Michaïl Kusmín
Die grüne Nachtigall und andere Novellen
Michaïl Kusmín

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IV.

Das Schicksal hatte wohl selbst die Absicht, die Zusammenkünfte Shenjas und Shenitschkas möglichst poetisch zu gestalten. Jetzt konnten sie sich nur nachts in aller Heimlichkeit treffen; den Poluklassows war ja der Zutritt zum Nachbargarten verwehrt. Shenitschka kletterte allnächtlich über den Zaun, und Shenja setzte sich jedesmal einen weitkrempigen Strohhut auf.

Der junge Mann saß rittlings auf dem Zaune, wandte sein Gesicht mit der stumpfen Nase dem Monde zu und sagte laut:

»Leb wohl, Gevatter! Grüße Shenja von mir!«

Dann sprang er schnell hinunter und begab sich langsam, schleppenden Schrittes nach Hause. Einige zusammengeschrumpfte welke Blätter am Wege warfen winzige Schatten lauf den im Monde weißglänzenden Sand.

»Bald geht's in die Stadt!« dachte Shenitschka, indem er den Hut in die Hand nahm und seine Schritte verlangsamte.

Als Shenja vom Stelldichein heimkehrte, setzte sie sich, ohne den Hut abzulegen, auf einen niederen Schemel vor ihren jungfräulichen Toilettentisch, auf dem zwischen Seife, Zahnpulver und Eau de Cologne allerlei Kram herumlag: eine leere Bonbonniere, ein angebissener Apfel, ganz gewöhnliche Steinchen vom Flußufer, eine tote Libelle in einer Zigarettenschachtel und ein Puppenmieder. Im Mondlichte glänzte das Glas der Eau de Cologneflasche in drollig blauem Lichte, und die durchsichtige Amorette auf dem Etikett sah wie eine lila Wasserleiche aus. Shenja steckte einen Lichtstummel an und lächelte ihrem Bilde im Spiegel zu.

»Ganz wie eine Großmutter sehe ich in diesem Hute aus! Ich dachte nicht, daß ich ihn jemals aufsetzen werde; ich wußte ja nicht, daß ich Shenitschka kennen lernen werde. Shenitschka, Shenitschka! Lieber Mond! Die Tage sind jetzt langweilig, ich werde aber morgens länger schlafen und tagsüber ›Krieg und Frieden‹ lesen.«

Sie beschloß, diese Nacht aufzubleiben, schlief aber, vor dem offenen Fenster sitzend, ein. Als sie erwachte, sah sie die ersten Sonnenstrahlen, die hinter der Scheune hervorschossen, und ein Kücken, das vor ihr auf dem Fensterbrett stand und die Blumen auf ihrem Kleide zu picken versuchte. Shenja lachte leise auf, das Kücken sprang ungeschickt hinunter und rannte auf seinen langen Beinen davon, komisch mit dem zottigen Steiße wackelnd. Es ist doch gescheiter, sich noch hinzulegen, als gleich mit dem Tolstoi zu beginnen! Natürlich ist Tolstoi ein Genie, aber Shenitschka ist ihr lieber.

Der Mond hatte eine geschwollene Backe und wurde von Tag zu Tag unsymmetrischer; dies verminderte aber weder sein Licht, noch hinderte es unser Paar, allnächtlich auf der Bank vor der Kugel, vor der echten grünen Kugel zusammenzukommen. Die Bank bewahrte treu das Geheimnis der Liebenden und ihre verschlungenen Monogramme, die auf der unteren Fläche des Brettes eingeschnitten waren. Während Shenitschka auf dem Rücken lag und schnitt, lachte Shenja und fürchtete, daß sein Federmesser durch die Bank dringen, oder daß er sie bei den Beinen packen würde.

»Hier, hier?« fragte Shenitschka, mit dem Messer die Bank von unten abklopfend.

»Du unterstehst dich nicht! Und ich stehe sowieso nicht auf!«

Die Kinder konnten oben auf der Bank beliebige Dummheiten schreiben; ihre Namen werden für immer erhalten bleiben!

Shenja steckte einmal den Kopf unter die Bank, um sich die Monogramme anzusehen; Shenitschka packte sie aber und begann sie, sich zum Lohne, so stürmisch zu küssen, daß sie mit den Beinen ausschlug und ein böses Gesicht machte.

Das war noch damals, als sie sich am Tage treffen konnten. Wer kann aber nachts bei Mondschein schnitzen?

»Die Vögel im Walde singen nicht mehr. Den wievielten haben wir heute?«

»Das sage ich nicht.«

»Warum? Was dir nicht einfällt!«

»Ich will dich sovielmal küssen; du kannst das Datum abzählen.«

»Dann wird sich herausstellen, daß heute der sechsundsiebzigste August ist!«

»Das wirst du sehen!« Und er küßte sie fünfmal.

»Ist das alles?«

»Heute ist der fünfte August.«

»Ach so!«

»Willst du, daß es der hundertste September wird? Ich verzähle mich nicht!«

»Laß die Dummheiten, Shenitschka. Bald müssen wir ja wieder in die Stadt. Dort wird es weder die Bank, noch den Mond, noch die Kugel geben!«

»Die Kugel können wir ja mitnehmen.«

»Glaubst du vielleicht, daß sie auch in der Stadt unsern Garten spiegeln wird? Du bist wie jener Herr, der aus Karlsbad eine ähnliche Kugel mitgebracht hatte und sehr empört war, als er in ihr den Karlsbader Kurpark nicht mehr sehen konnte. Du bist ganz erstaunlich dumm!«

»Die Kugel wird aber auch in der Stadt spiegeln können, wie wir uns küssen.«

»Wirst du sie denn immer mit dir herumtragen? Du bist ein Närrchen.«

»Es kommt, weil ich dich so sehr liebe!«

»Nein, es kommt, weil du auch bei dir im Garten eine Kugel aufgestellt hast. In deiner Kugel küßt sich niemand. Sie ist dumm und geschmacklos. Wie kann man sich nur eine knallrote Kugel anschaffen?! Pfui! Wenn du dich wenigstens mit mir beraten hättest . . .«

»Ich habe sie ja gar nicht angeschafft! Ich habe sie überhaupt nicht gesehen.«

»Jedenfalls ist eure Kugel garstig und die unsrige lieb. Mama hat vollkommen recht.«

»Was kann ich dafür?«

»Alles kannst du dafür. Nun sind alle verzankt, und das ist ärgerlich und dumm. Wiederhole es: ärgerlich und dumm.«

»Ärgerlich und dumm.«

»Und die Poluklassowsche Kugel ist garstig, und die unsrige lieb.«

»Und die unsrige lieb.«

»Nein, schwindele nicht! So mußt du es sagen: Und die Bosketkinsche ist lieb.«

»Und die Bosketkinsche ist lieb.«

»Und wo ist die erste Hälfte?«

»Welche Hälfte?«

»Die Poluklassowsche Kugel ist garstig?«

»Die Poluklassowsche Kugel ist garstig.«

»Und die Bosketkinsche ist lieb.«

»Und die Bosketkinsche ist lieb.«

Shenja schwieg unter ihrem Großmutterhut, und Shenitschka drückte ihr mechanisch die Finger.

»Warum brichst du mir die Finger? Bin ich denn ein Dienstmädel?«

»Wieso ein Dienstmädel?«

»So macht man nur einem Dienstmädel den Hof.«

»Ich weiß es nicht, ich habe noch niemals einem Dienstmädel den Hof gemacht.«

»Ich auch nicht.«

»Ich mache auch dir nicht den Hof.«

»Was tust du denn?«

»Ich liebe dich.«

»Nein, du liebst mich nicht, du bist nur verliebt; verstehst du, verliebt! Der Papa liebt die Mama, mich und meine Schwestern; man liebt Kuchen; und du bist verliebt. Ja?«

»Ich weiß nicht. Mir scheint, ich liebe dich.«

»Pfui, bist du fad! Ich will ja, daß es schöner klingt, und du bist so eigensinnig. Vielleicht einigen wir uns so: du liebst mich und bist in mich zugleich verliebt?«

Sie wurde etwas nachdenklich und sagte:

»Weißt du, ich glaube, daß du mich weder liebst, noch in mich verliebt bist.«

»Wieso? Shenja, was fällt dir ein?«

»Nichts fällt mir ein, aber es ist wahr. Wenn du mich liebtest, hättest du dir die rote Kugel nicht angeschafft.«

»Shenja, ich sage dir ja, daß ich sie gar nicht angeschafft habe.«

»Das ist mir ganz gleich. Ihr hättet eben die Kugel nicht.«

»Bist du aber heute eigensinnig!«

»Ich bin eigensinnig? Du bist selbst eigensinnig wie drei Esel! Also kurz und gut, so lange bei euch im Garten das rote Scheusal steht, sollst du dich nicht unterstehn, wieder herzukommen. Du darfst auch jetzt nicht auf unsere Kugel schauen! Sie ist lieb, sie ist nett, sie ist goldig! Ich liebe sie, und dich liebe ich nicht.«

Sie begann die Kugel zu küssen; als sie aber ihr Gesicht der glänzenden Fläche näherte, zeigte ihr das Spiegelbild einen solchen Mund und eine solche Nase, daß sie sofort den Streit vergaß und Shenitschka am Ärmel zupfte, damit auch er das Bild sehe.

»Schau nur, was für eine Fratze! Sieh dich auch selbst an. Ist das Shenitschka Poluklassow? In fünf Jahren wirst du so aussehen.«

Sie seufzte auf, richtete den Blick auf den Mondreflex an der Spitze ihres Lackschuhs und sagte wehmütig:

»So stehen die Sachen. Wann kommst du also wieder?«

»Selbstverständlich morgen.«

»Glaube nur nicht, daß ich Spaß mache!«

»Das glaube ich gar nicht.«

»Und bilde dir nicht ein, daß du mich anführen kannst.«

»Auf Wiedersehen morgen«, antwortete Shenitschka und blickte Shenja nach, wie sie durch den Garten zum Hause ging, wo das Fenster ihres Zimmers offen stand. Unterwegs wandte sie sich aber doch noch um und sagte zerstreut: »Also morgen.«


 << zurück weiter >>