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XX.

Verhängung des Belagerungszustandes.


Am Dienstag abend herrschte in London und durch das ganze Land die gewaltigste Erregung. Überall wurden die kargen Berichte der Presse über die Seekämpfe und die verschiedenen Landungen gierig verschlungen.

Als die Sonne blutrot hinter dem Nelson-Monument in den dunklen Londoner Qualm versunken war, nahmen die auf dem Trafalgar Square sich drängenden Menschenmassen diese Färbung für ein unheilkündendes Vorzeichen.

Die Bronzelöwen an den vier Ecken des Monuments waren nur noch höhnische Embleme der einstigen Größe Englands. War es doch allgemein bekannt, daß von einer geordneten Mobilmachung keine Rede war, daß sich an den Sammelpunkten überhaupt noch so gut wie keine Truppen eingefunden hatten, daß im Kriegsministerium und in der Admiralität eine Verwirrung und ein Durcheinander herrschten, die dann in jedem Arsenal, in jeder Militärwerkstätte Großbritanniens sich getreulich wiederholten.

Wären jetzt wenigstens die noch intakten Geschwader zur Stelle gewesen, um der durch die große Seeschlacht bei North Berwick geschwächten deutschen Flotte endlich die Hörner zu weisen! Aber nein, die hatten in Gott weiß welchen fernen Meeren sich umhergetrieben, und ehe sie dasein konnten, hatte England sich schon verblutet, denn die feindlichen Schiffe bombardierten unterdessen ungestört die englischen Hafenorte, und ganz Ostengland war wehrlos in den Händen der Deutschen.

Alle Schiffe, die der Feind in den besetzten Hafenstädten vorgefunden hatte, waren mit Beschlag belegt und größtenteils nach Wilhelmshaven, Emden, Bremerhaven und anderen deutschen Seestädten hinübergeschickt worden, um als Transportschiffe zu dienen.

Die Preise der Lebensbedürfnisse waren, zumal in London, noch weiter gestiegen, und im East End und in den ärmeren Distrikten von Southwark nagte die ganze Bevölkerung bereits am Hungertuche! Was würde erst werden, wenn die deutschen Heerhaufen auf die vollständig wehrlose Metropole zumarschierten und keine Zufuhr mehr hineinließen? Wollte man denn keinen Versuch machen, die Eindringlinge zurückzuwerfen? Wenn die Seeherrschaft auch verloren gegangen war, konnte das Land nicht wenigstens soviel Streitkräfte aufbringen, als zur notdürftigsten Deckung der Hauptstadt gehörte, oder wollte man zulassen, daß das Herz des Britischen Reiches in die Hände der fremden Eindringlinge fiele und das Schicksal Grimsbys erlitte, das geplündert worden war, weil es die auferlegte Kontribution nicht hatte bezahlen können oder wollen? Noch spät in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch langten authentische Nachrichten aus der Invasionszone an, deren Mittelpunkt Beccles war: daß das in Lowestoft gelandete 9. Armeekorps des Generals von Kronhelm ungefähr 40 000 Mann zählte, und daß seine Kavallerie zwischen Leiston, Wilby und Castle Hill einen Schleier bildete und im Verein mit der Motorinfanterie die Verbindungsstraßen in der Richtung nach London zu besetzte.

Soweit in Erfahrung zu bringen war, hatte der deutsche Oberbefehlshaber von Kronhelm sich noch nicht aus seinem Hauptquartier Beccles gerührt. Seine Transportschiffe waren unter dem Geleite von Kreuzern nach der deutschen Nordseeküste zurückgekehrt, und der Schluß war erlaubt, daß es der Plan der Feinde war, zunächst die Ankunft von Verstärkungen abzuwarten, ehe sie die Operationen großen Stils begännen.

War es nicht doch noch möglich, daß England seine Seeherrschaft rechtzeitig wiedergewönne, um die Invasion abzuwehren, den feindlichen Vormarsch auf London von vornherein zu vereiteln? ...

Die Westminster Gazette und ähnliche Organe der Blauwasserschule versicherten, daß die Gefahr höchst gering sei; Deutschland habe sich verrechnet und werde seinen Rechenfehler binnen wenigen Tagen schwer zu büßen haben!

Aber das englische Publikum hatte jetzt seine eigene Ansicht über die Sachlage; es war dieser selbstzufriedenen Versicherungen endlich müde geworden und warf alle Schuld auf die politische Partei, die so oft erklärt hatte, daß im 20. Jahrhundert die Völker ihre Zwistigkeiten nicht mehr mit den Waffen austragen würden.

Die Londoner Theater mußten an diesem Abend ihre Türen wieder schließen, da niemand in der Stimmung war, sich Schaustücke anzusehen. Auch die Läden waren alle geschlossen, die Bahnhöfe aber gedrängt voll von Menschen, die aufs offene Land fliehen wollten, oder von Reservisten, die im Begriffe waren, zu den Fahnen zu stoßen.

Um zehn Uhr wurde eine Proklamation angeschlagen, die folgenden Wortlaut hatte:

»An alle, die es angeht!

»Im Hinblick auf das Dekret vom 5. September des laufenden Jahres, welches über die Grafschaften Norfolk und Suffolk den Belagerungszustand verhängte,

im Hinblick auf das Dekret vom 10. August 1906, welches die öffentliche Verwaltung in vom Kriege betroffenen Distrikten regelte,

auf Vorschlag des Höchstkommandierenden

wird verordnet wie folgt:

1. Im Kriegszustande befinden sich:

a) im östlichen Kommandobereich die Grafschaften Northamptonshire, Rutlandshire, Cambridgeshire, Norfolk, Suffolk, Essex, Huntingdonshire, Bedfordshire, Hertfordshire und Middlesex (ausgenommen den zum Londoner Militärdistrikt geschlagenen Teil);

b) im nördlichen Kommandobereich die Grafschaften Northumberland, Durham, Cumberland und Yorkshire mit der Südküste der Humbermündung.

2. Ich, Winston Leonard Spencer Churchill, Seiner Majestät Erster Staatssekretär des Krieges, bin mit der Ausführung dieses Dekrets betraut worden.

Kriegsministerium, Whitehall,

6. September 1910.«

Die Leute, die die Proklamation lasen, verstanden nur wenig von ihrer wirklichen Bedeutung. Es klebten ja an allen Mauern Anschläge in trockenem Kurialstil, von denen das Publikum fast niemals Notiz nahm! Wonach aber alle Welt dürstete, das waren Nachrichten, authentische Nachrichten, wie es in den von dem Feinde besetzten Gebieten aussähe! ...


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