Michaïl Kusmín
Die grüne Nachtigall und andere Novellen
Michaïl Kusmín

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II.

Bande unversöhnlicher Feindschaft verknüpften den verstorbenen Vater Grigorij Alexejewitsch Iljitschewskijs mit seinem Nachbarn Barssukow. Die Ursachen dieser Feindschaft, die von den Großvätern stammte und höchstwahrscheinlich auf einer Grenzverletzung, auf einem Flurschaden, einer Streitigkeit bei der Bärenjagd oder einer ähnlichen Bagatelle, die in jenen Zeiten als eine Beleidigung galt, die nur durch Blut gesühnt werden kann, beruhte, waren längst vergessen. Alles war vergessen, und die Enkel bewahrten nur den dumpfen, unversöhnlichen Haß, der sich auch auf Iljitschkewskijs Sohn Grigorij Alexejewitsch erstreckte. Der Familienname des Nachbarn wurde nur in Verbindung mit mehr oder weniger verletzenden Epitheten, wie: »Kanaille, Spitzbube, Freimaurer« erwähnt; selbst Maschenjka vermied es, den Namen Iljitschewskij auszusprechen: sie sprach nur von Grigorij Alexejewitsch und sehnte sich nur nach ihrem Grischenjka, wobei sie den Gedanken von sich wies, daß er ein Iljitschewskij sei.

Maria Petrowna kam rechtzeitig zum Abendessen, und niemand hatte ihre Abwesenheit bemerkt; übrigens genoß sie gewisse Vorrechte der ländlichen Freiheit, die den jungen Mädchen längeres Ausbleiben gestattet, in der Annahme, daß die Natur und die stete Abwechslung des Landlebens ihre poetische Veranlagung begünstigen, die in Garten, Feld und Wald naturgemäß mehr Nahrung findet, als in den engen Zimmern mit den Tüllvorhängen und Ofenbänken. Als eifriger Verteidiger dieser Freiheiten trat immer Maschenjkas Bruder, der Petersburger Student Ilja Petrowitsch, auf. Er war ein Verehrer Rousseaus und der englischen Philosophen und nebenbei auch ein tüchtiger Musiker, was von seinem Vater, der, wie wir schon sagten, den schönen Künsten nicht abhold war, besonders hoch geschätzt wurde. Obwohl der Vater kein Verständnis für Beethoven hatte und diesem Komponisten Rossini vorzog, dessen später in den »Barbier von Sevilla« eingefügte Ouvertüre zur »Elisabeth« er oft pfiff, lauschte er doch gerne dem etwas trockenen Vortrag seines Sohnes, wenn dieser im runden Salon deutsche Musiker spielte, die er nur ab und zu, dem Vater zuliebe, durch die sprühenden Töne der »Italienerin in Algier« oder der »Diebischen Elster« unterbrach. Der Vater war mit seinem musikalischen Geschmack nicht einverstanden, wußte aber das melancholische Feuer, das seinen einsamen und schwärmerischen Sohn zuweilen belebte, wohl zu schätzen. Maschenjka übte die Kunst nur zum Hausgebrauch aus: sie spielte leichte vierhändige Stücke, wobei sie laut den Takt zählte und sehr oft stecken blieb, oder sang zur Gitarre Lieder aus den neunziger Jahren; Großmutters Harfe stand stumm in der Ecke und erwachte nur unter dem Federwisch des kleinen Lakaien, der die Zimmer aufräumte. Auch für Handarbeiten hatte Maria Petrowna wenig Liebe: sie stickte ja schon seit vier Monaten den Perlenbeutel für ihren Grischenjka, wobei sie häufig die Farben verwechselte und die Perlen durcheinander brachte. Das Nichtstun hatte in ihr keinen sichtbaren Hang zu Schwärmereien erzeugt; doch in der Tiefe ihrer Seele wartete sie immer auf tragische oder grausame Abenteuer und lauschte mit Entzücken Fenjas Berichten darüber, wie die Burschen in der nahen, von Altgläubigen bewohnten Stadt auf Mädchenraub ausgingen, und wie die Männer ihre ungetreuen und manchmal auch schuldlosen Frauen tyrannisierten, obwohl diese Maßnahmen um jene Zeit zu einer leeren Form herabgesunken waren und die Burschen sehr gut wußten, daß die Väter der von ihnen entführten Mädchen, mit vorsintflutlichen Gewehren bewaffnet, sie nur um der Form zu genügen, verfolgten; nichtsdestoweniger riefen solche Berichte in Fräulein Barssukow stets eine schwere und dumpfe Erregung hervor. Das war auch der Grund, warum Grigorij Alexejewitschs unklare Worte sie mit freudiger Unruhe erfüllten, und sie in seinen grauen Augen nicht Treuherzigkeit und Ergebenheit, sondern Verwegenheit und leidenschaftliche Entschlossenheit las. Wenn Grischenjka nicht der Feind ihres Vaters wäre und sie, im Gartenhause, dessen Decke Guido Renis »Aurora« schmückte, sitzend, nicht immer für sich und für ihn zittern müßte, so würde sie vielleicht diese Augenblicke gar nicht so sehr schätzen, den bekannten Pfiff nicht mit solcher Sehnsucht erwarten und die Perlen nicht so oft durcheinander bringen. Wenn man sie ansah, konnte man sie sich viel eher als eine gewaltsam entführte Braut, eine tyrannisierte Frau oder Gattenmörderin vorstellen, denn als ein zärtlich girrendes, Harfe spielendes Wesen. Sie hatte ein rundes und etwas breites Gesicht, kecke und eigensinnige Augen, dichtes Haar, zusammengewachsene Brauen, ein trotziges Kinn und einen wie gedrechselten Hals.

Das Abendessen näherte sich seinem Ende, und Pjotr Trifonowitsch hatte bereits alle Neuigkeiten von der Wirtschaft berichtet und seinen alltäglichen Disput mit Ilja Petrowitsch gehabt, als plötzlich der kleine Lakai Kusjka ins Zimmer trat und vor das Gedeck des Hausherrn ein kleines Buch in Ledereinband niederlegte.

»Was ist das?« fragte dieser erstaunt.

»Belieben es selbst anzuschauen«, lautete die Antwort.

Der Alte nahm das Buch in die Hand, wurde über und über rot und fragte streng:

»Wo hast du es her?«

Der Junge witterte einen Skandal und erwiderte mit funkelnden Augen:

»Ich fand es vor dem Gartenhaus, als ich das gnädige Fräulein zum Abendessen rief.«

Pjotr Trifonowitsch wäre noch röter geworden, wenn das noch möglich wäre. Er streifte seine Tochter mit einem flüchtigen Blick und fragte, sich an niemand Bestimmten wendend:

»Was beliebte Maria Petrowna im Gartenhaus zu suchen, wo man nachher so merkwürdige Dinge findet?«

Maschenjka versuchte zu erkennen, oder wenigstens zu erraten, was das für ein Buch war, das den Zorn ihres Vaters erregt hatte. Sie antwortete etwas unsicher:

»Nichts Ungewöhnliches. Ich bin nur vor dem Abendessen mit Fenja spazieren gegangen.«

Der Alte erhob seinen dicken Zeigefinger und sagte mit Überlegung:

»Was soll man, mein Fräulein, ungewöhnlich und was gewöhnlich nennen? Mir erscheint es als höchst ungewöhnlich, daß man nach einem solchen Abendspaziergange, der ja an sich durchaus nicht ungewöhnlich ist, am gleichen Orte ein Buch findet, auf dessen Einbande die Inschrift steht: ›Aus der Bibliothek der Herren Iljitschewskij‹. Dieser Erscheinung vermag ich keinerlei natürliche Erklärung zu geben.«

»Das Buch kann ja dort auch bedeutend früher gelegen haben«, wandte Ilja Petrowitsch ein. Aber der kleine Lakai entgegnete, seine allzu lebhaft funkelnden Augen mit den Lidern beschattend:

»Anfangs konnte ich es gar nicht verstehen: als das gnädige Fräulein aus dem Gartenhause herauskam, raschelte etwas im Gebüsch. Es war ja, wie Sie selbst wissen, windstill, und ich dachte, es sei ein Dieb. Da sehe ich, wie ein Mann davonrennt und im Laufen dieses Buch fallen läßt.«

»Hörst du es, Marie?« sagte Pjotr Trifonowitsch, ohne den unglückseligen Band aus der Hand zu lassen.

»Natürlich höre ich es: ich bin ja nicht taub.«

»Du bist auch noch grob! Nun, was sagst du dazu?«

»Fragen Sie Kusjka: offenbar weiß er besser als sonst jemand, was geschehen ist; jedenfalls besser als ich.«

»Ich werde ihn und auch alle andern fragen. Und solange ich nicht die ganze Wahrheit erfahre, sperre ich dich, mein Fräulein, ein.«

»Überlege es dir, Vater, ob es eines Edelmannes würdig ist, einen Menschen, und dazu noch seine eigene Tochter, des heiligsten Menschenrechtes – der Freiheit zu berauben?« versuchte Ilja für seine Schwester einzutreten. Aber Pjotr Trifonowitsch schlug die Schöße seines gesteppten Schlafrockes heftig übereinander und rief mit lauter Stimme, das Buch noch immer mit seinen dicken Fingern festhaltend:

»Humanität in allen Ehren, aber wenn hier Iljitschewskij im Spiele ist, so mag alle Beethovens und Rousseaus der Teufel holen! Das merke dir!«

Maria Petrowna erhob sich kurz entschlossen von ihrem Platz, blickte unter ihren zusammengewachsenen Augenbrauen dem Vater gerade ins Gesicht und sagte ruhig und vernehmlich:

»Du brauchst niemand von der Dienerschaft zu fragen. Dieses Buch hat offenbar Grigorij Alexejewitsch fallen lassen, den ich oft sehe und den ich von Herzen liebe.«

Pjotr Trifonowitsch schwieg eine längere Weile, machte dann einen Kratzfuß und sagte:

»Ich danke ergebenst!« Maschenjka hörte aber diese Worte wohl gar nicht: nachdem sie die Wahrheit über Iljitschewskij gesagt hatte, neigte sie sich immer tiefer und tiefer, bis sie schließlich wie bewußtlos in den nächsten Sessel fiel. Man sprang auf und ließ Wasser holen; Pjotr Trifonowitsch flüsterte aber dem kleinen Kusjka zu:

»Lauf zur Markowna! Sie soll sofort herkommen und nachschauen, ob Maria nicht schwanger ist: diesen Kanaillen ist ja alles zuzutrauen.«


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