Michaïl Kusmín
Die grüne Nachtigall und andere Novellen
Michaïl Kusmín

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Ein Ehebruch

Den 5. Juli.

Der Traum der letzten Nacht rief in meiner Erinnerung wieder alles wach, was ich so gerne vergessen möchte. Will ich es denn auch wirklich vergessen? Ganz gewiß, und doch denke ich seit drei Jahren an nichts anderes. Das ist beinahe mein Lebensziel. Wie seltsam: mein Lebensziel ist etwas, was ich für immer vergessen will! Ja, eben weil ich es wissen will, weil es meine Ruhe und mein Gewissen verlangt. Ich rufe jenes seltsame und unangenehme Gefühl tagtäglich in meinem Gedächtnisse wach, um mich gleichsam für immer davon zu befreien. Es ist sehr grausam gegen mich selbst, aber ich kann nicht anders.

Unsere Kleine war noch nicht auf der Welt; ich war erst seit einem Jahre mit Artur verheiratet. Er mußte nach Amerika, um dort seine Geschäfte zu liquidieren. Ich wollte nicht einmal diese paar Wochen ohne ihn sein und entschloß mich zu der beschwerlichen und langweiligen Reise über den Ozean. Die entsetzliche Katastrophe, die sich mit der »Königin Maud« zugetragen hat, ist jedermann bekannt; unter den Passagieren dieses Schiffes befanden sich auch mein Mann und ich. Es geschah beim ersten Morgengrauen, als alle noch schliefen. Die Schlaftrunkenheit der Passagiere vergrößerte natürlich die Gefahr, stumpfte aber zugleich das Gefühl für sie etwas ab: viele hielten die Wirklichkeit für eine Fortsetzung eines schweren Traumes. Die am Leben Gebliebenen mußten etwa acht Stunden auf der Seitenfläche des Schiffskörpers verbringen: das Schiff hatte sich auf die Seite gelegt und ging allmählich unter. Ein Teil der Passagiere wurde von den Wellen fortgespült, und den Rest nahm ein kleines Kohlenschiff auf, das zur Hilfe herbeigeeilt war; diese acht Stunden waren natürlich viel entsetzlicher als die vielen Jahre Zuchthaus, zu denen der Kapitän später verurteilt wurde. In diesen ausgelassenen, aller moralischen und religiösen Konventionen entkleideten Augenblicken hätte man ausgezeichnet das egoistische, feige und heldenhafte Wesen der Menschen studieren können; wenn nur jemand dabei gewesen wäre, der nicht die letzten Spuren des Interesses für äußere Vorgänge verloren hätte. Die Panik und der Schrecken wurden von einem ganz ungewöhnlich dichten Nebel vergrößert, der uns sogar die Möglichkeit nahm, zu sehen, ob uns irgendein Schiff zur Hilfe kam. Wir waren wie blinde neugeborene Katzen, die man in einem Korbe ins Wasser geworfen hat. Ich kann mich noch erinnern, wie Artur aus dem Bette sprang, die Fensterscheibe entzweischlug und mir half, aus der Kabine auf die Seitenfläche des Schiffes zu steigen; seit diesem Augenblick sah ich ihn nicht mehr. Meine Erinnerungen an diese Stunden sind verworren wie ein zerrissener und falsch zusammengesetzter Kinofilm. Von unten her kommt eine eigentümliche Wärme . . . »Königin Maud« brennt wohl innen . . . Ich halte mich an einem Schornstein fest; vielleicht ist es auch gar kein Schornstein; jedenfalls ist es etwas aus Metall. Natürlich ist es kein Schornstein . . . Plötzlich schießen Sonnenstrahlen durch den Nebel . . . ein allgemeiner Aufschrei, den ich nie vergessen werde; wahrscheinlich kehrte mit der Sonne auch die Besinnung wieder. Dicht neben mir murmelt eine nackte Frau französische Gebete. Schon ist sie verschwunden . . . Ich strecke jemandem meine Hand entgegen. Es wird immer wärmer . . . Hilferufe. Artur, Artur! Ein Männerarm hält meinen Hals umfaßt. Dicht vor meinen Augen sehe ich einen Oberarm mit einem seltsamen Muttermal in Form eines Halbmondes. Das Schiff brennt offenbar . . . Ein seltsames Gefühl. Weder vorher noch später habe ich je ähnliche Wollust empfunden. Wir gehen ja sowieso zugrunde. Ich küsse und schmiege mich immer fester an ihn . . . Ich sehe nur den braunen Halbmond. Um uns her bewegen sich durchnäßte Menschen . . . ich glaube zu schlafen. Wollust und Entsetzen durchdringen mich bis in mein tiefstes Innere. Erst als wir uns beide gerettet auf dem Kohlenschiffe befanden, sah ich Artur wieder. Sobald ich mich außer jeder Gefahr wußte, fühlte ich mich plötzlich unsagbar schwach. Ich brach in Tränen aus, umarmte meinen Mann, und meine Augen suchten durch das Tuch seines Ärmels einen braunen Halbmond zu erspähen. Es war also kein Traum gewesen.

Von da an floß unser Leben wieder normal und glücklich dahin; vielleicht sogar glücklicher als zuvor, soweit es nach den überstandenen Schrecken möglich war. Die Geburt des Kindes befestigte unsere Liebe, vergrößerte aber zugleich meine Unruhe. Heute, nach drei Jahren, sehe ich alles so klar vor mir, als ob es erst gestern geschehen wäre. Der letzte Traum hat in mir alle diese Erinnerungen wieder wachgerufen, ohne aber etwas davon abzuschwächen, was ich so gerne vergessen möchte.

Den 7. Juli.

Heute morgen überredete ich Artur, mit mir zur Ruderregatta hinauszufahren. Daran ist natürlich nichts Auffallendes: er ist ja Engländer und kann mein Interesse für diesen Sport wohl verstehen: aber meine Unruhe macht auch ihn unruhig. Ich bin imstande, stundenlang am Badestrande zu sitzen. Wenn ich älter wäre, würde man mich wohl für ein schamloses Frauenzimmer mit zügelloser Phantasie halten. Ich ärgere mich, wenn die Ruderjacken die Arme nicht frei lassen. Immer suche ich nach dem braunen Halbmond. Vielleicht ist es eine fixe Idee, aber ich glaube, daß, wenn ich jenen Menschen wiedersehe, ich mich sofort beruhigen und ihn für immer vergessen werde. Ich habe mir ein außerordentlich starkes Fernglas angeschafft, unter dem Vorwande, daß ich kurzsichtig sei. Es gelingt mir nicht immer, meine Erregung, die nach jedem mißlungenen Versuch noch größer wird, vor Artur zu verbergen. Ich sah weder das lustige Ufer der Themse, die sich in einer leichten Brise kräuselte, noch das elegante Publikum, noch die bunten Wimpel der Boote. Mein Fernglas zeigte mir nur eine Reihe vor Schweiß glänzender, brauner, weißer und rosiger, glatter und behaarter, angespannter und ruhender Arme; ich hielt sie im Gedächtnisse fest, als ob mein Gehirn sich in eine photographische Platte verwandelt hätte. Ich sah nicht einmal die Gesichter der Ruderer, denn ich fürchtete, meinen Blick über die Oberarme zu heben. Hätte ich einen Halbmond entdeckt, so müßte ich mir wohl für immer das Gesicht jenes Mannes einprägen, den ich für meine ganze Unruhe und für die schwere Last, die ich zu tragen habe, verantwortlich, mache. Und so hatte ich das Gefühl, als ob mich jedes Paar Arme ebenso umschlänge, wie damals auf dem Schiffe.

»Wir wollen nach Hause, Artur,« sagte ich traurig. »Ich bin müde.«

»Du bist so furchtbar nervös geworden . . .. Vielleicht hat es einen besonderen Grund.«

Der arme Artur bildet sich wohl ein, daß ich wieder im Begriff bin, Mutter zu werden. Oh, wenn er die wahre Ursache meiner Unruhe wüßte! Ich muß noch bemerken, daß ich mit Artur niemals über den Untergang der »Königin Maud« spreche: es ist wie ein stummes Übereinkommen, jene tragischen Erinnerungen nicht zu wecken. Als ich einmal vor zwei Jahren die Rede darauf brachte, traten Artur Tränen in die Augen, und er sagte: »Kleine Kate, ich weiß, daß du mir das Leben gerettet hast. Wir wollen aber davon nicht sprechen.« Da ich auch selbst seine Fragen fürchtete, versuchte ich gar nicht, ihn nach dem Sinn dieser mir unverständlichen Worte zu fragen.

Den 9. Juli.

Artur kehrte soeben aus der Stadt zurück, als ich mit der Kleinen im Garten war. Wir besahen uns wie immer die Rosenbüsche und suchten nach neu aufgegangenen Blüten. Die Kleine hatte ein weißes Kleidchen an und nackte Knie; so oft sie eine neuaufgegangene Knospe entdeckte, klatschte sie vor Entzücken mit den Händen. Am Himmel schwamm träge ein großer Wolkenfetzen, der die Gestalt eines Halbmondes hatte. Die Kleine blieb plötzlich stehen; sie schrie und sprang nicht, sondern rief mich ganz leise herbei:

»Mama Kate!«

»Was ist, Schatz?« fragte ich, meinen Blick von der Wolke losreißend.

Die Kleine zeigte mit ihrem kleinen Finger auf eine große schwarze Rose.

»Wir müssen es dem Papa sagen, er hat immer auf diese Rose gewartet!«

»Ja, Schatz, wollen wir zum Papa gehen«, sagte ich, unruhig zum Himmel emporblickend.

Die Kleine lief voraus und schwatzte:

»Wir wollen ihm nichts sagen, wir wollen ihn nur herbringen, damit er sie selbst sieht, ja?«

»Ja, ja, so wollen wir es machen.«

Artur hatte sich wohl eben seine kalte Abreibung gemacht und war im Begriff sein Hemd zu wechseln. Als ich ihn im Spiegel sah, blieb ich wie angewurzelt stehen, stürzte mich dann zu ihm hin und drückte mein Gesicht an seinen Arm, auf dem ich den braunen Halbmond entdeckte.

»Kate, Kate, was ist mit dir?« flüsterte er, mit den Augen auf die Kleine zeigend.

»Wenn du nur wüßtest, wie glücklich ich heute bin, Artur!«

»Papa hat ja auch eine schwarze Rose am Arm, sie ist nur noch nicht aufgegangen. Nicht wahr, Mama Kate?«

»Ja, gewiß, mein Kind. Deine Mama Kate ist sehr dumm. Vielleicht noch dümmer als du.«

Ich gab Artur keine Erklärung über diesen plötzlichen Ausbruch. Es ist aber wirklich dumm, daß ich meinen Mann noch niemals unbekleidet bei Tageslicht gesehen habe. Ich wäre von dieser ganzen Unruhe und Seelenqual verschont geblieben, wenn ich gewußt hätte, daß ich ihm niemals untreu gewesen bin. Natürlich hatte ich auch in jener Stunde, als ich den Tod vor Augen sah, unbewußt die mir so vertraute Umarmung meines Mannes erkannt. Es ist aber seltsam, daß ich später in seinen Umarmungen niemals jene fremden Arme mit dem braunen Halbmond auf der blassen Haut wiedererkannte.

 


 


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