Egon Erwin Kisch
Zaren, Popen, Bolschewiken
Egon Erwin Kisch

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Die Hunde des Physiologen Pawlow

Meine Herren,« schrie Professor Pawlow und schlug mit der Hand auf den Tisch, daß das Katheder wackelte, »meine Herren,« schrie Professor Pawlow in Erregung, weil einer seiner Angriffe auf die Sowjetregierung von etlichen Hörern mit Protest aufgenommen worden war, »meine Herren,« schrie Professor Pawlow mit dem ganzen jugendlichen Temperament eines verbissenen Greises – aber auch im ruhigen Teil der Vorlesung pflegte er immer »meine Herren« und niemals »Genossen« zu sagen –, »meine Herren, die Wissenschaft hat ein Recht, auch das auszusprechen, was der herrschenden Staatsform zuwiderläuft.«

Dazu hat die Wissenschaft freilich ein Recht. Aber seit es Universitäten in der Welt gibt, hat kaum jemand auf einem Lehrstuhl in fortschrittlichem Sinne von diesem Recht Gebrauch gemacht, denn die reaktionären Regierungen schützen sich gut, indem sie niemanden zum Professor machen, der nicht die Staatsverfassung bejaht, und indem sie jenem, der sich als Feind entpuppt, unter ausgezeichneten Vorwänden das Lehramt zu entziehen wissen. Als Professor Iwan Petrowitsch Pawlow, der größte Gelehrte Rußlands und der größte Biologe überhaupt, in einem öffentlichen Vortrag die Sowjets wieder einmal in maßloser Weise angegriffen hatte, antwortete ein Volkskommissar in der Presse: »Es ist wahr, wir können gegen Iwan Petrowitsch nichts unternehmen, denn wir sind der einzige Staat der Welt, der sich nach einer wissenschaftlichen Theorie konstituiert hat, und wir müssen jeden ernsten Vertreter der Wissenschaft respektieren, auch wenn er uns feindlich gesinnt ist. Es ist wahr, wir können gegen Iwan Petrowitsch nichts unternehmen, denn wir sind der einzige Staat der Welt, 304 dessen Regierung keine Männer von aristokratisch geborenem oder militärisch erdientem oder beamtlich ersessenem »Verdienst« innehaben, sondern Vertreter der Wissenschaft und der Arbeit, und wir müssen daher in Iwan Petrowitsch den verdienten Vertreter der Wissenschaft und der Arbeit ehren. Es wäre jedoch ein alter und unwürdiger Trick, wenn wir unsere Ohnmacht nun dahin ausmünden lassen wollten, daß wir das Ergebnis seiner Forschungen einfach legendarisch verdrehen und als ein uns günstiges bezeichnen, auch wenn es das nicht wäre. Wer sich aber je mit der Reflexologie befaßt hat, muß trotzdem sagen, daß es niemals eine eindeutigere, experimentell exaktere Beweisführung für die Richtigkeit der materialistischen Geschichtsauffassung, für den Marxismus gegeben hat, als die Lebensarbeit Iwan Petrowitsch Pawlows. Dieser große Gelehrte ist ein politisches Kind und sieht nicht, daß alles, was er schafft, Wasser auf unsere Mühle ist.«

Meine Herren, schlage ich auf das Pult, verlassen wir das Gebiet der Politik und bewegen wir uns zu Professor Pawlow ins Laboratorium. Es ist nicht mehr im Haus der Akademie, wo er zur Zeit, da seine Freunde herrschten, sechs dunkle Zimmerchen innehatte, sondern in einem riesigen Gebäude auf dem Wassiljewski Ostrow mit achtzehn Arbeits-, Laboratoriums- und Operationsräumen und neuen Instrumenten aus Deutschland; gut untergebracht sind alle Mitarbeiter, vom Hunde ganz zu schweigen, der in fünfzig Exemplaren vertreten ist und für den im Hof ein eigenes Haus mit Bedienung erhalten wird.

Das Institut dient bloß dazu, das Großhirn, insbesondere die Großhirnrinde physiologisch zu erforschen, den obersten Teil des Zentralnervensystems, von dem alle unsere psychischen Erscheinungen abhängig sind. Bis zum Jahre 1900 hatte sich Professor Pawlow mit der Physiologie des Verdauungskanals befaßt, von dem Beginn des neuen Jahrhunderts an widmete er sich der Untersuchung der bedingten Reflexe, eine Methode, die eine Revolution in vielen Zweigen der Medizin und der Naturwissenschaft und darüber hinaus in der Erkenntniswissenschaft hervorgerufen hat. Durch sie erhielten Psychiatrie, Psychologie, Pädagogik exakte Grundlagen und hörten auf, reine Grenzwissenschaften zu sein. In der Reflexologie ist jede Subjektivität ausgeschaltet, und nur 305 objektive Feststellungen gelten. Pawlow mag wohl schon während seinen Arbeiten am Verdauungskanal zur Meßbarkeit des sogenannten Psychischen gekommen sein, vielleicht dadurch, daß er für die Redensart »Das Wasser läuft einem im Munde zusammen« die praktische Bestätigung fand (ebenso wie Siegmund Freud unbewußt durch die Phrase »er kann ihm nicht auf den Namen kommen« zu seinem System der Fehlleistungen veranlaßt wurde). Jedenfalls sah Pawlow, daß das Wasser, das bei Erwartung einer Speise (Appetit, nicht Hunger) im Mund zusammenläuft, quantitativ verschieden ist, ähnlich wie sich auch bei Erregungen von Angst oder Erotik die bekannten physiologischen Wirkungen ergeben. Von dieser Konstatierung war es nur ein Schritt, die Stärke der Vorstellung durch Messung der physiologischen Veränderungen, die sie hervorruft, auszudrücken.

Zum Unterschied von den angeborenen Reflexen, zum Beispiel dem Zusammenzucken beim Empfang eines Schlages, dem Gähnen im Falle physischer Ermüdung, dem Aufschrei bei einer Verletzung, nannte er jene gedanklich ausgelösten Wirkungen: bedingte Reflexe. Die sind nicht fertig bei unserer Geburt, sie stellen eine Summe unserer Erfahrungen dar und werden unter Beteiligung der Großhirnrinde bewirkt, die, nach Pawlow, nicht die Trägerin einer geheimnisvollen Psyche ist, sondern ein Organ der Reflexe: der Futterreflexe, der Geschlechtsreflexe und der Schutzreflexe. Daher kommt es auch, daß für ihn in die Kausalitätskette des menschlichen Handelns Bewußtseinsvorgänge nicht eingeschaltet sind, sondern bestenfalls als Begleiterscheinungen neben den ganz im Physiologischen verlaufenden Prozessen einhergehen. Tatsächlich läßt sich schwerlich etwas Anti-Idealistischeres, etwas Anti-Individualistischeres, etwas Materialistischeres denken, als die Lehren des fanatischen Anti-Materialisten Pawlow.

Zur Messung der aus der Erfahrung stammenden Wirkungen konstruierte Pawlow Erregungsapparate und nahm mit ihnen an Hunden die sogenannten Chronischen Experimente vor. Diese Hunde stehen schon zwölf bis fünfzehn Jahre in seinem Dienst, es sind Hofhunde, Zufallsbastarde aller Rassen, – je unkomplizierter ein Wesen, desto leichter sind seine Differenzierungen meßbar. Jedem dieser Köter ist unterhalb des linken Ohres 306 eine Fistel eingeschnitten, so daß die Sekretion der linken Ohrspeicheldrüse nach außen erfolgt. Sie leben im hygienisch erbauten, gut gelüfteten Kotter in achtundvierzig geräumigen Boxes, weil sich dies einerseits für langjährige Mitarbeiter des Instituts geziemt, und andererseits, weil das Leben dieser Hunde für die Reflexologie von Wichtigkeit ist, der Überbau ihrer Erfahrung ist ja pragmatisch genau verzeichnet.

Wenn die Arbeitszeit beginnt, werden sie über Hof und Stiegenhaus in das Laboratorium geführt und dort in einem Raum angebunden, wo sie ungeduldig auf den Beginn der Experimente harren; des öfteren kommt ein Angestellter, spielt mit ihnen und sagt zum Pudel Wodka: »Wie lacht der Mensch?«, worauf Wodka seinen Mund zu einem Grinsen verzieht. Sind aber in den Kabinetten die Operationstische hergerichtet, alle Futternäpfe gefüllt, alle Skalen und das Schreibzeug bereit, dann bindet man die Hunde los, sie jagen davon, jeder in sein Kabinett, jeder springt auf den Operationstisch, steckt Kopf und Rumpf selbst in die Verschnürung, die ihn festhält und erwartet es begierig, daß man ihn noch fester bindet, in die Fistel seiner Backe einen kleinen Glasballon drückt und hermetisch fixiert und die Tür schließt. Jetzt ist die Hündin Erda allein im Kabinett. Vor dem Experimentator draußen ist ein horizontales Röhrchen mit geröteter Flüssigkeit befestigt, er hält Gummibälle in der Hand, mit denen er Chronometerglocke und Futternapf in Bewegung setzt.

Durch eine Öffnung beobachtet er Erda, die ruhig auf dem Tisch steht. Er läßt das Glöckchen einmal schnurren, zweimal, dreimal, fünfzehnmal und die rote Wassersäule bewegt sich schnell entlang der Skala, Erda weiß: das Schnurren der Glocke ist ein Zeichen nahenden Essens, sie sondert Speichel ab, durch die Fistel in die kleine Glaskugel, von der in den Schlauch und aus dem drückt die verdrängte Luft auf die Flüssigkeit. Plötzlich dreht sich ein Teller mit Brei der Hundeschnauze zu, und Erda stürzt sich gierig auf den Fraß, das ist ein unbedingter Reflex, der uns nichts sagt. Dann wird der Futternapf mechanisch entfernt und Erda erhält neue Signale; wieder läuft ihr das Wasser im Mund zusammen, das Uhrwerk schnurrt wieder fünfzehnmal, jedoch sie bekommt nichts. Pause. Von neuem die zweite Art des Tickens, 307 jetzt ist Erda nicht mehr so dumm, darauf hineinzufallen, sie weiß schon, das ist blinder Alarm, und sie denkt gar nicht daran, durch Speichelabsonderung darauf zu reagieren. Kaum aber wird Signal Nummer sechzehn eingeschaltet, kriegt Erda wieder Appetit und die rote Wassersäule steigt immer höher, je näher das Signal Fünfzehn heranrückt, das den Futternapf bringen wird; Hunde unterscheiden Geräusche ganz scharf, sie differenzieren Achteltöne, besitzen das absolute Gehör, das beim Menschen so selten anzutreffen ist. Ebenso arbeitet ihr Geruchsinn und ihr Tastgefühl, sie erleben die physikalischen Einzelheiten viel genauer als Menschen, aber sie haben keinerlei Fähigkeit zur Synthese, sie erfassen Einzeleindrücke, kein Ganzes von Eindrücken, wie man experimentell erkannt hat, indem man Lichtreize gleichzeitig mit Farben- und Tonreizen einschaltete, wobei die Tiere niemals einzelne Unterschiede merkten. Je stärker der Reiz, desto stärker der Reflex – beim Tier wie beim Menschen. Nur bei abnormalen Typen, beim Neurastheniker, beim Kastraten, beim Kranken ist die Wirkung verkehrt, bei ihnen kann ein kleiner Reiz größere Erregungen hervorbringen als wirklicher Schmerz.

Wenn man mit Menschen die gleichen Versuche anstellte, würde man konstatieren, daß sich jedes Wort in einem anderen meßbaren Reflex äußert. Aber mit Menschen experimentiert man nicht, ebensowenig wie man mit Geschlechtsreflexen experimentiert. Zur Prüfung der Schutzreflexe erhält das Tier nach einer Reihe von Signalen einen elektrischen Schlag, es heult entsetzt, will sich losreißen und stößt mit den Füßen aus. Nach derselben Reihe von Signalen kommt der zweite Schlag, dieselbe Wirkung. Zum drittenmal wird die gleiche Reihe von Signalen gegeben, wieder bellt der Hund vor Weh, wieder will er sich losreißen und wieder stößt er mit den Füßen aus – obwohl diesmal gar kein Schlag erfolgt ist. Es ist die Macht der Einbildung, die auf diese Art exakt berechnet wird. Damit Beobachter und Beobachteter nicht abgelenkt werden, arbeitet der physiologische Chef vor einer geräuschundurchlässigen Kammer, in der der Hund ist.

Einigen der fünfzig Hunde ist die Fistel in den Verdauungskanal geschnitten worden, bei Beginn des Versuches führte man eine Kanüle ein und kann Störungen des Verdauungsprozesses 308 messen und auf diese Weise eine Art der Entstehung von Neurosen untersuchen. Auch an Fischen werden chronische Experimente vorgenommen, deren Reaktion ein Physiologe prüft, indem er sie unter anderm mit einem Glöckchen zur Fütterung ruft, was die Chinesen schon vor vielen hundert Jahren getan haben.

Den Hunden des Professors Pawlow, den ständigen, geht es gut. Die Fistel ist nicht schmerzhaft, das Experiment angenehm, denn es bringt Essen, wir wissen, daß der Hund selbst in die Kammer jagt und sich in die Schlinge zwingt, die ihn festhält, und wir haben sogar den Hund Wodka lachen gesehen. Das gilt bloß für die ständigen Hofhunde. Doch es gibt andere, das sind Hofhunde von irgendeinem fremden Hof, und an ihnen vollzieht man nicht mehr die chronischen, sondern die scharfen Experimente, Vivisektion. Auf einem Operationstisch, der – was hilft's dem armen Hunde? – mit allen Finessen von Hygiene und Antisepsis ausgestattet ist, wird das Tier nach erfolgter Narkose seiner Testes oder seiner Eierstöcke oder anderer Organe der inneren Sekretion oder bestimmter Gehirnpartien entkleidet, man prüft nun, nach welcher Amputation es nicht auf optische, nach welcher Amputation es nicht auf akustische Erscheinungen reagiert, man prüft seine Erregungen bei Hunger und Durst. Obwohl diese wissenschaftlichen Übungen in vielem den unwissenschaftlichen Übungen ähnlich sind, die seit eh und je an Menschen, an ganzen Völkern unternommen wurden, nicht nur an Haremswächtern, Chorknaben, Schwertschluckern und Sechstagefahrern, nicht nur an Pyramidenkärrnern, Galeerensklaven und Kriegern, und obwohl die Wirkungen der scharfen Experimente am einzelnen Tier denen an ganzen Volksschichten gleichen, lehnt Professor Pawlow solche Analogie ab, er will nicht, daß man in diesen Dingen vom Tier auf die Menschheit schließe, und wir müssen schließen.

 


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