Michaïl Kusmín
Die grüne Nachtigall und andere Novellen
Michaïl Kusmín

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V.

Als die vermummten Männer die Türe von Maria Petrownas Schlafzimmer erbrachen, sah sie sofort ein, daß die Geschichte von den Räubern und folglich auch das Gerücht vom Verschwinden Iljitschewskijs auf Wahrheit beruhte. Sie fiel im gleichen Augenblick in Ohnmacht und blieb in diesem Zustande so lange, bis man sie in einen von Barssukowka weit entfernten Gasthof brachte und ihr den Knebel aus dem Munde nahm. Zugleich mit den fünf Sinnen kehrte ihr auch das Bewußtsein wieder, daß sie ihren Grischa für immer verloren habe, daß ihr Vater und Bruder höchstwahrscheinlich ermordet worden seien, und daß sie selbst zwischen zwei gleich entsetzlichen Losen zu wählen habe: entweder ermordet oder geschändet zu werden. In der Gaststube saßen zwei vermummte Räuber, die Wirtin machte sich am Ofen zu schaffen, und in der Wiege weinte ein Säugling. Maria Petrowna holte tief Atem, ließ ihren Blick über die Türen, Fenster und den Hof, wo unbekannte Männer die Pferde ausspannten, schweifen und stellte fest, daß sie an eine Flucht gar nicht denken konnte. Sie wandte sich an die Männer und sagte:

»Was wollt ihr von mir, Freunde? Warum quält ihr mich so lange? Wenn ihr mir das Leben nehmen wollt, warum zögert ihr? Wenn ihr aber meine Schande wollt, so wisset, daß ihr euer Vorhaben nur an einer Leiche ausführen könnt! Um eines bitte ich euch: bohrt mir dieses Messer in die Brust! Meine Anverwandten sind von euch zu Tode gemartert, mein Verlobter Grischenjka ist von eurer Hand gefallen; zögert also nicht und vereinigt mich mit ihnen!«

Die Männer schwiegen, und Maschas Worte schienen nur auf die Wirtin, die mit großem Mitgefühl zuhörte, Eindruck gemacht zu haben. Maria Petrowna fuhr noch leidenschaftlicher fort:

»Vielleicht erwartet ihr ein Lösegeld? Wer kann euch aber das Lösegeld geben, wenn alle, denen ich etwas wert war, nicht mehr am Leben sind? Holt zum Schlage aus und nehmt mir dieses unselige und unerträgliche Leben! Ach, Grischenjka, mein Geliebter, wenn ich dich bei mir gehabt hätte, so wäre das ganze nicht geschehen!« Sie brach in Tränen aus und ließ ihren Kopf auf den Tisch sinken.

Nun ging einer der Unbekannten auf das Mädchen zu und sagte leise:

»Gnädiges Fräulein, Maria Petrowna, jammern Sie doch nicht so! Grigorij Alexejewitsch wird bald herkommen und Ihnen alles erklären.«

»Wie kann er aus dem Jenseits kommen, und warum soll ich dir, du Mörder, glauben?«

Er nahm die Larve vom Gesicht und sagte lächelnd:

»Fräulein, erkennen Sie mich denn nicht? Ich bin ja der Wassilij!«

Maria Petrownas Augen waren voller Tränen, und sie vermochte Wassilij, den sie auch früher fast gar nicht kannte, nicht zu erkennen. Sie schüttelte zweifelnd den Kopf und sagte:

»Woher soll er kommen?«

In diesem Augenblick ging die Türe auf, und ein vermummter, großer Mann stürzte sich auf die Gefangene und schloß sie in seine Arme. Maria Petrowna stieß einen gellenden Schrei aus, wurde aber gleich still, als die Larve fiel und sie vor sich das treuherzige Gesicht Grigorij Alexejewitschs erblickte. Sie schob ihn etwas zurück und sagte:

»Was? Du bist am Leben, bist weder tot noch in der Gefangenschaft? Was hat das alles zu bedeuten: wo ist mein Vater, wo mein Bruder, wozu diese Maskerade, und warum bin ich hier?«

»Um mit mir zu sein, um für alle Ewigkeit bei mir zu bleiben, Geliebte! Anders ließ es sich nicht machen!«

»Und der ganze Überfall, die Räuber, das Blutvergießen . . .«

»Alles war Schwindel, alles war Komödie, Geliebte! Aber wir müssen eilen, der Priester wartet, um uns zu trauen, solange dein Vater uns noch nicht eingeholt hat.«

»Warten Sie, wir wollen uns nicht übereilen, Grigorij Alexejewitsch! Ich hatte gar nicht die Absicht, Sie zu heiraten; um so weniger nach den letzten Ereignissen.«

Iljitschewskij sah sie ganz bestürzt an: hatte er denn nicht alles so klug und kühn eingerichtet? Was wollte denn dieses unbegreifliche Mädchen noch?

»Maschenjka, was ist denn geschehen? Deine Angehörigen sind unversehrt, ich bin dir noch immer treu und ergeben, nichts kann uns voneinander trennen! Was hält dich denn noch zurück?«

Maria Petrowna saß eine längere Weile nachdenklich da, hob dann ihre verweinten Augen auf Iljitschewskij und brachte mit sichtbarer Anstrengung hervor:

»Sie haben wohl vergessen, Grigorij Alexejewitsch, was ich während dieser Zeit durchgemacht habe: Solange ich eingesperrt war, hielt ich Sie für ermordet und beweinte Sie; und jetzt mußte ich glauben, daß mein Leben und das, was noch wertvoller als das Leben ist, in der größten Gefahr schwebe, daß meine Angehörigen umgekommen seien. All das, was sich in Wirklichkeit gar nicht zugetragen hat, war für mich eine Tatsache, die ich in Wirklichkeit erlebte, und ich muß staunen, daß ich es überlebt habe. Ist es nun verwunderlich, daß auch meine Gefühle sich etwas verändert haben?«

Grigorij Alexejewitsch hörte ihr so verständnislos zu, als ob sie spanisch spräche; schließlich nickte er mit dem Kopfe und sagte sehr bestimmt:

»Du bist natürlich aufgeregt, Geliebte! Ich bitte dich um Vergebung, wenn ich dir Ungelegenheiten bereitet habe, die aber nicht zu vermeiden waren. Doch ich glaube, daß die wahre Liebe beständiger ist als der Spatz, der von Zweig zu Zweig hüpft; darum verzweifle ich noch nicht an unserem Glück! Jetzt werde ich mit deinem Vater sprechen, der soeben hier angelangt ist; ich will es nicht in deiner Gegenwart tun, um dich nicht noch mehr aufzuregen und um dir Zeit zu lassen, deine zerstreuten Gefühle zu sammeln.«

Mit diesen Worten ging er hinaus, und Maschenjka blieb allein. Es ist unbekannt, ob sie ihre zerstreuten Gefühle sammelte und woran sie dachte, als sie unbeweglich auf dem gleichen Fleck saß, während sich draußen die feindlichen Nachbarn auseinandersetzten. Sie beharrte in der gleichen Erstarrung, auch als Pjotr Trifonowitsch, Ilja Petrowitsch und Grigorij Iljitschewskij in die Stube traten. Der alte Barssukow rief in freudiger Erregung:

»Du hast es durchgesetzt, Maria: nun kannst du deinen Iljitschewskij heiraten!«

»Ich heirate ihn nicht«, entgegnete Maschenjka leise.

Der Vater sah sich verständnislos um und schrie auf:

»In Gartenhäusern täglich Rendezvous haben und in Gasthöfen mit jungen Männern herumsitzen – das kannst du; aber zum Traualtar gehen, das kannst du nicht?! Mit der Peitsche werde ich dich hintreiben! Wozu habe ich mich denn sonst mit diesem Ketzer ausgesöhnt?«

»Er ist ein Betrüger«, sagte Maschenjka noch leiser.

Der Alte lachte auf:

»Habt ihr so etwas gehört?! Die Maskerade paßt ihr nicht! Wäre es dir denn lieber, wenn wir alle ermordet wären und du dich in den Klauen der Räuber befändest? Dein Verlobter ist auch so ein gehöriger Räuber!«

Nun trat Grigorij Alexejewitsch vor. Er ergriff Maria Petrownas Hand und sagte:

»Hast du denn für diesen einen Augenblick unvermeidlicher List alle unsere Schwüre, Küsse und süßen Stunden der Liebe vergessen? Ich will dein treuester Freund und ergebenster Sklave sein. Ist dein Herz zu Stein geworden?« Und er brach in Tränen aus.

Pjotr Trifonowitsch wandte sich zum Fenster, und Maschenjka beugte sich zu ihrem weinenden Verlobten und sagte:

»Natürlich liebe ich dich wie vorher und will auch dein Weib werden. Doch ach, warum war dieses ganze Abenteuer nur ein Faschingsscherz?«

 


 


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