Michaïl Kusmín
Die grüne Nachtigall und andere Novellen
Michaïl Kusmín

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III.

Barssukow ließ es nicht bei der bloßen Drohung bleiben und sperrte Maschenjka in ihrer Kammer ein. Das war für sie um so bedrückender, als sie gar nicht wußte, wann diese Gefangenschaft ein Ende nehmen sollte: Nach Maschenjkas Eingeständnis hatte es ja keinen Zweck mehr, zu untersuchen, wieso Iljitschewskijs Buch in das Gartenhaus geraten war. Worauf sollte sie denn noch warten? Daß ihr Vater mit Grigorij Alexejewitsch abrechne und ihn gänzlich vernichte? Es war noch ein Glück, daß, nachdem Markowna das beruhigendste Zeugnis über Maschenjkas Zustand gegeben hatte, man der Gefangenen erlaubte, Fenja bei sich zu haben; folglich konnte sie gewisse Beziehungen zu der Außenwelt unterhalten und hören, wie sich der Zorn ihres Vaters äußerte und was für Maßregeln er anscheinend ergreifen wolle; doch über den Geliebten, dessen Schicksal sie mehr interessierte als ihr eigenes, hörte sie nichts. Er hatte wohl auf irgendeine Weise vom Unglück, das Maschenjka betroffen, erfahren: er pfiff nicht mehr, kam nicht ins Gartenhaus und schickte keine geheimen Botschaften. Fenja kam täglich mit dem immer gleichen, wenig tröstlichen Bericht: er hat weder gepfiffen, noch sonst etwas von sich hören lassen, noch Wassilij geschickt.

Erst am fünften Tage brachte Fenja eine Nachricht, welche die schon ohnehin bestürzte Maschenjka vollends verwirrte. Was Fenja berichtete, klang so sonderbar, daß Fräulein Barssukow in äußerste Verzweiflung geraten wäre, wenn sie die letzte Mahnung Grischenjkas nicht im Gedächtnis behalten hätte.

Eine Räuberbande, die sogar eine Kanone mit sich führte, hätte das Iljitschewskijsche Gut überfallen und den jungen Herrn entweder getötet oder gefangen genommen; jedenfalls sei er spurlos verschwunden. Wie wäre es nun Maschenjka in ihrem Gefängnisse zumute, wenn sie nicht beständig an die Worte dächte: »Glaube an kein Gerede und an kein Gerücht; tue so, als ob du glaubtest, aber im Herzen glaube nichts!«

Gehörte aber dieses Gerücht zu denjenigen, an die sie nicht glauben sollte, oder war irgend etwas geschehen, was der junge Iljitschinskij gar nicht hatte vorausahnen können? Unsere Heldin tat daher nicht nur so, als ob sie bestürzt und betrübt wäre, sondern war in der Tiefe ihres tapferen doch zärtlichen Herzens tatsächlich sehr bestürzt und betrübt.

Im Hause schien alles seinen gewöhnlichen ruhigen Gang zu gehen; aus dem Anrichtezimmer klang wie gewöhnlich das Klirren der Bestecke und aus dem runden Salon ein Haydnsches Menuett; vor Maschenjkas Fenstern gingen stets die gleichen Menschen vorüber, als ob die geheimnisvollen Räuber das Iljitschewskijsche Gut gar nicht überfallen hätten, als ob Grischenjka gar nicht verschwunden (war er tot? oder in der Gefangenschaft?) und seine Geliebte gar nicht eingesperrt wäre. Es war nicht Wassilij, der die Nachricht von den Räubern überbracht hatte; niemand wußte, wieso und auf welchem Wege sie gekommen war, so daß Maschenjka unmöglich bestimmen konnte, ob das Gerücht mit Grigorij Alexejewitschs Wissen verbreitet wurde, oder ob ihm etwas Unvorhergesehenes zugestoßen war, was gar nicht zu seinem Plan gehörte.

Pjotr Trifonowitsch äußerte nach dem ersten Wutausbruch die Absicht, gleich am nächsten Morgen zum Nachbar zu fahren und ihn windelweich zu prügeln; aber nachdem er sich die Sache überlegt und mit seinem Sohn gesprochen hatte, beschloß er, Iljitschewskij zu einem Duell zu fordern: der letztere war zwar »eine Kanaille und ein Freimaurer«, aber immerhin ein Edelmann, und es ging nicht an, in seiner Person den ganzen Stand herabzusetzen. Inzwischen kam aber die Nachricht vom Räuberüberfall und vom Verschwinden Grigorij Alexejewitschs. Wie diese Nachricht nach Barssukowka gelangt war, wußte, wie gesagt, niemand; aber am nächsten Morgen fand man auf dem Balkon einen heimlich zugeworfenen Brief folgenden Inhalts:

»Wir dürsten nicht nach Eurem Blut und Leben; wir wollen nur, ohne erst die Entscheidung des himmlischen Gerichts abzuwarten, uns von Eurem Überflusse das nehmen, dessen uns die Unvollkommenheiten der menschlichen Satzungen und die Zufälligkeiten Fortunas beraubt haben. Erwartet uns daher am kommenden Dienstag ruhig und furchtlos, ohne Widerstand zu leisten, und liefert uns sämtliche Schlüssel von allen Räumen und Kästen, Truhen und Schubladen aus. Beobachtet uns nicht und setzt friedlich Euer Tagewerk fort oder betet; wir können andernfalls nicht versprechen, daß die Sache ohne Blutvergießen ablaufen wird, was auch wir als eine gemeine und ehrlose Tat bedauern würden. Denkt nicht an Verteidigung, denn wir haben genügend Gewehre, Hände und Geschütze, um unser Ziel um jeden Preis zu erreichen. Ihre Arme sind schwach, Ihr Sohn versteht nicht mit Waffen umzugehen, und das Hausgesinde ist zuchtlos und zu jedem Verrat geneigt. Wir sagen das Ihnen, weil wir mit Ihren grauen Haaren Mitleid haben und es vorziehen würden, die Fehler Fortunas ohne Gewaltmaßregeln zu korrigieren. Aber wir werden vor nichts stehenbleiben.«

Das war mit Kreide auf blauem Packpapier ziemlich orthographisch, wenn auch mit ungelenker Hand geschrieben.

Der kleine Kusjka brachte diese Botschaft seinem Herrn, der anläßlich des Feiertages noch im Bette lag, zugleich mit dem Morgentee herein.

»Was ist das?«

»Belieben es selbst zu lesen. Ich hab's auf dem Balkon gefunden.«

Nachdem Pjotr Trifonowitsch den Brief gelesen, schwieg er eine Weile und sagte dann mit leiser Stimme: »Ilja Petrowitsch soll sofort herkommen«, während seine Finger den Marsch des Preobrashenskij-Regiments trommelten, was immer ein Zeichen seiner größten Erregung war. Als Ilja Petrowitsch ins Schlafzimmer kam, befand sich sein Vater noch immer in finsterer, stummer Aufregung.

Schweigend reichte er dem Sohn den blauen Fetzen, und als dieser die Botschaft durchgelesen hatte und seine Augen fragend auf den Vater richtete, fragte der alte Barssukow mit leiser Stimme:

»Nun, was sagst du dazu, Herr Sohn?«

»Ich verstehe es nicht ganz, Vater. Es ist zwar zusammenhängend und orthographisch geschrieben, doch die darin enthaltenen Gedanken sind von einer gewagten Kühnheit.«

Pjotr Trifonowitsch sprang, nur mit seinem Nachthemde bekleidet, aus dem Bette und schrie:

»Eine unerhörte Frechheit! Eine ganz ungewöhnliche Frechheit! Mir, Pjotr Barssukow, dem Obersten im Preobrashenskij-Leibgarde-Regiment a. D. wagt man solche Briefe zu schreiben?! Was bin ich, ein Mensch oder eine Vogelscheuche? Nein, so dumm bin ich nicht! Orthographisch! Ich will sie Orthographie lehren! Ich werde sie mit Heugabeln an der Dorfgrenze empfangen lassen, werde selbst und eigenhändig aus zwei Gewehren schießen! Orthographisch!«

Ilja hörte schweigend zu, ohne in den Worten des Vaters eine Spur von Logik und Überlegung zu suchen. Dann hob er sein bleiches Gesicht und sagte ruhig, mit leicht gekrümmten Lippen:

»Wenn ich nach meinem Gewissen und meiner Überzeugung' sprechen darf, so muß ich dir folgendes sagen: Deine edle Entrüstung, Vater, erscheint mir viel barbarischer, als der Brief dieser Landstreicher und Strauchdiebe, für die du sie wahrscheinlich hältst. Dich dürstet nach Blutvergießen, und du setzst das Leben deiner Nächsten der größten Gefahr aus, während sie eine unblutige Gewalttat im Sinne haben, vielleicht nur, um tatsächlich ihre verletzten Menschenrechte wieder herzustellen.«

Pjotr Trifonowitsch ließ sich in einen Sessel fallen und sagte leise, das blaue Papier krampfhaft zusammenballend:

»Jetzt sehe ich, daß die Übeltäter in einem Punkte wirklich recht haben: nicht nur im faulen und zuchtlosen Hausgesinde, sondern auch in meinem eigenen Sohne habe ich einen Verräter!«

Dann erhob er sich lautlos von seinem Platz, was bei seiner Korpulenz höchst auffällig war, ging aus dem Zimmer und schlug die Türe hinter sich heftig ins Schloß. Ilja folgte ihm in den Korridor, ergriff ihn am Ärmel des Nachthemdes und sagte in sichtlicher Aufregung, die so wenig zu seinem sonst so philosophischen Benehmen paßte:

»Vergib mir, Vater, wenn ich dich verletzt habe; wenn du dir aber die Dinge etwas überlegst, so wirst du zugeben müssen, daß ich recht habe.«

Der alte Barssukow wandte sich nach seinem Sohne gar nicht um. Er setzte seinen Weg fort und brummte:

»Ich will mit Leuten sprechen, die mich besser als mein eigener Sohn verstehen.«

Da Ilja Petrowitsch seinen Vater noch immer am Ärmel festhielt, riß sich jener mit Gewalt los und ging auf die Hintertreppe hinaus. Der Sohn rief ihm noch die Worte nach: »Denke wenigstens an Maschenjka«, worauf keine Antwort erfolgte. Ilja zuckte wehmütig die Achseln, setzte sich ans Klavier und begann Haydn zu spielen, während vor der Hintertreppe das »faule und zuchtlose« Hausgesinde, sich die Rücken und die struppigen Köpfe kratzend, zusammenkam.

Aber abends, als Ilja zum drittenmal den »Emile« las und an die richtige Erziehung seiner zukünftigen Kinder dachte, ging die Türe auf, und Pjotr Trifonowitsch, der in diesem Augenblick sehr verlegen und gedrückt aussah, kam oder schlich vielmehr ins Zimmer. Er setzte sich schweigend in die Ecke bei der Kommode. Als Ilja Petrowitsch seinen Vater in dieser ungewöhnlichen Verfassung sah, richtete er an ihn die Frage:

»Was sagten dir die Leute, die dich besser als dein eigener Sohn verstehen?«

Der Vater wischte sich mit seinem großen roten Schnupftuch den Schweiß aus der Stirne und begann mit plötzlicher Leidenschaftlichkeit:

»Zum erstenmal muß ich dergleichen erleben! Gott sei mein Zeuge, daß es mir schwer fällt, dieses zuzugeben: du hattest aber recht. Was kümmern sich diese Tagediebe um mein Gut und meine Ehre?! Sie verdienen alle blutig gepeitscht zu werden; da ich aber den Feind in der Nähe weiß, kann ich mich dazu jetzt nicht entschließen. Ich will den Überfall geduldig abwarten und den Taugenichtsen erst später zeigen, was es heißt, das Gut und Blut des Herrn feige im Stich zu lassen!«

Plötzlich brach er in Tränen aus, stützte sich mit seinem ganzen feisten Körper auf die schwache Schulter des Sohnes und flüsterte:

»Ich dachte nicht, daß ich so etwas erleben werde, mein Kind!«

Der Sohn umarmte etwas ungelenk den Vater und fragte:

»Du hast dich also entschlossen, meinem Rate . . . meiner Bitte zu folgen?«

»Ja. Doch das fällt mir, weiß Gott, nicht leicht!«

Ilja schwieg eine Weile und sagte dann tröstend:

»Diese Augenblicke sind natürlich wenig angenehm, doch in keiner Weise erniedrigend. Sie aufzuhalten, steht nicht in deiner Macht, ebenso wie du das Aushängeschild nicht aufhalten kannst, das dir auf den Kopf fällt. Wer wird sich deswegen Vorwürfe machen? Jedenfalls hast du dir nichts vorzuwerfen. Darf man denn einem Bauern zürnen, weil er sich mit den Fingern schneuzt, da er kein Schnupftuch besitzt und auch von Kind auf so erzogen ist? Was darf man denn auch von Räubern verlangen?«

Pjotr Trifonowitsch lauschte mit gesenktem Kopfe und immer noch schluchzend den Worten des Sohnes.


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