Michaïl Kusmín
Die grüne Nachtigall und andere Novellen
Michaïl Kusmín

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V.

Am nächsten Abend kam Shenitschka wieder zum Stelldichein. Eine Folge davon war, daß Anna Lwowna, als sie morgens in ihren Garten hinaustrat, plötzlich finster wurde, sich die Augen rieb und einen entsetzten und empörten Blick auf das Beet richtete. Die rote Kugel war verschwunden; selbst der Stock, an dem sie gesteckt hatte, war weg. Die rotgelben Ringelblumen bildeten den einzigen farbigen Fleck im Beete. Anna Lwowna sah sogar zum Himmel empor, als ob sich der verschwundene Gegenstand seinerseits in der Sonne spiegeln könnte. Das Ringelblumenbeet sah nur aus der Ferne unberührt aus; bei näherer Betrachtung zeigte es sich, daß es von Glassplittern übersät war. Jeder Splitter war von der einen Seite glänzendrot und von der anderen bleigrau; in einem jeden war ein heiterer Himmel mit einer strahlenden Sonne zu sehen.

Nun fiel Anna Lwowna auch der Zettel ein, der hier vor vier Tagen gelegen hatte; sie wandte sich zur Veranda und winkte mit der Hand, als ob sie vor Empörung die Sprache verloren hätte. Ihr Mann, der in diesem Augenblick, wo er nicht mit dem kleinen und dicken Nachbarn sprechen mußte, wie ein unverbogener Span von einer Spanschachtel aussah, merkte sofort ihre Bewegungen. Er hob seine spitze Nase, um sich den Zwicker aufzusetzen und eilte, in straffer militärischer Haltung, zu seiner Frau. Seit der letzten Schlägerei unter den Kindern mußte er jedesmal, wenn die Rede auf die Bosketkins kam, an seine Militärzeit denken. Anna Lwowna zeigte ihm stumm die Scherben, an denen bereits ein herbeigeeilter Hund schnüffelte.

»Was ist das?« fragte Alexander Jakowlewitsch, indem er seinen Zwicker zurechtrückte und sich wieder in einen verbogenen Span verwandelte. Die Frau zeigte mit der einen Hand auf die Scherben und stützte sich mit der anderen auf ihren Mann, zu dem sie zugleich vorwurfsvoll emporsah. Maschuk näherte sich, auf dem einen Beine hüpfend, dem Tatort.

»Und wo ist die Kugel?« fragte sie.

Anna Lwowna schmiegte sich noch fester an ihren Mann.

»Und wo ist die Kugel?« wiederholte Maschuk und sprang auf einen der Scherben, der unter ihrem Absatz knackte.

Im Fenster zeigte sich Shenitschka mit einer Flöte in der Hand. Er begann sehr traurig und ruhig und so leise, als bliese er in eine Flasche, eine Tonleiter zu spielen.

»Schweig, Idiot!« schrie ihn der Vater an und wandte sich wieder an seine Frau:

»Wenn das ihr Werk ist, so gibt's dafür überhaupt keine Bezeichnung.«

»Wer hat es denn tun können? Zuerst der Zettel, und jetzt diese Gemeinheit«, jammerte Anna Lwowna. Maschuk zerdrückte mit ihren Absätzen alle Scherben nacheinander, wobei sich die kleinen Sonnen gleichsam durch Teilung vermehrten, und wiederholte fortwährend wie ein Papagei:

»Und wo ist unsere Kugel? Und wo ist unsere Kugel?«

»Die arme Kleine, wie sie erschüttert ist!« sagte Frau Poluklassow mit matter Stimme.

Hinter dem Zaune erklang ein verhaltenes Lachen, und dann kam es wie ein Echo: »Und wo ist unsere Kugel?«

»Sie horchen dort, die Schurken!« schrie Anna Lwowna so gellend, als ob sie erst jetzt ihre Kräfte wiedergewonnen hätte, und stemmte die linke Hand in die Hüfte.

Shenitschkas Kopf verschwand augenblicklich wie in einer Versenkung; nur noch die Flöte war im Fensterrahmen zu sehen: sie hing gleichsam von selbst im Raume. Der Papa schrie ins Leere, laut wie ein Kommando:

»Ich werde euch! Ihr Esel und Flegel!«

»Freche Bande!« beharrte Frau Poluklassow.

Hinter dem Zaune wurde es still. Maschuk, die soeben den letzten Scherben zertreten hatte, erwartete mit Spannung, was nun kommen würde.

»Schurken!« schrie Alexander Jakowlewitsch ins Gebüsch.

Die Flöte verschwand, und im Fensterrahmen war nichts mehr zu sehen. Maschuk schlug die Hände zusammen und rannte wie der Wind davon. Die kurzen Höschen, von denen das eine Bein länger war als das andere, ließen das Mädchen viel kleiner erscheinen als es war.

»Wo willst du hin?«

»Zum Hausmeister!« klang es vom dritten Gartenbeet zurück.

»Die Arme ist von Sinnen!« sagte die Mama und brach in Tränen aus.

»Mir ist es weder um das Geld, noch um den Gegenstand als solchen zu tun, aber die Frechheit ist empörend!«

»Das darf man nicht so gehen lassen!« antwortete der Gatte, sich noch einmal zum Zaune wendend, hinter dem alles still war. Darauf ließ er den Wagen anspannen.


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