Michaïl Kusmín
Die grüne Nachtigall und andere Novellen
Michaïl Kusmín

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II.

Am nächsten Morgen konnte ich mich kaum noch daran erinnern, wie wir den Abend verbracht hatten. Mein Kopf tat mir fürchterlich weh, und alle meine Gedanken waren durcheinander geraten; nachdem ich aber das Geld in meiner Börse nachgezählt, stellte ich fest, daß davon nur genau soviel fehlte, wieviel das gestrige Abendessen gekostet hatte, und daß folglich mein neuer Freund weder ein Dieb noch ein Bauernfänger war. Ich war wohl einfach diese Art von Vergnügungen noch nicht gewohnt. Ich hatte auch die Adressen, die mir mein Patron mitgegeben, nicht verloren, so daß alles, außer meinem Kopf, in der denkbar besten Ordnung war. Nachdem ich eine Tasse starken Kaffee getrunken, sah ich mir das Verzeichnis der Kunden genauer an.

1. Signore Antonio Cagliani, Borgo S. Apostoli, gegenüber dem Palazzo Turchi. Nicht zu stark klopfen. Drei Tropfen täglich auf den nüchternen Magen.

2. Signora Scolastica Ridi, jenseits des Arno, neben dem Palazzo Pitti. Vollständige Ruhe, keinerlei Fleischkost, jeden Morgen eine kalte Abreibung; soll wollene Strümpfe tragen.

Die übrigen Adressen lauteten ähnlich; mein Patron hatte jeder Adresse eine kurze Charakteristik des betreffenden und einige medizinische Ratschläge hinzugefügt, damit ich offenbar ein Gesprächsthema habe, falls die Herrschaften sich mit mir in Gespräche privater Natur einlassen wollten. Ohne lange nachzudenken, zog ich meine beste Kleidung an, nahm das Paket mit den Mustern unter den Arm und begab mich zum Borgo S. Apostoli. Der Bemerkung, die auf meiner Adressenliste stand, eingedenk, klopfte ich sehr leise an die alte Türe eines großen doch unschönen Hauses. Der Diener war wohl kein Liebhaber von langen Gesprächen: nachdem er mich in ein großes halbfinsteres Vorzimmer hereingelassen hatte, zeigte er mir mit einer unbestimmten stummen Gebärde auf eine Türe, hinter der Frauengesang schallte, und verschwand. Als auf mein wiederholtes Klopfen keinerlei Antwort erfolgte, öffnete ich vorsichtig den einen Türflügel und erblickte einen großen hellen Saal, in dessen Mitte ein klein gewachsener Mann in buntem Schlafrock stand, die eine Hand an das Herz gedrückt und die andere zur Decke erhoben, als ob er die Zuhörer auf das Deckengemälde, das den schlafenden Endymion darstellte, aufmerksam machen wollte. Der Herr hatte seinen Kopf so weit zurückgeworfen, daß ich sein Gesicht fast gar nicht sehen konnte; ich sah nur seinen weißen, fetten Hals, der entsetzlich bebte; dieser Herr war eben das Wesen, das mit der hohen Frauenstimme sang.

Es kam mir so ungemein komisch vor, daß dieser Mensch, der weder ein Knabe noch ein Jüngling, sondern ein erwachsener Mann war, wie ein Weib sang; ich muß aber gestehen, daß er es sehr kunstvoll machte und daß seine Stimme tatsächlich an die Töne eines Dudelsacks erinnerte, besonders wenn er folgende Worte sang:

Oh, ich unselige Semele!
Was habe ich, freche, gewagt?
Ewig trage
Ich die Plage,
Weine, klage
Und verzage
Vor heißer Liebesglut!

»Falsches Tempo, falsches Tempo, daß Euch der Teufel, Fräulein Nichte! Ihr habt offenbar gar keine Ahnung, was heiße Liebesglut ist! Ihr spielt wie eine Henne!«

Der Herr im Schlafrock lief in die Tiefe des Raumes, wo ich jetzt ein Klavier entdeckte, vor dem eine Dame saß. Ihr Gesicht konnte ich nicht sehen; dafür hatte ich jetzt Gelegenheit, die Gesichtszüge des Sängers zu betrachten, der sich offenbar für einen Kenner von heißer Liebesglut hielt. Er hatte statt einer Perücke ein grünes Seidentuch auf dem Kopfe, und sein Gesicht erschien so ungewöhnlich aufgedunsen, als ob sich unter der Haut überall kleine Polster befänden. Aber seine großen schmachtenden Augen und sein ziemlich ebenmäßiger Mund verliehen der formlosen Masse doch eine gewisse Anmut. Bei den schnellen Bewegungen, die er machte, kamen unter seinem Schlafrock die vollen und festen Formen der unseligen Semele vorteilhaft zur Geltung.

Da mir niemand von den beiden Beachtung schenkte, hüstelte ich einige Male recht laut. Nun zog der Herr aus seinem Schlafrock, den er direkt über dem Nachthemd trug, einen Lorgnon hervor und begann mich wie einen Käfer oder wie ein Möbelstück zu betrachten. Ich kam ein paar Schritte näher und wollte an ihn einige Begrüßungsworte richten, als er plötzlich auflachte, meine beiden Hände ergriff und sagte:

»Bitte ohne Komplimente, ganz ohne Komplimente! Ich verstehe vollkommen Eure Erregung, junger Mann, und weiß Euren Enthusiasmus wohl zu schätzen. Habt Ihr mich noch nicht in der Thisbe gesehen? Habt Ihr noch nicht jene Arie gehört, wo das unselige Mädchen über dem blutbefleckten Mantel des Pyramus Tränen vergießt? Nein, habt Ihr es noch nicht gehört? Dann habt Ihr gar nichts gehört! Ihr habt noch gar nicht gelebt, Ihr seid noch nicht geboren! Oh, das ist göttlich!«

Er sprach lange, noch immer meine Hände festhaltend, seufzte aber schließlich auf und schwieg, offenbar weil sein Herz vor Verzückung überströmte. Nun hielt ich es für angebracht, mich ihm vorzustellen und vom Zwecke meines Besuches zu sprechen.

»Natürlich seid Ihr ein Muster! Ein Muster der wahren Ehrfurcht vor dem Genie!«

»Ich habe Euch Muster gebracht und heiße Tommaso Guberti«, versuchte ich ihm klar zu machen.

»Ich verstehe Euch vollkommen! Ihr werdet morgen ›Pyramus und Thisbe‹ hören, wo ich und der Maestro einander übertreffen.«

Ich dankte dem Signore Cagliani und brachte die Rede wieder auf meine Muster, die ich ihm vorlegen wollte. Er stand einige Augenblicke schweigend da, lächelte mir dann zu, nahm mich am Arm und sagte mit gedämpfter Stimme:

»Auch das ist möglich, mein Freund. Enthusiasmus und Fleiß können alles überwinden. Wir wollen uns Eure Muster ansehen, aber das müßt Ihr erst verdienen. Ihr werdet doch an unserem Frühstück teilnehmen? Gestattet, Euch meine Nichte vorzustellen, die zwar von Musik nichts versteht, aber sonst ein gutes Mädchen ist. Clementina Cagliani.«

Das junge Mädchen erhob sich vom Klavier, und ich erkannte in ihr sofort die gestrige Dame mit dem rosa Sonnenschirm. Ich weiß nicht, ob auch sie mich erkannte; sie sah mich aber so an, daß ich annehmen mußte, sie hätte mich wohl erkannt.

Ihr Onkel zog sich zurück, um sich umzukleiden und ließ mich mit der jungen Dame allein. Kaum hatte Signore Cagliani das Zimmer verlassen, als das junge Mädchen mir sagte:

»Gebt schnell den Brief her!«

»Was für einen Brief?«

»Den Brief von Valerio.«

»Verzeiht, ich kenne keinen Valerio und habe keinen Brief bei mir.«

»Ihr kennt nicht Valerio Procacci und seid nicht von ihm geschickt? Ihr seid entweder dumm oder von übertriebener Ängstlichkeit.«

In diesem Augenblick kam der berühmte Sänger zurück. In gewöhnlicher Kleidung sah er noch viel dicker und kleiner aus. Schon auf der Schwelle rief er mir lächelnd zu: »Frühstücken! Frühstücken! Habt Ihr schon Clementinas Bekanntschaft gemacht? Ich beneide Euch: Ihr werdet mich morgen zum erstenmal in der Thisbe hören. Diese Rolle liegt mir ganz besonders. Ich habe in ihr jedesmal einen berauschenden Erfolg! Viele nennen mich sogar Signore Thisbe . . . Das ist doch nicht übel, was? Ja, in Florenz gibt's genug geistreiche Leute!«


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