Michaïl Kusmín
Die grüne Nachtigall und andere Novellen
Michaïl Kusmín

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II.

Viktor war so niedergeschmettert, daß ihn anscheinend nichts in der Welt zu zerstreuen oder zu trösten vermochte. Alles, was ihn früher so lustig und freudig stimmte, war jetzt wie ein unerträgliches Hohnlächeln. Er gab sich kaum Rechenschaft darüber ab, welche Richtung er eingeschlagen hatte, und kam erst dann zur Besinnung, als er die weißen Schornsteine der auf Passagiere wartenden Dampfer erblickte. Gleichsam um Salz auf seine Herzenswunde zu streuen, blieb er vor einem der Landungsstege stehen und sah zu, wie auf dem Verdeck eine dicke Dame zwei kleine Mädchen mit Schokolade fütterte, wie ein Hündchen die vorbeisausenden Automobile anbellte und wie zwei einfache Frauen in Kopftüchern mit einem sonnenverbrannten Landgeistlichen sprachen.

»Wenn du auf einem schwimmenden Restaurant zu Mittag essen willst, so wollen wir doch lieber zum Alexanderpark gehen. Ich gehe eben hin.«

Viktor wandte sein Gesicht langsam dem Sprechenden zu und erkannte mit einiger Mühe seinen Freund Iwan Pawlowitsch Kosakow.

»Was hast du, Viktor? Du siehst so fürchterlich blaß aus. Hast du irgendeine unangenehme Nachricht bekommen?«

»Eine Nachricht? Ja, gewiß!«

Viktor fiel es eben ein, daß er in der Tasche einen Brief von seiner Schwester hatte, in dem sie ihm schrieb, daß sie krank daniederliege und ihn bitte, für etwa zwei Wochen zu ihr nach Kaluga zu kommen. Das fiel ihm erst eben ein, und vor ihm tauchte plötzlich das Bild seiner Schwester Tanja mit dem runden Gesicht, der Stutznase und den lachenden Augen auf, zu denen die Vorstellung, daß sie krank sein könne, so gar nicht paßte; um so mehr als sie sich niemals beklagt hatte. Er fühlte plötzlich ein starkes Verlangen, sie zu sehen, und sagte durchaus aufrichtig:

»Ja, mich hat ein Brief von meiner Schwester so aufgebracht. Sie ist nicht ganz wohl und bittet mich, zu ihr zu kommen.«

»Na also, fahre doch hin. Das wird dir gar nicht schaden. Du sitzt so lange in der Stadt und siehst Gott weiß wie aus.«

»Ich würde gern hinfahren. Mich hält aber ein ganz einfacher und lächerlicher Grund zurück: ich habe augenblicklich kein Geld.«

»Unsinn! Braucht man denn viel Geld, um nach Kaluga zu reisen? Wenn du willst, kann ich dir das Geld verschaffen.«

»Du erweist mir damit einen großen Gefallen.«

»Das ist also erledigt, und nun komme mit mir essen und suche dich ein wenig zu zerstreuen. Welchen Wein wollen wir nehmen?«

»Heute habe ich Lust, Saint-Perré zu trinken.«

»Warum gerade Saint-Perré? Hier bekommen wir ihn sicher nicht.«

»Vielleicht bekommen wir ihn doch. Das soll eine Frage an das Schicksal sein: wenn wir diesen Wein bekommen, so wird alles gut.«

»Ich möchte dir nicht raten, solche Versuche zu machen. Ich kann dir im vorhinein sagen, daß wir auf einem schwimmenden Restaurant keinen Saint-Perré bekommen. Du brauchst dir also dadurch die Laune nicht verderben zu lassen.«

Iwan Pawlowitsch hatte natürlich recht. Sie bekamen keinen Saint-Perré und mußten einen ganz gewöhnlichen Chablis trinken. Als sie schon weggehen wollten, kam der Oberkellner mit einer länglichen, verstaubten Flasche hinauf.

»Es ist ein ganz ungewöhnliches Glück, Herr: ganz zufällig fand sich eine Flasche von der Sorte, nach der Sie fragten. Wie durch ein Wunder ist uns diese eine Flasche geblieben. Befehlen der Herr, sie aufzumachen?«

Viktor nahm die mit Staub und Spinngewebe bedeckte Flasche in die Hand, drehte sie unschlüssig hin und her und sagte:

»Nein, warum soll man sie jetzt aufmachen! Wir haben ja schon gegessen. Bewahren Sie sie bitte bis zu unserem nächsten Besuch auf.«


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