Michaïl Kusmín
Die grüne Nachtigall und andere Novellen
Michaïl Kusmín

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VI.

Santina empfing mich am nächsten Tage gegen meine Erwartung ganz ohne Scheltworte; sie hielt nur ihre Augen kühl gesenkt und gab sich Mühe, zurückhaltend zu erscheinen, soweit es ihr lebhaftes und feuriges Temperament gestattete. Es war mir, ich weiß nicht warum, durchaus gleichgültig, ob sie mir zürnte oder nicht, und ich betrachtete kühner als sonst ihre braunen Wangen und ihre zuckenden Augenlider. Ich erdreistete mich sogar, sie im Vorbeigehen um die Taille zu fassen. Dies brach anscheinend das Eis, und Santina flüsterte mir so entzückend die Worte: »Räudiger Schuft« zu, daß mir schon wieder der bereits fallen gelassene Gedanke an die Heirat in den Sinn kam. Signora Scolastica saß traurig am Fenster und zählte Silbergeld, das vor ihr in einer Schatulle lag. Sie hob ihre grauen Augen und sagte leise:

»Mein guter Tommaso, Signore Albano hat mir so viel von Euch erzählt; er sagte mir, wie bescheiden und wie hingebungsvoll Ihr seid. Mein kränklicher Zustand gestattete mir nicht, Euren schönen Eigenschaften die gebührende Beachtung zu schenken, doch vor dem Herrn bleibt nichts verborgen.«

Nun fiel mir der Vorschlag Procaccis ein, und ich sah mit großer Bestürzung, wie sich die Hand der Signora Scolastica auf meinen grauen Ärmel legte.

Die Dame sprach wie im Traume, langsam und leidenschaftlich, ohne die Augen von mir zu wenden oder die Hand von meinem Ärmel zu nehmen. Es wurde mir plötzlich so furchtbar traurig zumute, und ich wandte mich zum Fenster, das auf die Straße hinausging. Ich erblickte draußen zwei Gestalten, die einige Augenblicke später im Zimmer der Signora Ridi erschienen. Es waren Signore Cagliani und ein mir unbekannter langer, hagerer Herr ohne Perücke; am linken Beine fehlte ihm das Strumpfband, doch die übrigen Bestandteile seiner Toilette ließen vermuten, daß diese Unordentlichkeit dem Begleiter des Signore Thisbe sonst durchaus nicht eigen war.

»Mein Gott, was ist denn geschehen, Graf Parabosco?« rief Scolastica aus, sich erhebend, um die Gäste zu begrüßen. Das war also die Hopfenstange, die Clementina hätte heiraten müssen! Ich begriff sofort die ganze Empörung Procaccis. Cagliani zeigte mehr Geistesgegenwart als der kaltgestellte Freier und teilte ziemlich ruhig mit, daß seine Nichte während der gestrigen Vorstellung mit Valerio durchgebrannt sei und sich mit ihm vom Anachoreten habe trauen lassen. Ich überlegte mir, wie es möglich wäre, daß Procacci die Trauung an sich selbst hätte vollziehen können. Der Graf saß indessen hilflos da; seine Nase war rot geworden, und er nestelte an seinem linken Strumpfe, der immer wieder hinunterrutschte.

»Diese Schlange! Diese Schlange!« flüsterten seine Lippen.

Signore Thisbe ging gravitätisch auf Signora Ridi zu und sagte ihr recht ungezwungen, zugleich aber galant:

»Liebe Signora Scolastica, ich bin viel mehr um Euch besorgt, als um den verschwundenen jungen Mann oder um meine Nichte. Jene werden leicht erreichen, wonach sie gestrebt haben; aber Ihr, Ihr, die Ihr so unschuldig leiden müßt! Diese verkannte Güte!«

»Ihr schmeichelt mir!«

»Nicht im geringsten. Ich weiß, welche Gefühle Ihr jenem jungen Mann gegenüber hegtet. Was mich betrifft, so bin ich sogar froh, daß ich diese unedle Last los bin. Gestern konnte sie nicht einmal das Ende des zweiten Aktes von ›Pyramus und Thisbe‹ abwarten und brannte noch vor meiner Glanzleistung, vor meinem Triumphe durch! Ihr wißt, der wahre Künstler braucht Ruhe; und wenn er zuweilen Aufregung braucht, so doch nur eine leichte und angenehme.«

Graf Parabosco begann nun wieder zu jammern. Signore Cagliani wandte sich zu ihm, drehte sich aber plötzlich auf dem Absatze um und rief aus:

»Ich bin doch genial! Wer wird daran zweifeln?«

Scolastica wartete schweigend, was weiter kommen würde.

»Ihr und er! Hahaha! Ist es denn nicht genial? Rache, süße Rache!«

»Ich begreife Euch nicht!«

»Heiratet doch den Grafen.«

»Meint Ihr?«

»Gewiß meine ich es. Wen denn sonst? Graf, kniet nieder.«

»Wartet, mir rutscht immer der Strumpf hinunter.«

»Was? Der Strumpf? Das macht nichts!«

»Wartet, Signore Cagliani, ich will es mir noch überlegen«, protestierte Signora Ridi. Doch der Sänger frohlockte bereits:

»Wenn eine Frau sich etwas überlegen will, so ist sie schon einverstanden!«

Erst in diesem Augenblick bemerkte er mich.

»Ach, auch der gute Tommaso ist hier!« Mit gedämpfter Stimme fügte er hinzu: »Jetzt habe ich etwas mehr freie Zeit und will mir gerne Eure Muster ansehen.«

Es war mir aber nicht beschieden, von seiner Aufforderung Gebrauch zu machen: Zu Hause erwarteten mich ein Brief von meinem Patron, der mich aufforderte, sofort nach Pistoja zurückzukehren, und jener Giacomo Castagno, der mich, wie es sich herausstellte, während der ganzen Zeit gesucht hatte, um von mir die Adressen seiner Klienten zurückzuverlangen und mir meine Liste zurückzugeben, die ich am ersten Abend im »Phönix« mit der seinigen vertauscht hatte. Valerio lebt in glücklicher Ehe mit Clementina und läßt oft von sich hören. Signora Scolastica heiratete, fast ohne es zu merken, den Grafen, und Signore Cagliani erntet noch immer Lorbeeren in der Rolle der Thisbe, ohne meine Muster gesehen zu haben. Welch köstliche Muster lieferte mir aber Florenz: Muster von Liebe und Prätension, von komischen und traurigen Zufällen, Schicksalslaunen und echten Gefühlen!

 


 


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