nicht,« antwortete er. »Aber ich wette fünf gegen eins, daß die Pioniere die Brücken über den Stour bei Manningtree und Stratford St. Mary gesprengt haben.«

»Sollten denn die Deutschen dort eingetroffen sein?« fragte ich.

»Höchst wahrscheinlich. Und sehen Sie,« er nahm mich beiseite und fuhr mit gedämpfter Stimme fort, »ich will Ihnen einen Wink geben: diese Nacht werden wir von hier fort müssen. Sie tun also gut daran, ihre Siebensachen zu packen und sich marschfertig zu machen.«

»Ist das gewiß?«

»Offiziell nicht, denn dann dürfte ich Ihnen nichts davon sagen! Aber ich lege mir die Dinge zusammen. Wir wissen alle, daß der General nicht so töricht sein kann, eine offene Stadt von dieser Ausdehnung mit unserer kleinen Garnison gegen ein ganzes Armeekorps oder vielleicht noch mehr verteidigen zu wollen. Das würde gar keinen Nutzen haben und die Stadt und die Zivilbevölkerung nur der Zerstörung und allem möglichen Unheil aussetzen. Das hätten Sie sich auch selbst sagen können, da weder Schanzen aufgeworfen worden sind, noch auch die geringste Verstärkung von außerhalb zu erwarten ist. Nein, die paar Truppen, die wir hier haben, haben das Ihre getan, um dem Detachement in Danbury gegen die Sachsen beizustehen, und sind viel zu wertvoll, als daß man sie hier, wo sie doch den Vormarsch der Feinde nicht aufhalten können, abschneiden ließe. Deshalb stehen auch an den verschiedenen Brücken über den Stour-Fluß ganz kleine Abteilungen, die gerade stark genug sind, um die feindlichen Kavalleriepatrouillen zurückzuweisen. Ich denke, jetzt, wo sie die Brücken in die Luft gesprengt haben, werden sie so schnell wie möglich sich zurückziehen. Und dann sehen Sie,« fügte er hinzu, »weshalb, meinen Sie, sollte heute morgen das Bataillon nach Wickham Bishops abgeschickt worden sein?«

Ich antwortete ihm, wahrscheinlich, um die Straße nach London und die Bahnstrecke zu sichern.

»O ja, alles ganz schön,« antwortete er. »Aber Sie können sich ganz sicher darauf verlassen, daß noch mehr dahintersteckt. Meines Erachtens hat der General den Auftrag bekommen, sich davonzumachen, sobald der Feind sich anschickt, den Stour zu überschreiten; deshalb hat er das Bataillon in Wickham Bishops postiert, um unsere linke Flanke gegen einen Angriff von Maldon her zu schützen, während wir uns auf Chelmsford zurückziehen.«

»Aber könnten wir uns nicht auch auf Braintree zurückziehen?«

»Glauben Sie nicht dran! Dort hat man uns nicht nötig. Wenigstens nicht so sehr wie anderswo. Wir haben die Aufgabe, die Lücke zwischen Braintree und Danbury mit ausfüllen zu helfen. Wir hätten das eigentlich auch schon eher tun können. Na, auf Wiedersehn,« sagte er und reichte mir die Hand. »Behalten Sie all dies für sich und denken Sie an das, was ich Ihnen sage: Sowie es dunkel ist, wird abmarschiert!«

Er ging, und da ich überzeugt war, daß seine Voraussagung richtig wäre, packte ich meine Sachen und verstaute sie in meinem Auto. Bei Beginn der Dämmerung brach ich auf und fuhr langsam nach den Kasernen. Dort sah ich sofort, daß etwas los wäre, denn die Ordonnanzen kamen und gingen, alle Soldaten, die sich blicken ließen, waren marschfertig, und die Freiwilligen, die seit dem Ausbruch der Feindseligkeiten auf dem Exerzierplatz kampiert hatten, traten an, rings umgeben von einem erregten Gedränge von Verwandten und Freunden. Ich hielt an und beschloß, den Verlauf der Sache hier abzuwarten. Schon nach zehn Minuten ertönte ein Hornsignal, und die einzelnen kleinen Abteilungen schlossen auf und traten in Kompagniekolonnen an. Zur selben Zeit rückte das Freiwilligenbataillon von der anderen Seite des Weges herüber und schloß sich den regulären Truppen an. Hinter mir hörte ich scharfen Hufschlag und lautes Klirren – ich kehrte mich um und sah den General mit seinem Stabe und einem Zuge Kavallerie herantraben; er bog in die Kasernenpforte ein, – ein lautes Kommandowort, ein Rasseln der Gewehre der aufgestellten Bataillone, hierauf, soweit ich sehen konnte, eine Art Ansprache von seiten des Generals, dann ein neues Kommando, und das der Pforte zunächst stehende Regiment brach in Marschsektionen ab und marschierte hinaus.

Als die letzten in die sinkende Dunkelheit hineinmarschiert waren und in den Kot, der nach dem gestrigen Platzregen dick auf den Wegen lag, überlegte ich mir, daß ich auch mal nach dem Bahnhof fahren könnte, um zu sehen, ob dort etwas los wäre. Ich kam gerade zur rechten Zeit an.

Das elektrische Licht beleuchtete ein geschäftiges Treiben, denn die letzten Munitionskisten wurden gerade in den langen Zug, der fertig zur Abfahrt dastand, verladen. Ich hatte genug gesehen, eilte nach meinem Auto zurück und stieg ein. Es hatte wieder angefangen zu regnen. Was mich anging, so war ich auf schlechtes Wetter eingerichtet, aber ich mußte an die armen Soldaten denken und die mühseligen Meilen bei Nacht und durch die aufgeweichten Wege. Eben vor Mark's Tey holte ich die marschierende Kolonne ein. Die Nachhut hielt mich an und wollte mich nicht durchlassen, ehe nicht die Erlaubnis dazu eingeholt wäre.

Ich wurde vor den General geführt und zeigte ihm meinen Paß; aber er sagte: »Ich fürchte, daß ich Sie auffordern muß, entweder umzukehren oder mit uns gleichen Schritt zu halten. Überhaupt werde ich gegebenenfalls von meiner Machtvollkommenheit Gebrauch machen und Ihr Auto mit Beschlag belegen müssen.«

Ich hielt es für das beste, aus der Not eine Tugend zu machen, und erwiderte, daß mein Auto ganz zu seinen Diensten stehe, und daß ich es zufrieden wäre, die Marschkolonne begleiten zu dürfen. Ich sagte damit auch nur die Wahrheit, denn ich wollte ja sehen, was zu sehen war, und wie hätte ich voranfahren sollen, wo ich doch keine Ahnung hatte, wohin der Marsch ging, und möglicherweise sogar den Sachsen in die Hände fallen konnte!

Man setzte einen Stabsoffizier, der eine leichte Verwundung erhalten hatte, neben mich, und wir fuhren langsam weiter, gerade vor der Artillerie, die eintönig klappernd durch den tiefen Kot rumpelte. Mein Begleiter war gesprächig und gab mir eine Menge willkommener Informationen. Kurz hinter Mark's Tey erblickten wir rechts vom Wege ein helles Aufleuchten, dem ein lauter Knall folgte.

»Was ist das?« rief ich aus.

»Die Pioniere werden wohl die Eisenbahnkreuzung zerstören«, antwortete er. »Drüben ganz in der Nähe liegt ein Zug, der auf sie wartet.«

So fuhren wir die ganze Nacht durch in Regen und Finsternis. Wir hatten bei Anbruch der Morgendämmerung noch neun Meilen bis nach Chelmsford, das unser nächstes Marschziel war, und jetzt wurde mir gestattet, mit dem Stabsoffizier, der Depeschen weiterbefördern sollte, voranzufahren; ich gab volle Kraft, und so langten wir schnell dort an und erfuhren im Laufe des Morgens, daß die Braintree-Truppen sich auf Dunmow zurückzögen, und daß die Garnison von Colchester die Linie des Chelmer-Flusses mit besetzt halten sollte.


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