Michaïl Kusmín
Die grüne Nachtigall und andere Novellen
Michaïl Kusmín

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Zwecklose Erfolge

I.

Heute schien alles verrückt geworden zu sein: die Sonne, der Wind, die Straßen und die Menschen. Nach einer trüben, regnerischen Woche zerriß plötzlich der graue Schleier, der heitere Himmel kam zum Vorschein, und der Wind polterte mit den Türen und Fensterläden und raste die Stiegen von den Dachböden hinunter; die Federn auf den Damenhüten waren ganz zerzaust; die Scheiben der Schaufenster glänzten, und in ihnen spiegelten sich die Wolken und die Vögel, so daß man auf den ersten Blick nicht recht wußte, wo der Himmel und wo sein Spiegelbild war; alles schien sich in einem Riesenrade, wie es im Wiener Prater steht, zu drehen. Leute, die vorbeigingen und vorbeifuhren, waren zugleich an verschiedenen Orten zu sehen, die Automobilhupen sangen wie die altmodischen Posthörner, ein Regiment Soldaten zog mit seiner Messingmusik vorüber, und die Schweife der Pferde stiegen im Winde empor wie Fontänen.

Es war ein Feiertag, an den Häusern flatterten Fahnen, und die wirklichen Springbrunnen in den Anlagen bespritzten, vom Winde bewegt, das Publikum. Der Fluß, der sich noch nicht daran gewöhnen konnte, frei von Eis zu sein, flimmerte blau und weiß.

Viktor sprang aus dem Bett, trat ans Fenster und rief:

»Hurra! Mein Wunsch geht in Erfüllung. Seit vierzehn Tagen warte ich auf diesen Tag, und nun ist er angebrochen!«

Er hatte schon die Absicht, dem Diener zu läuten, erinnerte sich aber, daß seine Eltern verreist waren und er sich ganz allein in der Wohnung befand, wo die Möbel in grauen Leinenüberzügen steckten und die schlechten Bilder mit Mull verhangen waren. Die Uhr stand still, doch an einer Ecke des großen Tisches im Eßzimmer stand bereits sein Frühstück: Kaffee und eine Buttersemmel, das ihm die Portiersfrau hinaufgebracht hatte: das bedeutete, daß es zehn Uhr war.

Viktor hatte tatsächlich auf einen solchen Tag gewartet und auf ihn die größten Hoffnungen gesetzt. Jelisaweta Petrowna versprach ihm vor zwei Wochen, am ersten schönen Tag mit ihm einen Ausflug, entweder mit dem Dampfschiff die Newa hinauf oder mit der Eisenbahn in die Umgebung Petersburgs zu machen und einen ganzen Tag mit ihm zu verbringen; dieser Gedanke machte aus seinem Herzen ein ebenso lustiges Karussell, wie das, das er eben aus dem Fenster beobachtete. Ach, er hatte Jelisaweta Petrowna fast ebenso lieb, wie seine Bücher und seine Träume; vielleicht liebte er sie nur aus dem Grunde, weil sie in keinem Widerspruch zu den von ihm gelesenen Romanen und zu seinen Traumbildern stand.

Er schmiedete keinerlei Zukunftspläne, hatte aber auch keine Angst vor der Zukunft: er war an Erfolge gewöhnt. Das Glück verfolgte ihn tatsächlich auf Schritt und Tritt. So war es auch mit diesem Tag: er hatte ihn so sehnsüchtig erwartet, und nun war er da. Allerdings kam er erst nach vierzehn regnerischen Tagen; aber das ist doch nebensächlich. Die Hauptsache ist, daß er kam. Viktor konnte kaum erwarten, daß es elf schlug: vor elf durfte er ja Jelisaweta Petrowna nicht abholen. Er sagte dem erstaunten Portier lachend und freudestrahlend Guten Morgen, sprang in die erste beste Droschke und beeilte sich, so schnell als möglich im allgemeinen Trubel unterzutauchen. Es war ihm, als ob die Sonne, der Wind, die glänzenden Fensterscheiben, die blitzenden Trompeten, die Springbrunnen, Pferdemähnen, Flaggen und der Fluß sich in ihm selbst befänden. Vor den schwankenden Landungsstegen warteten Dampfer mit weißen Schornsteinen auf lustige und verliebte Passagiere. Er raste schon die Treppe hinauf, als ihm der Portier wieder hinunterrief:

»Sie wollen auf Numero fünf?«

»Ja. Warum?«

»Die Herrschaften sind seit Montag fort.«

»Fort? Wohin? Haben sie die Wohnung gewechselt?«

»Nein, sie wohnen noch immer hier. Aber sie sind für den ganzen Sommer aufs Land verreist, ins Smolensker Gouvernement.«

»Auch Jelisaweta Petrowna?«

»Alle sind fort, auch das Fräulein.«

Warum flatterten dann die Fahnen, warum spielten die Soldaten den lustigen Marsch?


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