Michaïl Kusmín
Die grüne Nachtigall und andere Novellen
Michaïl Kusmín

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Die grüne Nachtigall

Das grüne Haus glich so sehr einem Aufbau aus Pistazieneis, daß man wirklich erwartete, es werde sich sogleich in den Strahlen der Märzsonne auflösen: die Säulen werden zerschmelzen, die Gesimse heruntertropfen und der kleine morsche Balkon sich ganz langsam nach links, zur Kirche zu neigen und so hängen bleiben.

Die Hausbesitzer und die Sonne hatten offenbar Mitleid mit dem freundlichen alten Haus und ließen es in seinem Grün die wenigen Lenze, die ihm noch blieben, begrüßen; im Hofe war aber das offizielle und unverblümt einträgliche graue Ungetüm von einem Zinshause errichtet. Das Asphalttrottoir machte am niederen Zaune eine Biegung und floß direkt zur Einfahrt, auf der, wie auf einer Festung, eine Fahne flatterte, und sich im Winde ein Leinwandstreifen blähte, der die Inschrift trug: »Lazarett der Mieter des Umnowschen Hauses«.

Die Sonnenstrahlen drangen auch hierher; sie machten keinen Unterschied zwischen dem grünen Haus und dem grauen Zinsungetüm, zwischen dem Lazarett und den gemütlichen alten Zimmern.

Am Fenster glänzte ein Spielzeug: eine goldene Schachtel mit einer runden Rosette auf dem Deckel. Drehte man einen Schlüssel um, so klappte die Rosette auf, auf ihrer inneren Seite erblühte ein Rosenbusch, und ein flinker Vogel sprang heraus; er schüttelte den grünen Schwanz, schlug die blauen Flügel, und aus dem Innern der Schachtel klang etwas wie Nachtigallenschlag. Die Musik dauerte genau zwei Minuten, dann verschwand der Vogel, der Deckel klappte wieder zu – und Schluß. Der Vogel tauchte immer so rechtzeitig unter, daß ihn die Rosette beim Herunterklappen niemals traf; so war es eben eingerichtet: der Vogel machte husch, der Rosenbusch – klapp, die Mechanik – kling, und die Schachtel war wieder eine Schachtel wie jede andere.

Mit der Nachtigall spielte ein Kranker. Er hatte einen Schlafrock an, und es war unbekannt, ob er Soldat oder Offizier war. Im Lazarett kann man ja wie im Dampfbade keine Chargen unterscheiden. Auf eine seiner Wangen fiel ein Sonnenstrahl, auf der andern spielte der Reflex von einem im Krankensaale zufällig vergessenen Spiegel. Der junge Mann hörte gar nicht aufmerksam zu, und doch drehte er den Schlüssel, wenn das Spiel zu Ende war, immer von neuem um. Die Töne regten ihn anscheinend sehr auf; als der Sonnenstrahl zum vernickelten Bettpfosten hinüberglitt und der Reflex zur Zimmerdecke hinaufstieg, zeigte es sich, daß die Wangen des Kranken sehr bleich waren und auf seiner Stirne Schweißtropfen standen. Er fiel sogar in seine Kissen zurück, als ob er für einen Augenblick die Besinnung verloren hätte.

Die Schwester trat mit einem Teller gelber Bouillon in der Hand vor sein Bett. Vielleicht war sie eine Dame aus der Gesellschaft, obwohl ihr rundes, rotes, vom Kopftuch allzu eng umfaßtes und daher noch aufgedunsener erscheinendes Gesicht ebensogut einer Hökerin hätte gehören können.

»Ist Ihnen nicht wohl?«

»Nein, nein . . . Erfahren Sie bitte, wer diese Schachtel hergeschickt hat. Ich habe sie in der Lotterie gewonnen . . . Nummer neunundzwanzig.«

Die Schwester warf einen Blick auf den Boden der Schachtel.

»Die ist von Maria Lwowna Koroljow.«

»Wie? Wie?«

»Von Maria Lwowna Koroljow.«

»Es heißt wohl – Koroljkow?!«

»Vielleicht auch Koroljkow. Regen Sie sich aber doch nicht so auf!«

»Wohnt sie hier in diesem Hause?«

»Höchstwahrscheinlich. Alle Spenden kommen von den Mietern dieses Hauses.«

»Erfahren Sie es bitte, Schwester, und sagen Sie ihr, sie möchte zu mir herkommen!«

»Gut, ich werde mir Mühe geben. Beruhigen Sie sich nur!«

»Ich bin ja ruhig«, sagte lächelnd der Kranke und machte sich an die Bouillon.

Seine Hand zitterte so sehr, daß die Schwester den Löffel nehmen mußte. Nachdem er gegessen hatte, lehnte er sich in die Kissen zurück und wurde wieder unruhig.

»Schwester, sagen Sie es ihr bitte . . .«

»Ja, gut!«

»Sie sagen es nur so, zu meiner Beruhigung. Tun Sie es aber wirklich! Mein Gott, mein Gott!«

»Sind Sie aber aufgeregt! Nichts wollen Sie mir glauben. Also mein Ehrenwort: ich will alles erfahren und Ihre Bitte ausrichten.«

Der Kranke hörte offenbar gar nicht, was sie sagte; er hielt die Augen geschlossen, um sich ganz in ein Bild zu versenken: er sah den Bretterzaun auf dem Gute im Moskauer Gouvernement, den himbeerroten Sonnenuntergang und die weit auseinanderstehenden, dunklen Augen Maschas . . . Es war vor sechs Jahren . . . Auch die goldene chinesische Schachtel mit dem grünen Vogel gehörte in das gleiche Bild . . . Es war in der Mädchenkammer, in die er durch das Fenster hineingestiegen war. Mascha schrie auf und verhüllte ihren braunen Hals und die nackten Schultern mit ihrem Tuch; ihr Zorn war natürlich nicht echt. Sie zürnte auch später nicht, als man sie gewaltsam verheiratete. Nein, sie schwieg nur, war aber vor Empörung zu Stein erstarrt. Sie hielt sogar ihre Augen gesenkt, um das Feuer in ihnen zu verbergen. Wäre Aljoscha älter, so hätte er ihren zukünftigen Mann nicht beneidet. Sie sprach mit ihm wie mit einem ganz kleinen Jungen, wie mit einem Kind, als ob sie gar nicht ihn meinte, als ob er ihr im Wege wäre.

»Gewiß, niemand zwingt mich ja, zu heiraten, es ist aber beinahe doch so . . . Ich kann das verstehen, ich hätte es ja ebenso gemacht . . . Ich liebe dich, doch was kannst du tun, und was kann ich tun? Kein Geistlicher würde uns trauen, denn du bist noch zu klein . . . Man sagt, er sei ein guter Mensch; ich weiß es auch selbst: ich kenne ihn ja, Gott sei Dank, schon länger! Aber jetzt, jetzt wäre ich imstande, alle in Stücke zu reißen!«

Sie wollte ihm, wie einem kleinen Jungen, ein Spielzeug schenken: die chinesische Nachtigall. Er kann sich noch erinnern, wie er das Spielzeug empört ins Gras schleuderte; Mascha hob es aber auf und sagte: »Wie du willst!«

Und nun bekommt er von ihr wieder das gleiche Geschenk. Es ist derselbe Vogel; die gleichen Töne kommen aus der Schachtel, und genau so schön wie vor Jahren blüht der Rosenbusch.

Der Kranke blickte immer zum Fensterbrett, wo die Schachtel in mattem Gold glänzte.

Als man ihm am nächsten Tage sagte, Frau Koroljow werde gleich kommen, geriet er in solche Aufregung, daß die Schwester die Begegnung aufschieben wollte.

»Nein, ich bitte Sie! . . . Sie möchte gleich kommen! Ich bin ganz ruhig . . .«

Und er wurde wirklich ruhig.

In der Türe zeigte sich eine schlanke, dunkelgekleidete Dame, mit großen schwarzen Augen im gelblichen Gesicht.

»Ich war die ganze Zeit über auf dem Gut, bin erst gestern in die Stadt zurückgekehrt und hatte noch nicht Zeit, unsere lieben Gäste aufzusuchen«, sagte sie freundlich, doch etwas offiziell.

Alexej Dmitrijewitsch hatte sich vorgebeugt und starrte sie unverwandt an. Endlich sagte er leise:

»Sie haben sich verändert, ich kann Sie aber wiedererkennen . . . Die Augen sind zahmer geworden . . . ja, ja . . . darin liegt eben der ganze Unterschied . . .«

Die Dame sagte in unbestimmtem Tone:

»Was soll man machen? Alle verändern sich . . .« Nach einer Pause fuhr sie fort: »Ich glaube, Sie sind nur leicht verwundet? Wir haben ja hier lauter Leichtverwundete; es kommen aber auch sonderbare Komplikationen vor, besonders bei Quetschwunden.«

Der Kranke schien auf ihre Worte gar nicht zu hören. Er sagte:

»In der Familie nannte man Sie Mascha. Weder Marie, noch Marussja, noch Mura, noch Manja oder Mara, sondern Mascha.«

»Sie haben es erraten. Doch was folgt daraus?«

»Erkennen Sie mich nicht?«

Die Dame betrachtete ihn aufmerksamer und sagte:

»Nein. Es ist ja möglich, daß wir uns schon einmal begegnet sind. Aber ich glaube, daß ich Sie jetzt zum erstenmal im Leben sehe.«

»Als Sie noch nicht verheiratet waren, es war kurz vor Ihrer Verheiratung . . . Können Sie sich noch an den Knaben erinnern, der Sie so sehr liebte, der so verliebt war? . . .«

»Ist Nikolaj Ssergejewitsch gefallen?«

»Was für ein Nikolaj Ssergejewitsch?«

»Djornow . . . Verzeihen Sie: ich glaubte, Sie sprechen von ihm.«

»Nein, nein . . . Ich spreche von jenem Abend, als ich Ihre Nachtigall ins Gras schleuderte. Sie wollten sie mir wie einem Kinde schenken. Ihre Augen sind zwar zahmer geworden, aber mein Herz ist noch nicht zahm. Mascha, erkennen Sie mich denn nicht? Haben Sie den Aljoscha Chochlow ganz vergessen? Mein Kopf ist jetzt kurz geschoren, ich habe mich auch sonst verändert, und dann diese Lazarettkleidung . . . Sie können sich aber noch an mich erinnern?«

»Nein . . .« begann die Dame unentschlossen und stockte.

»Nun?«

»Es ist so sonderbar! Alles, was Sie sagen, habe ich wohl tatsächlich erlebt, aber einen Aljoscha Chochlow hat es in meinem Leben nie gegeben . . .«

»Sie heißen doch Koroljkow? Maria Lwowna Koroljkow?«

»Ich heiße allerdings Maria Lwowna, doch der Familiennamen meines Mannes ist Koroljow und nicht Koroljkow.«

»Ach so! Das ist ja der Namen Ihres Mannes!«

»Gewiß, ich bin doch verheiratet. Das wußten Sie aber schon!«

»Verzeihen Sie, ich hatte es mir nicht überlegt . . .«

Der Kranke drückte sein Gesicht in die Kissen und begann plötzlich zu schluchzen.

Die Dame wartete eine Weile und fragte ihn dann:

»Soll ich vielleicht die Schwester rufen? Sie sind so erregt!«

Der Kranke machte eine abwehrende Handbewegung und begann, fast ohne den Kopf vom Kissen zu heben:

»Es kann nicht sein, daß Sie es nicht sind. Sie haben es nur vergessen, nicht wahr? Woher denn sonst diese Ähnlichkeit, warum heißen Sie Mascha, warum habe ich solches Herzklopfen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Und warum kommt mir diese chinesische Nachtigall zum zweitenmal in die Hände?«

»Sie ist gar nicht chinesisch. Ich habe das Spielzeug einmal aus der Schweiz mitgebracht. Ich habe niemanden in China, und ich bin nicht so reich, um mir so teure Sachen kaufen zu können.«

»Seien Sie doch aufrichtig!«

»Ich spreche die Wahrheit.«

Der Kranke setzte sich etwas auf, ergriff ihre Hand und sah ihr lange ins Gesicht, ohne die Tränen, die ihm die Wangen hinunterliefen, abzuwischen.

»So ähnlich! So ähnlich!«

Maria Lwowna lächelte flüchtig und fragte:

»Haben Sie jene Mascha Koroljkow sehr lieb gehabt?«

Er nickte stumm mit dem Kopf.

»Auch ich . . . ich liebe jemanden, der jetzt im Felde ist . . . Und er ist nicht mein Mann . . .«

»Er heißt Nikolaj Ssergejewitsch Djornow?«

»Ja. Woher wissen Sie das?«

»Sie haben es ja vorhin selbst gesagt.«

»Ja, gewiß . . . Was wollte ich denn noch sagen? Ja . . . Sie tun mir wirklich sehr leid. Wenn es nicht so komisch wäre, würde ich wohl mit Ihnen weinen. Ich verstehe Sie so vollkommen, als ob ich jenes Mädchen wäre, das Sie geliebt haben. Wissen Sie was? Wenn die Erinnerungen Ihnen teuer sind und Sie nicht zu sehr bedrücken, so behalten Sie diese Schachtel zum Andenken an mich, obwohl sie nur aus der Schweiz ist. Die Nachtigall singt wirklich gar nicht schlecht.«

Sie drehte den Schlüssel um, und der grüne Vogel sprang heraus, schüttelte den Schwanz und schlug wie eine Nachtigall. Beide hörten schweigend zu. Als der Deckel zuklappte, nahm Chochlow Maria Lwowna wieder bei der Hand und sagte etwas unentschlossen:

»Ich danke Ihnen. Kommen Sie doch bitte, solange ich hier bin, öfters her. Das wird mir mehr Freude machen als dieser Vogel. Sie sehen ihr so ähnlich . . .«

»Wie das Schweizer Spielzeug dem chinesischen ähnlich sieht?«

»Lachen Sie nicht über mich! Wir werden von Ihrer . . . von meiner . . . von unserer Liebe sprechen . . . Nicht wahr?«

»Gut«, sagte Maria Lwowna und küßte ihn auf die Stirne. Und der Kranke sah, daß ihre Augen gar nicht so zahm waren, wie sie ihm im ersten Augenblick erschienen.

 


 


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