Michaïl Kusmín
Die grüne Nachtigall und andere Novellen
Michaïl Kusmín

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VI.

Der Teller mit der blauen Windmühle, der aus unbekanntem Grunde herabgefallen war, wurde im Eßzimmer der Bosketins durch keinen anderen Gegenstand ersetzt. In der Wand steckte der nackte Nagel, und eben diesen Nagel starrten die beiden unbekannten Herren an, die im Auftrage des Herrn Poluklassow streng offiziell gekommen waren. Die Herren waren dermaßen unbekannt, daß man bezweifeln mußte, ob Herr Poluklassow selbst, der sie geschickt hatte, wußte, wer sie seien. Eines stand nur fest, daß sie aus der Stadt kamen. Der eine von ihnen war groß und sah wie ein Ladenkommis aus. Er hielt die Hände vor sich im Schoße ausgestreckt und sah unverwandt auf den Nagel, auf den auch die Blicke des anderen, der eine Postbeamtenuniform trug, gerichtet waren. Die Uhr, die die Kinderfrau dereinst aufgezogen hatte, stand schon wieder. Die beiden Besucher waren anscheinend auch einander unbekannt, und während der ersten halben Stunde sagte keiner von ihnen ein Wort.

»An diesem Nagel hat offenbar etwas gehangen; sie haben es aber wohl entfernt!« sagte der eine, auf den Nagel weisend.

»Ja, ganz sicher«, entgegenete der andere, indem er von seiner Backe eine Fliege verscheuchte, die sich nun sofort auf seiner Nase niederließ.

»Herr Bosketkin läßt aber lange auf sich warten.«

»Vielleicht schläft er.«

Der erste sah schweigend auf seine emaillierte Taschenuhr und zeigte sie dem andern:

»Elf Uhr vierzehn.«

Die Türe ging auf, und Veronika Platonowna trat ein. Da sie die beiden Herren nicht kannte, hatte sie ihren Morgenrock anbehalten und ihre Toilette nur durch die Haube mit der lila Schleife vervollständigt. Sie musterte die Gäste mit einem geringschätzigen, doch zugleich argwöhnischen Blick und forderte sie nicht zum Sitzen auf: die beiden saßen ja sowieso und waren gar nicht aufgestanden, weil sie nicht wußten, ob das Erscheinen Veronika Platonownas sie etwas anginge.

»Sie wollen zu meinem Mann?« fragte sie geradeaus.

»Wir kommen zu Dmitrij Petrowitsch Bosketkin«, antworteten sie einstimmig, indem sie sich gleichzeitig erhoben.

»In welcher Angelegenheit?«

»Wir wollten ihn eigentlich persönlich sprechen.«

»Unsinn! Ich bin seine Frau, und Sie brauchen sich vor mir nicht zu genieren.«

»Uns hat Herr Poluklassow hergeschickt«, sagte der eine.

»Wir möchten die Bevollmächtigten der Gegenpartei sprechen«, fügte der andere, in etwas offiziellerem Ton, hinzu.

Als Veronika Platonowna merkte, daß es sich um eine sehr ernsthafte Angelegenheit handelte, wurde sie sofort hochmütig und aggressiv.

»Sie kommen von den Poluklassows? Sie müssen mich entschuldigen, aber es sind so dumme und freche Menschen, daß ich mich wundern muß, wie man von ihnen irgendwelche Aufträge annehmen kann.«

»Sie sagten: dumme und freche Menschen?«

»Ja, und das nehme ich nicht zurück.«

»Die Worte einer Dame fallen nach dem Komment sowieso nicht ins Gewicht.«

»Außerdem haben die Poluklassows genau dasselbe von Ihnen gesagt«, fügte der Postbeamte hinzu.

»Von uns?«

»Ja. Wir sind eigentlich nur dazu hergekommen, damit uns Herr Bosketkin die Herren namhaft macht, mit denen wir alle näheren Vereinbarungen darüber treffen könnten, wo und wann es durch die Waffe entschieden werden soll, wer der Dümmere und Frechere ist«, sagte der Kommis sehr feierlich.

Die Hausfrau schwieg eine Weile und rief dann gar nicht feierlich, dafür aber laut:

»Hinaus! Packt euch! Ein Duell? Ich kann euch ganz ohne Duell beweisen, daß nicht einmal der verrückte Poluklassow, sondern ihr beide die allerdümmsten und frechsten und in jedem Falle die lächerlichsten Menschen seid. Hinaus mit euch!«

In der Türe stand plötzlich Herr Bosketkin.

»Da ist mein Mann. Ihr könnt mit ihm reden, soviel ihr wollt. Ich bin überzeugt, daß er euch dasselbe sagen wird wie ich.«

»Um was handelt es sich?« fragte Dmitrij Petrowitsch.

»Sie kommen mit einer Forderung von Poluklassow«, sagte die Gattin in einem so wegwerfenden Tone, daß jedes andere minder unbekannte Paar Menschen vor Scham in die Erde versunken wäre.

»Ich nehme die Forderung an! Herr Poluklassow glaubt wohl, daß er, da er einmal vor fünfzig Jahren einige Tage beim Militär war, jedermann beleidigen darf? Ich nehme die Forderung nicht nur an, sondern ich fordere ihn auch selbst! Habt ihr's gehört? Und nun packt euch!«

»Haben Sie es gehört?« bemerkte Veronika Platonowna sanft. »Ich sagte Ihnen ja, daß mein Mann dasselbe sagen wird.«

»Sie entschuldigen: Ihr Herr Gemahl hat ja eben gerade das Gegenteil davon gesagt!«

»Folglich lüge ich, nicht wahr? Oder seid ihr taub?«

»Mama, ich habe alles gehört, ich kann nichts dafür,« erklang plötzlich aus dem Garten Shenjas Stimme. Ihr Kopf wurde im Fenster bis ans Kinn sichtbar. Alle schwiegen, und die Stimme rieselte wie ein ruhiges Bächlein dahin:

»Diese Herren fordern Papa zum Duell, weil bei den Poluklassows die Kugel kaput gegangen ist. Papa ist aber gar nicht verantwortlich. Ich habe die Kugel kaput gemacht, und Poluklassow muß sich mit mir auseinandersetzen; ich bin ja schon siebzehn!«

»Was? Du hast es also getan, mein Kind?« rief Veronika Platonowna, indem sie sich zum Fenster hinausbeugte, um die Tochter zu küssen; zwischen Jacke und Rock wurde sofort ihre Leibwäsche sichtbar. Herr Bosketkin wartete am Fenster, daß auch er an die Reihe käme, die Tochter zu umarmen. Er ließ indessen seine Blicke geduldig über die Landschaft schweifen und sagte mit ungewöhnlich milder und sanfter, beinahe süßer Stimme:

»Und du hast auch natürlich unsere Kugel vorübergehend versteckt, damit ihr nicht das gleiche Schicksal seitens der Feinde drohe?«

Mutter und Tochter lösten die Umarmung und richteten ihre Blicke aufs Beet, auf dem jetzt, wie bei den Nachbarn, nichts mehr glänzte. Die beiden Sekundanten traten gleichfalls ans Fenster.

»Nein, unsere Kugel habe ich nicht angerührt . . . Ich weiß von nichts«, antwortete Shenja, und die ganze Gruppe erstarrte für einen Augenblick wie vor einem Photographen.

»Man hat sie gestohlen!« rief die Mutter, und sofort wurde wieder alles still. Einer der Sekundanten fragte schüchtern:

»Welche Farbe hatte eigentlich Ihre Kugel?«

Frau Bosketkin wandte sich nicht einmal um. Shenja, die weniger als die Mutter einer Niobe glich, entgegnete nachdenklich und traurig:

»Sie war grün.«

»Sehen Sie dort, bei der Scheune schimmert etwas Grünes . . . Ist es nicht Ihre Kugel?«

Wie Seefahrer richteten alle sofort ihre Blicke in die angegebene Richtung. Niobe brach das Schweigen:

»Idiot! Kann denn die Kugel von selbst den Platz wechseln? Das ist mein grünes Leibchen, das zum Trocknen aufgehängt ist. Wenn ihr blind seid, so schafft euch doch Fernrohre an! Und was steht ihr überhaupt noch da herum? Wollt ihr unbedingt, daß man euch hinausschmeißt? Marsch! Sucht ihr die Kugel vielleicht hier im Zimmer? Was? Die Mütze? Hier ist die Mütze!«

Sie stieß die Postbeamtenmütze ungemein schnell und geschickt vom Stuhle, fing sie mit der Fußspitze auf und warf sie dann zum Fenster hinaus, wo sie auf eine zufällig vorbeigehende Glucke fiel.

Niemand kümmerte sich mehr um die Gäste. Shenja hielt sich von außen am Fensterrahmen fest und weinte bitterlich.

»Sind denn alle Menschen so schlecht, Mama?«

»Beruhige dich, Kind, es wird schon alles gut werden«, sagte Veronika Platonowna, ihre Tochter umarmend und auf die vor dem Fenster liegende Mütze hinausblickend, um die sich einige Kücken scharten.


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