Michaïl Kusmín
Die grüne Nachtigall und andere Novellen
Michaïl Kusmín

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IV.

Viktor war so aufgebracht, daß er, als er nach Hause kam, im ersten Augenblick gar nicht merkte, daß auf seinem Tische zwei Briefe lagen. Was konnten das für Briefe sein? Von wem? Existierte denn überhaupt jemand in der Welt? Niemand und nichts durfte existieren! Natürlich existierte aber mancherlei: die verlassene Wohnung, die Stadt, der Himmel, der sich eben aufzuheitern begann, und die beiden Briefumschläge auf dem Tisch. In einem der Umschläge lag Geld, das ihm Kosakow gebracht hatte, und im andern ein langer Brief von seiner Schwester, die ihm mitteilte, daß ihr Zustand sich verschlechtert habe und daß sie am nächsten Tage, solange sie sich noch auf den Beinen halten könne, nach Petersburg kommen wolle, um einen Arzt zu konsultieren.

»Ich schreibe es dir in aller Eile, damit du nicht inzwischen nach Kaluga reist, so daß wir einander verfehlen.«

Viktor mußte diesen Brief zweimal lesen, ehe er seinen Sinn erfaßte: so ferne waren seine Gedanken von seiner Schwester, von Kosakow und von allem in der Welt.

Der vom Regen reingewaschene Neumond hing schief über einer nahen Kirchenkuppel.

»Was soll ich also tun? Ich will nun versuchen, ohne Liebe durchs Leben zu kommen, wie zum Beispiel Kosakow. So ist es vielleicht amüsanter, und man fühlt sich freier. Ich möchte wetten, daß er jetzt in einem Varieté sitzt; dann wird er mit irgendeinem Mädel soupieren und sie morgen vergessen. Sie wird nicht den geringsten Einfluß auf sein Leben haben.«

Verschiedene Romane fielen ihm ein, in denen von solchen abgestumpften Lebemännern die Rede war. Das könnte sogar recht poetisch werden! Vielleicht war es auch ein Wink des Schicksals, das ihm zugleich eine Absage und das Geld, das nun überflüssig war, schickte. Das konnte man ja schließlich auch als einen Erfolg auffassen.

Zu seinem Erstaunen wandte sich niemand nach ihm um, als er zugleich mit anderen Leuten das Sommeretablissement betrat. Das banale rosa Licht der Lampions fiel auf die fensterlose Mauer eines Nachbarhauses. Die Gipsbüsten Tschaikowskijs und Fonwisins blickten höchst selbstgefällig von ihren Sockeln herab. Die Soldaten auf dem Orchesterpodium blähten mit komischem Ernst ihre rasierten Backen auf, indem sie irgendeinen schmachtenden Walzer bliesen. Die Mädchen blickten auf die fliederfarbene Leuchtfontäne und dachten an das Souper.

Viktor achtete fast gar nicht auf das Gesicht seiner Dame und gab sich Mühe, so wenig als möglich zu sprechen und dann auch nur von solchen Dingen, die für ihn nur in diesem Augenblick Bedeutung hatten, und die er bis morgen vergessen haben würde. Sie war geschminkt, doch nicht abstoßend, sprach ohne schlüpfrige Anzüglichkeiten und schien nicht übermäßig habgierig: das war alles, was Viktor brauchte.

Er hatte auch für keinen Augenblick das Bewußtsein, daß er sich amüsiere, und eilte nach Hause, gleichsam um eine verdammte Pflicht zu erfüllen. Er spürte weder Gewissensbisse, noch Ekel, noch einen inneren Zwiespalt; das Ganze kam ihm nur so furchtbar uninteressant vor.

Als er mit ihr beim Morgengrauen heimfuhr, kam ihm plötzlich der Wunsch, ihr zu erzählen, wie er als Knabe einmal den Sommer in Finnland verbracht hatte und jeden Morgen zum Meere baden ging. Dann fiel ihm aber ein, daß diese Erzählung ihn irgendwie binden würde und dadurch ein wenn auch noch so schwaches Band zwischen ihm und seiner Begleiterin entstehen könnte. Darum beschränkte er sich auf die Bemerkung:

»Vor Sonnenaufgang geht immer dieser Wind. Ist Ihnen nicht kalt? Wir sind übrigens gleich da.«

Sie wollte Sorglosigkeit und Frivolität heucheln; als sie aber merkte, daß ihr Begleiter es gar nicht verlangte, gab sie jede Mühe auf und wurde gleichgültig, sachlich und ein wenig langweilig.

Als es im Vorzimmer klingelte, dachte Viktor im ersten Augenblick, daß es ein Telegramm von seiner Schwester sei: sie ist sicher tot! Draußen auf der Treppe stand aber im ersten Morgenlichte Jelisaweta Petrowna.

»Sie sind natürlich über meinen Besuch erstaunt und chokiert. Warten Sie einen Augenblick, ich will Ihnen alles sagen. Wenn es erlaubt ist, eine Liebeserklärung auf der Fensterbank im Treppenhause zu machen, so sollte es auch erlaubt sein, die Antwort auf eine solche Erklärung um sieben Uhr früh zu geben. Wollen Sie mir vielleicht gestatten, daß ich eintrete?«

Viktor schwieg und hielt das Ganze für einen Traum. Vor lauter Aufregung sprach Jelisaweta Petrowna viel zu trocken, beinahe böse:

»Ich hatte wirklich Kopfschmerzen, als ich Sie bat, mich allein zu lassen, doch später . . . Ihre Worte hatten mich zu sehr aufgeregt. Ich konnte die ganze Nacht nicht einschlafen und mußte immer an Sie denken. So entschloß ich mich, jedem Anstand zum Trotz, Sie in aller Frühe aufzusuchen. Ich will Ihnen sagen, daß ich Ihre Liebe erwidere und daß ich Sie schon seit längerer Zeit liebe. Sie werden mir zugeben, daß unsere Liebeserklärungen einer gewissen Originalität nicht entbehren . . . Lieber Viktor, was ist mit Ihnen? Warum sagen Sie nichts?«

Sie fing die Richtung auf, nach der Viktor starrte, und blickte gleichfalls hin. Auf dem grauen Leinenüberzug eines Sessels lag eine weiß und braun gestreifte Bluse und daneben ein Hut, an dessen zwei Zipfeln kleine Bündel künstlicher Kirschen baumelten. Jelisaweta Petrowna errötete, richtete ihren Blick auf Viktor und sagte:

»Ich hatte von Kind auf die Angewohnheit, alles zur möglichst unpassenden Zeit zu tun. So ist es auch jetzt. Ich hoffe, Sie werden diskret sein. Unsere Aussprache und mein Besuch bei Ihnen soll für alle ein Geheimnis bleiben, und womöglich auch für Sie selbst.«

 


 


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