Michaïl Kusmín
Die grüne Nachtigall und andere Novellen
Michaïl Kusmín

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VII.

Der zur Hälfte abgeknabberte Mond ging immer später auf und leuchtete immer trüber, indem er den Dieben versprach, ihnen recht bald seine volle Gunst zuzuwenden. Aber es war noch immer so hell, daß Shenja sehen konnte, wie Shenitschka an der gewohnten Stelle, wo das Gras im Bosketkinschen Garten bereits ausgetreten war, über den Zaun kletterte. Als er heute oben auf dem Zaune saß, sich als schwarze Silhouette gegen den weniger schwarzen Himmel abhebend, und noch nicht Zeit hatte, hinunterzuspringen, rief ihn Shenja beim Namen. Im ersten Augenblick erkannte er gar nicht, daß sie es war, denn der Anruf lautete: »Jewgenij Alexandrowitsch!«

»Wer ist's?«

»Ich bin es – Shenja Bosketkin.«

»Warum so offiziell?«

»Weil ich jetzt sicher weiß, daß Sie mich gar nicht lieben, und Ihnen erkläre, daß es zwischen uns aus ist.«

»Was ist los?« Der junge Mann war mit einem Satz unten.

»Was ist los? Sag es noch einmal!«

»Wie kann ich es sagen, wenn du mir den Mund mit deinen Lippen zudrückst?«

»So, ich lasse dich los: sprich jetzt!«

»Es ist aus zwischen uns!« sagte das Mädchen halblaut, doch sehr schnell. »Denn es kann nicht so weiter gehen. Es ist lächerlich und ärgerlich, und zugleich empörend, einfach empörend!«

»Was ist empörend?«

»Dieses dumme Getue mit den Kugeln. Wenn du mich liebtest, wenn du Achtung vor mir hättest, so könntest du es natürlich so einrichten, daß es nicht so weit gekommen wäre. Ja, das hätte ein jeder getan, der mich nur ein wenig liebte. Und jetzt sehe ich, wie schwarz deine Seele ist und daß du mich gar nicht liebst. Diese ewigen Zänkereien und Duellforderungen . . . Glaubst du vielleicht, daß ich dir zuliebe von zu Hause weglaufe? Papa wird dir meine Hand um nichts in der Welt geben wollen . . .«

»Du willst wohl einfach sagen, daß du mich nicht mehr liebst! Wozu die faulen Ausreden?«

»Wieso faule Ausreden? Wer gebraucht faule Ausreden? Das ist ja unerhört! Wer hat meinen Namen unter der Bank eingeschnitten? Wer hat ewige Liebe geschworen? Wer ist jeden Abend zu uns in den Garten geklettert?«

»Nicht so laut, Shenja!«

»Nicht so laut? Was schreist du mich an? Wirst du mich vielleicht auch noch schlagen – das fehlte noch gerade!«

»Ich meine nur . . .«

»Alle seid ihr so, wenn man euch zuviel Freiheit läßt! Du tust nichts anderes, als mich beleidigen und kränken, weil du dir einbildest, daß ich dich liebe. Nein, Sie sind im Irrtum, Jewgenij Alexandrowitsch: ich bin nicht so dumm, und meine Liebe ist nicht so groß, daß ich es dulden könnte, daß . . .«

Shenja kam nicht weiter, weil Shenitschka ihr in diesem Augenblick den Mund mit der Hand zuhielt und sie selbst in den Schatten zog. Sie war vor Empörung ganz starr, und als sie wieder zu sich kam, sah sie sofort ein, daß sie gar keinen Grund hatte, sich zu empören. Jemand ging, oder lief vielmehr draußen hinter dem Zaune und gerade zur Stelle, wo sie sich beide befanden. Es waren schwere Schritte von mehreren Personen, und bald konnte man auch ihren fliegenden Atem hören.

»Wer ist es, Shenitschka? Wer ist es?« fragte das Mädchen erschrocken; sie hatte den Streit schon wieder vergessen. Durch den Spalt im Zaune konnte man zwei rennende Gestalten unterscheiden, zwei weitere Gestalten folgten ihnen auf den Fersen, und in einiger Entfernung, am Rande des Gehölzes, waren noch einige Schatten zu sehen.

»Wer ist es?« fragte Shenja wieder.

»Sie müssen bald zurück sein. Ich habe solche Angst, daß man sie dort erwischt«, erklang es plötzlich im Garten, in nächster Nähe des Liebespaares.

Veronika Platonowna schlich leise zum Zaun, ihren halbangekleideten Mann an der Hand führend. Eine Wolke verdeckte in diesem Augenblick den Rest des Mondes. Frau Bosketkin, die von ihrer Tochter nur durch eine Rosenhecke getrennt war, neigte sich zum Spalt im Zaune. Shenja faßte Shenitschka unwillkürlich am Ärmel.

»Saschuk! Dorimedont! Nicht auslassen! Schneller!« schrie plötzlich Veronika Platonowna, und sofort war alles klar.

Aus dem Gehölz klang es: »Maschuk! Lawruschka! Haltet die Diebe! Rennt, was ihr könnt!«

Shenja sah gar nicht hin und umschlang Shenitschkas Hals.

Die beiderseitigen Eltern suchten die Rennenden durch ermutigende Zurufe anzufeuern; die Fersen flimmerten nur so in der Luft, die Glaskugel in Saschuks Händen gab sich redliche Mühe, auch ohne den Mond, der sich hinter die Scheune zurückgezogen hatte, zu glänzen.

»Wartet nur!« schrien die Verfolgenden.

»Fällt uns gar nicht ein!« erwiderten die Davonlaufenden.

»Gemeinheit! Diebe!«

»Ihr seid selbst Diebe! Es ist unkorrekt!« riefen die Zuschauer einander zu. Alexander Jakowlewitsch stolperte und verlor seinen Zwicker, was diesseits des Zaunes großen Jubel auslöste.

»Ganz recht ist's dir geschehen, du hundsgemeiner Duellant!«

»Schnell herüber, Saschuk! Klettere doch! Wirf die Kugel her, ich fange sie auf!« heult Frau Bosketkin ganz außer sich, indem sie die Arme zwei Ellen weit auseinanderspreizt. Ein Sturz im Finstern, Keuchen, Schreie der Verfolgenden, ein Flug durch die Luft, der Stock bleibt im Boden stecken, und etwas zerschellt am Kopfe Veronika Platonownas. Saschuk macht einen Purzelbaum. Es ist noch gut, daß der Mond nicht mehr scheint!

In der Stille nichts als Atmen und Stöhnen. Von jenseits des Zaunes fragt jemand: »Ist sie kaput? Es hat ja etwas geklirrt! Oder war es Ihr Kopf?«

Der Schlag war für Frau Bosketkin wohltuend.

In freundnachbarlichem Tone sagte sie:

»Nun haben Sie's erreicht! Um ein Haar wäre mir der Schädel zersprungen. Sie sollten sich doch schämen, Anna Lwowna und Alexander Jakowlewitsch! Wir sind zwar zum Teil auch selbst an allem schuld . . .«

»Natürlich sind auch Sie schuld, um so mehr, als Sie angefangen haben«, sagte Frau Poluklassow über den Zaun.

»Angefangen haben zwar Ihre Kinder; aber selbst wenn wir angefangen hätten, so wären wir doch nicht so weit gegangen und hätten jedenfalls keine Sekundanten geschickt.«

»Na ja! Sie haben unsere Sekundanten auch schön empfangen . . .!«

»Ganz so wie sie es verdienten. Doch jetzt, wo beide Kugeln kaput sind, könnte man wohl dem Streit ein Ende machen. Jedenfalls ist Dmitrij Pawlowitsch zu jedem Schritt bereit, selbst zu einem Versöhnungskuß . . .«

»Da Sie sich entschuldigt haben, so hat auch Alexander Jakowlewitsch nichts dagegen einzuwenden.«

Frau Bosketkin war so sehr von Friedenssehnsucht ergriffen, daß sie die Herausforderung, die in den letzten Worten lag, überhörte. Sie schob ihren Mann zum Zaun, wo bereits der von seiner Frau vorgeschobene Gegner stand. Es war wirklich ein Glück, daß der Mond nicht mehr schien!

Kaum war der Versöhnungskuß, den die beiden Herren ausgetauscht hatten, verhallt, als im Gebüsch wie ein Doppelecho zwei weitere Küsse folgten.

»Waren Sie das, Veronika Platonowna?«

»Sie sind wohl verrückt! Wen sollte ich küssen? Ich dachte, das wären Sie gewesen . . .«

»Nein, das waren wir nicht.«

»Mama!« schrie Saschuk plötzlich ganz entsetzt: »Da steckt ja ein Stiefel aus dem Busch, und im Stiefel ein Bein!!«

Als Shenja und Shenitschka herauskamen, wurde das Mädchen sofort sehr redselig und begann ausführlich darüber zu sprechen, wie leid ihr die zerschlagene Kugel tue. Veronika Platonowna beugte sich zu ihr vor und fragte:

»Was war denn das soeben? Wir haben es ja gehört!«

»Nichts Besonderes. Auch wir haben uns versöhnt.«

»Das ist ja schön.«

Shenitschka fuhr auf:

»Morgen gehe ich in die Stadt und bringe Ihnen eine neue Kugel mit.«

»Nein, lieber nicht!« entgegneten alle. Und Shenja fügte leise hinzu:

»Die Bank ist ja auch ohne die Kugel die gleiche geblieben.«

Die gefransten Wolken erglänzten im ersten gelblichen Morgenlichte, und der Hirt blies wie in der Oper »Schneewittchen« die Schalmei.

 


 


 << zurück weiter >>